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In einem Essay über Dostojewskij schreibt Alexej Remisow (1877-1957): »je unwahrscheinlicher die Wirklichkeit, desto wirklicher, desto wahrer ist sie.« In den Jahren 1917-1921, als Die Geräusche der Stadt in Petersburg entstand, spielte die Wirklichkeit verrückt genug. Der Autor antwortete darauf mit einem durch und durch paradoxen Werk: disparat in der Anlage, ambivalent durch die schillernde Verbindung von Dokument und Fiktion.

Produktbeschreibung
In einem Essay über Dostojewskij schreibt Alexej Remisow (1877-1957): »je unwahrscheinlicher die Wirklichkeit, desto wirklicher, desto wahrer ist sie.« In den Jahren 1917-1921, als Die Geräusche der Stadt in Petersburg entstand, spielte die Wirklichkeit verrückt genug. Der Autor antwortete darauf mit einem durch und durch paradoxen Werk: disparat in der Anlage, ambivalent durch die schillernde Verbindung von Dokument und Fiktion.
Autorenporträt
Rakusa, IlmaGeboren am 2.1.1946 in Rimavská Sobota (Slowakei) als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen. Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest. Volksschule und Gymnasium in Zürich, 1964 Abitur. 1965-1971 Studium der Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg. 1971 Promotion (Dissertation: Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur, Herbert Lang Verlag, Bern 1973). 1971-1977 Assistentin am Slawistischen Institut der Universität Zürich. Seit 1977 Lehrbeauftragte der Universität Zürich. Außerdem Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin (Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT). Ilma Rakusa ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt). Sie lebt in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.1996

Erhabene Trambahn!
Witzbold und Visionär: Prosastücke von Alexej Remisow

Dieses Buch ist erstmals 1921 in Reval erschienen. Sein Autor war aus Petersburg nach Estland geflohen, ehe er sich in Berlin niederließ. 1923 zog Alexej Remisow weiter nach Paris, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1957 blieb. Vielleicht liegt es am neuerwachten Interesse an der russischen Emigration nach Deutschland, wenn wieder einmal ein Buch aus Remisows umfangreicher Produktion auf deutsch herauskommt. Nach "Gang auf Simsen" von 1929 liegt nun auch "Die Geräusche der Stadt" (Sumy goroda) vor, Remisows literarische Momentaufnahme der Stadt Petersburg im Bürgerkrieg der Jahre 1917 bis 1920. Ein "paradoxes Werk" nennt Ilma Rakusa in ihrem Nachwort das Buch, "disparat in der Anlage, ambivalent durch die schillernde Verbindung von Dokument und Fiktion"; und sie weist auf Remisows "stilistische Wechselbäder" hin, die den Übersetzer auf harte Proben stellten. Ilma Rakusa hat diese Proben glänzend bestanden.

In Remisows Werk verbinden sich Skurrilität und Transzendenz, Engagement und Artistik auf eine Weise, die Zeitgenossinnen wie Zwetajewa bisweilen als anstrengend empfanden. Seines sozialrevolutionären Engagements wegen war Remisow als Student zweimal nach Nordrußland verbannt worden. Dort wurde er mit religiöser Folklore und Apokryphen vertraut, die sein Werk fortan bestimmen sollten. Bereits seine erste (und letzte) Werkausgabe aus den Jahren 1910 bis 1912 umfaßt acht Bände. Im Rückgriff auf einfache Formen, auf die Tradition der ornamentalen Prosa und den mündlichen Erzählstil Leskows behielt Remisow stets die Gegenwart im Visier. In seinen Prosa-Epiphanien wird das Religiöse zum ästhetischen Symbolismus verdichtet. Und der Symbolismus mündet seinerseits wieder in feierlichen und grotesken Unsinn.

Remisows Sinn für praktische Grillen und Scherze war legendär. 1908 gründet er die "Große und Freie Affenkammer", der er selbst als Kanzler vorstand. Als "Kavaliere" oder "Fürsten" des Affenordens firmieren neben anderen Gorkij, Tolstoj und Sklovskij. Im Zeichen des Affen haben sich Remisow und seine Ordensbrüder der Wahrheitssuche und dem Nonkonformismus verschrieben. Der Kanzler, einer der größten russischen Kalligraphen des Jahrhunderts, entwarf eigenhändig die Mitgliedsausweise.

"Die Geräusche der Stadt" sind ein Mosaik aus vier Gruppen von Geschichten, die zwischen 1917 und 1921 entstanden: "Zeitgenössische Legenden", "Siebentagebuch", "Beseelte Gegenstände" und "Märchen". Vorangestellt ist ein Prosagedicht namens "Hungerlied", in dem lyrische Emphase, christliche Caritas und Petersburger Stadtmystik zusammenfließen. An einer Straßenecke singt ein blinder, hungernder und frierender Chinese sein Hungerlied: "Tla-da-da-da-da-." Der Erzähler, wie immer versunken in "Grübeleien über das menschliche Tun, über unser armseliges Leben, über das verfluchte Schicksal und über den Menschen, der noch nicht zum Menschsein erwacht ist", kommt des Weges. In dem Bettler erkennt er sogleich seinen "Bruder"; für die "schweinische Menge" auf dem Boulevard "mit ihren Rüsseln" hat er bloß Verachtung übrig: "Die Menge strömte mir mächtig entgegen, fletschte die Zähne in ihren dicken Visagen, es glänzten die Wangen, genährt mit Pferdefleisch, fetten Weizenpfannkuchen und allerlei Fegsel, abgeschmeckt mit amerikanischer Vaseline."

Mit Ecce-Homo-Gebärde predigt der Erzähler der Menge seine asketische Botschaft: "Verstehst du denn, selbstzufrieden und triumphierend, auch nur das Geringste von meinem Leben und Begehren, kannst du denn in deinem dumpfen Schädel auch nur entfernt meine Gedanken nachvollziehen, die du ebensowenig brauchst wie den hungrigen Chinesen, wie das Wort, wie das Buch und unser letztes Fenster?"

Die eindrucksvollste der "Zeitgenössischen Legenden" heißt "Zäune". In ihr beweist Remisow seine somnambule Fähigkeit, die lyrische Ergießung mit dem geschichtlichen Denkbild zu kreuzen. In einer ironisch-ekstatischen Sprache preist er da zunächst den Frühling, der endlich Petersburg erreicht hat - "ein nördlicher Frühling mit bläulich-schwarzem Rabenhimmel, der warme Tage verhieß". Man schreibt das Hungerjahr 1919, der Erzähler trägt auf seinem Weg über die Wassilij-Insel "ein gefrorenes feuchtes fauliges Etwas zum Essen: Kohl oder ähnlich müllreifen Dreck" mit sich, als er plötzlich "das krachende Geräusch gefällter Bretter" vernimmt: "Sie rissen den letzten Zaun ab": "Und plötzlich sah ich den ganzen Bolschoj-Prospekt, und sah ganz weit - bis zum Meer." Die Zäune sind allesamt verfeuert worden, und der Erzähler schwelgt im Glück der neuen Perspektiven: "Die ganze Erde hätte ich so begehen mögen - alle Länder von Meer zu Meer."

In den Erzählungen des "Siebentagebuchs" ist eine prosaischere Denk- und Schreibart am Werk. Er habe diese Geschichten, verrät er in einer Vorrede, "vor dem Tor und im Türspalt der ,Semjonow-Einsiedelei' auf der Wassilij-Insel abgelauscht". Die Einsiedelei bestehe aus vielen Zellen, und die Erzählungen der Einsiedler seien so zahlreich und mannigfaltig wie diese selbst. Das ist, wie Ilma Rakusa zu Recht bemerkt, fast schon ein postmodernes Programm. Gemeinsam ist diesen Erzählungen das Grell-Volkstümliche der Sujets und die Präsenz des Wunderbaren. Hemmungslos bedient sich Remisow aus der Requisitenkammer der frommen Legende, wobei die Moral allerdings ins Nihilistische gewendet wird. So etwa in "Ein nicht tödliches Leben", der Geschichte von Jona Petrowitsch Bogolepow, einem solipsistischen Monster, das eine Provinzstadt kraft seiner Intelligenz und Gemeinheit in Schach hält.

Die schönste Erzählung dieses Buches ist auch die kürzeste. Sie heißt: "Die Trambahn". Mag "Landluft, fetter Rahm und Butter" die Hauptstädter aufs Land ziehen - Remisows Liebe gilt der Stadt und ihrer Trambahn: "Wie stolz und kühn", heißt es da, "wie ein märchenhafter Ritter im Turnier strebt die siegreiche Trambahn voran, klingelnd und quietschend! . . . Sicher und klar fliegt die Trambahn zum ausersehenen Ziel . . . Du fühlst dich erhaben." Hoffentlich wird man bald mehr von Alexej Remisow lesen können. CHRISTOPH BARTMANN

Alexej Remisow: "Die Geräusche der Stadt". Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 192 S., geb., 24,80 DM.

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