Es ist die einschneidendste Erfahrung seines Lebens: Im Sommer 1993 ist der Erzähler, ein Student in Cambridge, mit einem Forschungsprojekt über die Romane des französischen Schriftstellers Paul Michel beschäftigt. Daneben beginnt er eine Liebesbeziehung mit einer sehr ungewöhnlichen jungen Germanistin, die ihn vom ersten Moment an in eine andere, leidenschaftliche Welt verstrickt, in der Lesen und Begehren eins sind. Angetrieben von ihrer Willensstärke, macht der Erzähler sich auf die Suche nach dem skandalumwitterten homosexuellen Paul Michel, der seit 1984 im Irrenhaus verwahrt wird. Quer durch England und Frankreich und gegen den Widerstand der Institutionen kämpft er sich zu Paul Michel durch.
"Patricia Dunckers literarisches Debüt ist faszinierend und spannend. Menschen werden in einem neuen Licht gezeigt und vor allem die subtile Beziehung zwischen Schriftsteller und Leser überdenkenswert dargestellt." Stuttgarter Nachrichten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.1997Schiller ohne Chance
Patricia Duncker empfiehlt, den Dichter anzufassen
"Hallucinating Foucault" heißt das Buch auf englisch, "Die Germanistin" auf deutsch. Jener Titel entspricht dem Thema des Romans, dieser wirbt um die deutsche Leserschaft, von der ein beträchtlicher Teil, vor allem der weibliche, Germanistik studiert. Aufgabe der Germanistin ist es, ihren Kommilitonen, den Erzähler, der in Cambridge über den (fiktiven) Schriftsteller Paul Michel promovieren möchte, dazu zu bewegen, sein Dissertationsthema im Leben und nicht nur im Buch zu suchen. Er soll Michel - ein verjüngtes und als Poet à la Genet kostümiertes Abbild oder Inbild des Wissenschaftlers Michel Foucault - selbst sehen, sprechen, lieben. "Zurück zu den Quellen" lautet die Maxime der Germanistin, freilich in der Auslegung, wie sie für diesen Roman in allen Punkten charakteristisch ist: zurück zu den biographischen Quellen, zum Autor höchstpersönlich. Wer sich mit Dichtung befassen will, muß den Dichter anfassen.
Mit dieser Einweihung in die Technik, aus der langweiligen Philologie ein Abenteuer, gar ein Liebesabenteuer zu machen, ist die Rolle der Germanistin erschöpft: "Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Schiller. Meiner Meinung nach hatte Schiller keine Chance", und zwar wegen Schillers großem Nachteil, tot zu sein. Schiller ist es nämlich verwehrt, seiner Doktorandin die gleiche großzügige Behandlung widerfahren zu lassen, die Michel seinem Doktoranden gewährt, indem er ihn beschläft und ihm so das notwendige Wissen verschafft, seine Werke richtig zu verstehen. Diese hermeneutische Methode, die allerdings die physische Konstitution unserer Gegenwartsautoren etwas strapazieren wird, sollte unbedingt in die Einführungskurse für Literaturwissenschaftler aufgenommen werden.
"Foucault" im Titel: das stellt große Ansprüche an einen Roman. Offensichtlich hat Patricia Duncker dies nicht bemerkt, denn sie begnügt sich mit einer Fabel, wie sie aus Jugendbüchern vertraut ist. Doktorand und Doktorandin beschließen, ihr Idol Paul Michel, einen homosexuellen Schriftsteller, aus dem Irrenhaus zu befreien, wo ihn die unverständige Gesellschaft eingesperrt hat. Foucaults historisches Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" wird also in eine aktuelle Biographie überführt, als hätte Foucault nicht nur über den Wahnsinn geschrieben, sondern als wäre er selbst wahnsinnig gewesen. Alle Hindernisse werden, getreu dem Abenteuerschema, überwunden, der Doktorand spürt den Gegenstand seiner Doktorarbeit in einer geschlossenen Anstalt auf, befreit ihn, liebt ihn und begibt sich mit ihm auf eine Lustreise in den Süden.
Ein Verkehrsunfall - und nicht Aids wie bei seinem Vorbild Foucault - setzt der Vita des Schriftstellers, der schon immer "gefährlich" gelebt haben soll, ein Ende. Die Kanonisierung zum Heiligen ist vollendet. Schreiben, Wahnsinn, Homosexualität, Verbrechen, Tod - in dem von Patricia Duncker gläubig erfundenen Paul Michel ist vereint, was sonst die Verehrer des abgründigen Genies mühsam aus Hölderlin, Rimbaud, Genet und Foucault zusammensuchen müssen.
Das akademische Milieu eignet sich - das gilt von der alteuropäischen Gelehrtensatire bis zu David Lodge und Dieter Schwanitz - für die komische Literatur. Eine solche despektierliche (wenngleich unterhaltsame) Verbindung von Gelehrsamkeit und Komik möchte Patricia Duncker, die selbst an einer englischen Universität lehrt, nicht akzeptieren. Doch ihr Versuch, die schlichte Tätigkeit der Philologie mit heroischem Pathos zu dekorieren und die Theorien Foucaults mit einem romanhaften Lebenslauf zu bebildern, beginnt mit Banalitäten und endet mit Kitsch. Die Doktorandin möchte Schiller "in den Griff bekommen", der Doktorand hat Bedenken: "Was? Du spinnst." Im besten Seminardeutsch oder Seminarenglisch wird ein Konkurrent bei der Interpretation des Werkes von Paul Michel herabgesetzt: "Um seine Hypothese zu verifizieren, spulte er ungerührt Seite um Seite Text und kilometerweise Fußnoten, Zitate und Querverweise ab." Davon hebt sich das Porträt Paul Michels strahlend ab: "Er war ein Mann der elementaren Gefühle, der wesentlichen Dinge." Wofür hat Foucault geschrieben, wenn seine Verehrerin eine solche Sprache schreibt? Verehrung des Außerordentlichen bei anderen schützt nicht vor eigener Mittelmäßigkeit.
Immerhin gibt es eine bedeutende Passage in diesem unbedeutenden Buch. Sie steht kursiv auf Seite 45. Sie ist von Foucault. HEINZ SCHLAFFER
Patricia Duncker: "Die Germanistin". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Karen Nölle-Fischer. Berlin Verlag, Berlin 1997. 235 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Patricia Duncker empfiehlt, den Dichter anzufassen
"Hallucinating Foucault" heißt das Buch auf englisch, "Die Germanistin" auf deutsch. Jener Titel entspricht dem Thema des Romans, dieser wirbt um die deutsche Leserschaft, von der ein beträchtlicher Teil, vor allem der weibliche, Germanistik studiert. Aufgabe der Germanistin ist es, ihren Kommilitonen, den Erzähler, der in Cambridge über den (fiktiven) Schriftsteller Paul Michel promovieren möchte, dazu zu bewegen, sein Dissertationsthema im Leben und nicht nur im Buch zu suchen. Er soll Michel - ein verjüngtes und als Poet à la Genet kostümiertes Abbild oder Inbild des Wissenschaftlers Michel Foucault - selbst sehen, sprechen, lieben. "Zurück zu den Quellen" lautet die Maxime der Germanistin, freilich in der Auslegung, wie sie für diesen Roman in allen Punkten charakteristisch ist: zurück zu den biographischen Quellen, zum Autor höchstpersönlich. Wer sich mit Dichtung befassen will, muß den Dichter anfassen.
Mit dieser Einweihung in die Technik, aus der langweiligen Philologie ein Abenteuer, gar ein Liebesabenteuer zu machen, ist die Rolle der Germanistin erschöpft: "Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Schiller. Meiner Meinung nach hatte Schiller keine Chance", und zwar wegen Schillers großem Nachteil, tot zu sein. Schiller ist es nämlich verwehrt, seiner Doktorandin die gleiche großzügige Behandlung widerfahren zu lassen, die Michel seinem Doktoranden gewährt, indem er ihn beschläft und ihm so das notwendige Wissen verschafft, seine Werke richtig zu verstehen. Diese hermeneutische Methode, die allerdings die physische Konstitution unserer Gegenwartsautoren etwas strapazieren wird, sollte unbedingt in die Einführungskurse für Literaturwissenschaftler aufgenommen werden.
"Foucault" im Titel: das stellt große Ansprüche an einen Roman. Offensichtlich hat Patricia Duncker dies nicht bemerkt, denn sie begnügt sich mit einer Fabel, wie sie aus Jugendbüchern vertraut ist. Doktorand und Doktorandin beschließen, ihr Idol Paul Michel, einen homosexuellen Schriftsteller, aus dem Irrenhaus zu befreien, wo ihn die unverständige Gesellschaft eingesperrt hat. Foucaults historisches Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" wird also in eine aktuelle Biographie überführt, als hätte Foucault nicht nur über den Wahnsinn geschrieben, sondern als wäre er selbst wahnsinnig gewesen. Alle Hindernisse werden, getreu dem Abenteuerschema, überwunden, der Doktorand spürt den Gegenstand seiner Doktorarbeit in einer geschlossenen Anstalt auf, befreit ihn, liebt ihn und begibt sich mit ihm auf eine Lustreise in den Süden.
Ein Verkehrsunfall - und nicht Aids wie bei seinem Vorbild Foucault - setzt der Vita des Schriftstellers, der schon immer "gefährlich" gelebt haben soll, ein Ende. Die Kanonisierung zum Heiligen ist vollendet. Schreiben, Wahnsinn, Homosexualität, Verbrechen, Tod - in dem von Patricia Duncker gläubig erfundenen Paul Michel ist vereint, was sonst die Verehrer des abgründigen Genies mühsam aus Hölderlin, Rimbaud, Genet und Foucault zusammensuchen müssen.
Das akademische Milieu eignet sich - das gilt von der alteuropäischen Gelehrtensatire bis zu David Lodge und Dieter Schwanitz - für die komische Literatur. Eine solche despektierliche (wenngleich unterhaltsame) Verbindung von Gelehrsamkeit und Komik möchte Patricia Duncker, die selbst an einer englischen Universität lehrt, nicht akzeptieren. Doch ihr Versuch, die schlichte Tätigkeit der Philologie mit heroischem Pathos zu dekorieren und die Theorien Foucaults mit einem romanhaften Lebenslauf zu bebildern, beginnt mit Banalitäten und endet mit Kitsch. Die Doktorandin möchte Schiller "in den Griff bekommen", der Doktorand hat Bedenken: "Was? Du spinnst." Im besten Seminardeutsch oder Seminarenglisch wird ein Konkurrent bei der Interpretation des Werkes von Paul Michel herabgesetzt: "Um seine Hypothese zu verifizieren, spulte er ungerührt Seite um Seite Text und kilometerweise Fußnoten, Zitate und Querverweise ab." Davon hebt sich das Porträt Paul Michels strahlend ab: "Er war ein Mann der elementaren Gefühle, der wesentlichen Dinge." Wofür hat Foucault geschrieben, wenn seine Verehrerin eine solche Sprache schreibt? Verehrung des Außerordentlichen bei anderen schützt nicht vor eigener Mittelmäßigkeit.
Immerhin gibt es eine bedeutende Passage in diesem unbedeutenden Buch. Sie steht kursiv auf Seite 45. Sie ist von Foucault. HEINZ SCHLAFFER
Patricia Duncker: "Die Germanistin". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Karen Nölle-Fischer. Berlin Verlag, Berlin 1997. 235 S., geb., 38,- DM.
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"Wenn man atemlos am Ende angekommen ist, weiß man, was Lust am Text sein und welch subversive Energie in Literatur stecken kann." (Georg Stankiewicz in der "WAZ")