In allerletzter Sekunde kann Captain Gault einen Brandanschlag auf sein Gut in Lahardane vereiteln. Dennoch kommen er und seine englische Frau Heloise zu dem Schluss, dass es höchste Zeit ist, das unsichere Irland zu verlassen. Ganz anderer Meinung ist ihre achtjährige Tochter Lucy. Sie liebt ihr Zuhause und kann sich ein Leben jenseits der Wälder, Felder und langen Strände von Lahardane nicht vorstellen. Nachdem all ihre Proteste nicht fruchten, greift Lucy zum letzten Mittel: Am Vorabend der unwiderruflich beschlossenen Abfahrt reißt sie aus, um das Unabänderliche doch noch zu verhindern. Ein Ereignis, dessen Folgen die Gaults in eine Katastrophe stürzen und ihr Leben von nun an schicksalhaft bestimmen.
In seinem Roman spiegelt der große irische Schriftsteller Trevor nicht nur das Irland der 1920er Jahre wider, in dem ein Ende der feindlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Arm und Reich nicht abzusehen ist. Er erzählt auch eine tief melancholische Geschichte von verpassten Gelegenheiten und Missverständnissen, die das Leben der Lucy Gault zu einer Tragödie machen. Ein Roman wie ein Requiem.
In seinem Roman spiegelt der große irische Schriftsteller Trevor nicht nur das Irland der 1920er Jahre wider, in dem ein Ende der feindlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Arm und Reich nicht abzusehen ist. Er erzählt auch eine tief melancholische Geschichte von verpassten Gelegenheiten und Missverständnissen, die das Leben der Lucy Gault zu einer Tragödie machen. Ein Roman wie ein Requiem.
Dornröschenschlaf in County Cork: William Trevor erzählt "Die Geschichte der Lucy Gault"
Eigentlich ist es ein Skandal. Als "The Story of Lucy Gault" 2002 in die engste Wahl für den Booker-Preis kam, glaubten nicht nur die Buchmacher, die Stunde von William Trevor, einem der feinsten Schriftsteller Großbritanniens, habe endlich geschlagen. Aber der damals Vierundsiebzigjährige ging leer aus; die Auszeichnung wurde Yann Martel verliehen. Nichts gegen dessen "Schiffbruch mit Tiger" - doch Trevors Roman, sein vierzehnter, ist das ungleich bedeutendere Werk und hätte den Preis und die damit verbundene große Leserschaft unbedingt verdient.
Wunden, welche die Zeit selbst schlägt, kann sie nicht heilen. "Am Abend des 21. Juni 1921 verwundete Captain Everard Gault einen jungen Mann an der rechten Schulter." Dieser erste Satz des Romans, der ebenso gut eine jener Kurzgeschichten eröffnen könnte, in denen Trevor es zu unangefochtener Meisterschaft gebracht hat, scheint auf eine gradlinige Handlung hinzuweisen, eine historische Erzählung von Rache und Vergeltung vielleicht. Doch bereits der Titel, "Die Geschichte der . . .", fordert das Exemplarische dieses Schicksals. Und tatsächlich bildet jener Schuß aus dem Gewehr ihres Vaters, der Lucy Gaults Leben fortan bestimmen wird, den Auftakt einer unvergeßlichen Geschichte von Flucht und Exil, Absicht und Wirkung, Buße und Erlösung. Die Geschichte der Lucy Gault ist zunächst ein Gerücht, ein Verdacht, wie Nachbarn ihn sich zuflüstern, der bald zur verstörenden Gewißheit, darüber zur Legende und schließlich zum Mythos wird. Doch sind es nicht die gesprochenen Worte, die Lucys Leben bestimmen, sondern Schweigen, Stille und Stummheit, Sätze, die gedacht, aber nie gesagt werden, oder die der Wind ungehört davonträgt.
Bevor der Schuß fällt, führt Captain Everard Gault, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, mit seiner englischen Frau Heloise und der fast neunjährigen Tochter Lucy ein von tiefer "Zuneigung geprägtes Leben zu dritt" auf Lahardane, dem Familienbesitz der anglo-irischen Gaults, in County Cork. Es herrschen bescheidene Landadel-Verhältnisse - den Grundbesitz, der einst zum Haus gehörte, hat ein Vorfahr beim Poker verspielt -, doch sie genügen, um die protestantischen Gaults in die Schußlinie zu bringen. In Irland herrscht Kriegsrecht; der politische Unmut hat längst auf die Provinz übergegriffen. Als Brandstifter in jener Nacht erst die Hofhunde vergiften und sich sodann mit Benzinkanistern am Haus zu schaffen machen, will Captain Gault sie mit einem Schreckschuß vertreiben, trifft jedoch einen der Männer versehentlich an der Schulter. Das Nachspiel dieses Unfalls - die Familie des Mannes nimmt Everards Entschuldigung nicht an, und seine Frau befürchtet weitere Anschläge - zwingt die Gaults zu einer Entscheidung, die viele ihrer Nachbarn längst getroffen haben: Sie werden das geliebte Gut, vom Hausmeisterehepaar Bridget und Henry treu versorgt, verlassen und nach England gehen. Voller Abschiedsschmerz treffen sie Vorbereitungen zur Abreise. Womit sie nicht gerechnet haben, ist die trotzige Entschlossenheit ihrer Tochter. Lucy läuft davon, in der Hoffnung, die Eltern so zum Bleiben zu bewegen. Eine Verkettung unglücklichster Umstände läßt die Gaults glauben, ihr Kind sei im Meer ertrunken, habe sich womöglich das Leben genommen - und so fahren sie ab, nach Tagen des Suchens, und statt nach England zu ziehen, reisen sie rastlos durch Europa, wo sich ihre Spur verliert.
Aber Lucy lebt, und Trevors ganzes Können zeigt sich in der Choreographie, mit der er die tragischen Folgen dieser guten Nachricht auslotet. Lucy ist gefallen und hat sich verletzt; als Henry sie nach Wochen durch Zufall findet, humpelt sie und ist fast verhungert. Und während ihre verzweifelte Pilgerschaft die Gaults schließlich nach Italien führt, zusammengeschweißt durch ihre gegenseitige Liebe, aber auch durch den vermeintlichen Verlust ihres einzigen Kindes, wächst Lucy auf Lahardane zwischen Strand und Bibliothek heran. Während ihres jahrzehntelangen Dornröschenschlafs versorgen Dickens, Thackeray, Hardy und Austen sie mit einem Leben aus zweiter Hand. Eine Rückkehr erwartend, an die außer ihr niemand mehr glaubt, sehnt Luvy sich nach Vergebung, die nur die Eltern gewähren können. Everard und Heloise, deren Namen an jenes andere unglückliche Liebespaar Abelard und Heloise erinnern, stehen derweil in Italien vor Madonnen und Heiligenschreinen und leisten ihrerseite Abbitte für den Tod der Tochter, an dem sie sich schuldig fühlen.
Der Roman bezieht seine Kraft nicht zuletzt aus dem Zusammenspiel von Zeit und Zufall, so daß hier nur verraten werden soll, daß drei Männer nach Lahardane kommen werden, die Lucy dazu veranlassen, zwischen Liebe, Warten und Wiedergutmachung zu wählen. Ähnlich wie Kazuo Ishiguros in "Was vom Tage übrigblieb" erzählt Trevor mit prägnanter, präziser, die Figuren gleichsam abtastender Sprache, wie sich ein ganzes Leben auf ein Mißverständnis stützt, das zu spät erkannt wird. Für die Protagonistin wie für ihren Schöpfer ist entscheidend, daß es im Leben nicht allein auf das große Gefühl ankommt, sondern ebenso auf Nebensächlichkeiten. Dies kann das Blau der Hortensien sein, das sich auf einer Tasse wiederholt; ein Fahrrad, das an einer Hauswand lehnt; ein streunender Hund am Strand; das Porträt eines Ahnen, an den sich niemand mehr erinnert.
"Die Geschichte der Lucy Gault" ist ein Buch voll herber Melancholie, eine Ode an die Einsamkeit an der Schnittstelle von Zufall, Geschichte und Charakter. Mit seiner Geschichte einer Familie, die von äußeren Einflüssen und persönlichen Leidenschaften auseinandergerissen wird, hat Trevor aber auch eine eindringliche Metapher für seine irische Heimat gefunden. Eine Frau, die "als Kind hätte sterben sollen", überlebt. Sie findet Trost in der Erinnerung - und in der Literatur: "In Romanen brachen Menschen aus ihrem Leben aus. Und Romane spiegelten die Wirklichkeit, die ganze Verzweiflung und das ganze Glück der Welt . . . Warum sollte man nicht auch im richtigen Leben Fehler und Dummheiten rückgängig machen?" Was bleibt, sind "die Mythen, und die Geschichten, die man sich erzählt" - wie jene der Lucy Gault.
William Trevor: "Die Geschichte der Lucy Gault". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 303 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
William Trevors Roman "Die Geschichte der Lucy Gault" hat Rezensent Gustav Mechlenburg so melancholisch gestimmt, dass er erst mal ein Guinness brauchte. Den Roman über die kleine Lucy, die bei der Flucht ihrer protestantischen Eltern aus dem katholischen Irland allein zurückbleibt, findet er "durch und durch depressiv". Trevors Protagonisten stehen so sehr im Bann des tragischen Ereignisses, dass Mechlenburg gar von einer mythologischen Schicksalhaftigkeit spricht. Am besten gefallen ihm die Passagen, in denen Trevor die "sensible Intimität" zwischen Lucys Eltern und ihre an Selbstzerstörung grenzenden Schuldvorwürfe schildert. Ein wenig bedauerlich erscheint es Mechlenburg da, dass sich Trevor nicht ebenso sorgfältig seiner Hauptfigur widmet. Trevors Tonfall beschreibt er als "lakonischen Stil eines allwissenden Erzählers". Der erzählte Zeitraum von achtzig Jahren wirke nahezu zeitlos. Das und Trevors Sprache lassen das Buch, so Mechlenburg, "altmodisch und allegorisch" erscheinen. Wirklichen Tiefgang hat das Buch seiner Ansicht nach nicht. "Aber die fatalistische Unaufhaltsamkeit des Geschehens", resümiert der Rezensent, "zieht den Leser unweigerlich in einen trieftraurigen Sog."
© Perlentaucher Medien GmbH
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