Volker Reinhardts lange erwartete große Geschichte der Schweiz verbindet auf eindrucksvolle Weise die politische Entwicklung der Eidgenössischen Konföderation mit der Geschichte ihrer Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. So entsteht ein einzigartiges historisches Panorama von der Antike bis heute. Kein anderes Land ist so vielfältig wie die Schweiz: Auf kleinstem Raum zählt man 26 Kantone mit weitgehender Autonomie, 4 Amtssprachen, 2 Konfessionen sowie unterschiedliche Klimazonen.
Volker Reinhardt geht der Frage nach, wie es zu der Konföderation von so unterschiedlichen Gebieten kommen konnte und warum diese trotz dauernder Kriege ein gemeinsames historisches Bewusstsein ausgebildet haben. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Kultur. Zwingli und Calvin, Rousseau und Pestalozzi, Max Frisch, Alberto Giacometti und viele andere Schweizer Künstler und Intellektuelle haben weit über die Landesgrenzen hinaus gewirkt. Die Schweiz ist ebenso bodenständig wie weltoffen: Gerade dieseSpannung, so zeigt das Buch, macht Erfolg und Faszination des Landes aus.
Volker Reinhardt geht der Frage nach, wie es zu der Konföderation von so unterschiedlichen Gebieten kommen konnte und warum diese trotz dauernder Kriege ein gemeinsames historisches Bewusstsein ausgebildet haben. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Kultur. Zwingli und Calvin, Rousseau und Pestalozzi, Max Frisch, Alberto Giacometti und viele andere Schweizer Künstler und Intellektuelle haben weit über die Landesgrenzen hinaus gewirkt. Die Schweiz ist ebenso bodenständig wie weltoffen: Gerade dieseSpannung, so zeigt das Buch, macht Erfolg und Faszination des Landes aus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011Nicht so langweilig, wie man gemeinhin behauptet
Alle Schokoladen-, Uhren- und Käse-Klischees liegen im Ideenreichtum eines ganz besonderen Volkes begründet:
Volker Reinhardts so lehrreiche wie unterhaltsame Geschichte der Schweiz hat das Zeug zum Standardwerk Von Wolfgang Koydl
Was wissen wir Deutsche schon über Schweizer Geschichte? Geßler-Hut, Apfelschuss, Wilhelm Tell und die Hohle Gasse. Und dann war da noch so eine Sache mit einem heiligen Schwur irgendwo auf einer Bergwiese über dem Vierwaldstätter See. Eine magere Ausbeute, wenn man sie mit dem Wissen über Österreich oder Frankreich vergleicht. Und noch magerer wird sie, wenn man bedenkt, dass Tell gar keine historische Figur und vermutlich noch nicht einmal Schweizer gewesen ist – unbeschadet der Tatsache, dass ein Standbild des vollbärtigen Freiheitskämpfers den Plenarsaal des Parlaments in Bern schmückt.
Tatsächlich dürfte der mittelalterliche Schweizer Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi den Tell-Mythos einer dänischen Sage entliehen und für das Alpenland zurechtgemodelt haben. Popularisiert wurde der legendäre Held dann durch einen anderen Ausländer, den deutschen Dramatiker Friedrich Schiller. Deutschlands anderer klassischer Dichterfürst, Goethe, hatte ihm das Thema großzügig abgetreten, auf das er bei einer Schweiz-Reise gestoßen war.
Schiller war es auch, der mit seinem Drama ein Idealbild der Eidgenossenschaft schuf, das sich bis heute fest in den Köpfen eingenistet hat: Die Geschichte einer verschworenen Gemeinschaft freiheitsdurstiger Bauern, die sich gegen despotische Fürsten auflehnen, deren gepanzerte Ritter in offener Feldschlacht niedermetzeln und anschließend eine Art früher Volksrepublik gleichberechtigter Männer (Frauen stießen erst später, viel später hinzu) begründen, die über Jahrhunderte den Feudalherrschern rings herum in Europa tapfer die Stirn bietet.
Ganz so dramatisch verlief die Geschichte freilich nicht. Aber andererseits auch nicht so langweilig, wie gemeinhin behauptet wird, wenn man das eigene Desinteresse an helvetischer Historie rechtfertigen will. Wie es wirklich gewesen ist, hat nun auf bemerkenswert lehrreiche wie unterhaltsame Weise der Historiker Volker Reinhardt aufgeschrieben. Bisher ist der Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg hauptsächlich mit Werken über das Italien der Renaissance hervorgetreten; nun hat er seiner vor einigen Jahren erschienenen kleinen Geschichte der Schweiz eine umfangreiche Ausgabe nachfolgen lassen, die sich zu einem Standardwerk entwickeln könnte.
Reinhardts Buch kommt zudem zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt. In den letzten Jahren ist das Interesse an der Eidgenossenschaft jenseits ihrer Grenzen deutlich gewachsen, eine Folge – unter anderem – der fast schon als Massenzustrom zu bezeichnenden Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte vom Küchenpersonal bis zum Klinikchef. Unter den Deutschen ist verstärkt die Neugier geweckt, endlich hinter die Käse- und Kuckucksuhren-Klischees zu blicken.
Was es da zu entdecken gibt, ist eine faszinierende Abfolge von ebenso überraschenden wie erstaunlichen Begebenheiten und zahlreichen Aha-Erlebnissen. Mit Königsmorden, Kolonialabenteuern und Kabalen an Prinzenhöfen kann die Schweiz zwar nicht dienen; aber die mehr als 700 Jahre seit dem legendären Rütli-Schwur entbehren nicht des Dramas, der Tragik, aber auch der Triumphe. Die Schweiz mag immer, bis zum heutigen Tag, unbeirrt und manchmal stur ihren Sonderweg gegangen sein; aber Reinhardt macht deutlich, dass sie ebenso eindeutig stets Teil Europas und seiner Geschichte gewesen ist – nicht im Scheinwerferlicht, aber auf stille Weise eben oft auch bestimmend.
Reinhardt ist gewiss nicht der erste Historiker, der mit den eidgenössischen Gründungsmythen aufräumt, aber er tut es vielleicht gründlicher als andere. So vermag man beispielsweise bei einer genaueren Lektüre des „Bundesbriefes“, in dem sich die drei Ur-Kantone Uri, Schwyz und Obwalden einander gegenseitig Beistandes versichern, keine wahrhaft revolutionären Forderungen zu erkennen. „Im Gegenteil“, schreibt Volker Reinhardt, „sie zielten auf die Bewahrung der bestehenden Herrschafts- und Rechtsverhältnisse ab.“ Die Kantone verbaten sich lediglich Einmischung von außen mit der Begründung, dass die örtlichen Kräfte sehr wohl in der Lage wären, selbst Recht und Ordnung zu garantieren.
Dies aber führt zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung: Interessiert an der Friedens-, Ordnungs- und Besitzstandwahrung im Zusammenspiel mit dem Reichsvogt als Vertreter der kaiserlichen Krone waren die lokalen Eliten und nicht das Volk – also „die Familien, die auf Alter, Besitz und Prestige pochen konnten und daher Autorität besaßen“. Diese Familien machten den örtlichen Adel aus, und daher gemahnt der Rütli-Schwur eher an die Magna Charta, in welcher der englische Adel dem Monarchen Zugeständnisse abtrotzte, als einem revolutionären Volkssturm auf die Bastille.
Während ihrer ganzen Geschichte stellten sich Schweizer und Nicht-Schweizer die Frage, wie solch ein Staatswesen wie die Alpen-Konföderation eigentlich funktionieren, ja existieren kann. Zum einen waren die Kantone untereinander immer uneins: Stadt gegen Land, Katholiken gegen Protestanten, Patriziergeschlechter gegen Bauern, romanische Schweizer gegen deutsche. Ihren letzten Bürgerkrieg fochten die Eidgenossen erst 1847 aus. Doch schon im Jahr darauf gaben sie sich, in enger Anlehnung an das amerikanische Vorbild, jene demokratische Verfassung, die bis heute Bestand hat und die politische Stabilität und wirtschaftlichen Welterfolg der kleinen Nation mit begründete.
Risiken für den Zusammenhalt drohten aber nicht nur von innen. Diese kleine Insel im Herzen Europas mit ihren anderswo als höchst suspekt betrachteten basisdemokratischen Elementen war umgeben von ebenso mächtigen wie machthungrigen Staaten: Frankreich, Deutschland, Habsburg, Mailand und Savoyen. Die einzelnen Kantone selbst verfolgten teils gegensätzliche außenpolitische Interessen: Zürich blickte nach Norden über den Bodensee hinweg; Bern nach Westen Richtung Frankreich; und die Zentralschweiz hatte Oberitalien jenseits der Pässe fest im Visier.
Doch im Angesicht äußerer Bedrohungen schlossen sich die Schweizer meist zusammen, derweil die bedrohliche Außenwelt sich gegenseitig neutralisierte: Begehrenswert war die Schweiz in erster Linie aus geostrategischen Gründen, weil sie die Nord-Süd-Achse Europas über die Alpenpässe kontrollierte. Da keine Großmacht der anderen diesen Preis vergönnte, hielten sie einander gegenseitig in Schach. Das schmälert nicht die kriegerischen Leistungen der Schweizer selbst: Ihre Söldner gehörten jahrhundertelang zu den besten ihres Fachs, und da sie unterschiedslos an jeden Potentaten ausgeliehen wurden, der sie sich leisten konnte, hatte niemand ein Interesse daran, dass diese Quelle der Kampfkraft versiegte.
Seit 1515, als sie in der Schlacht von Marignano einem französischen Heer unterlagen, führten die Eidgenossen nicht mehr auf eigene Regie Krieg. Die Niederlage war die Geburtsstunde der bewaffneten Neutralität. Aber dank der fetten Gebühren, die ausländische Mächte für Schweizer Söldner zahlten, verdienten die Schweizer Eliten an jedem Waffengang auf dem Kontinent mit. Es war aber nicht nur dieses Kapital, das die Grundlage legte für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz. Sehr viel wichtiger waren der Ideenreichtum und der Fleiß eines Volkes, das nicht wohlfeil irgendwelche Rohstoffe und Ressourcen ausbeuten und verkaufen konnte. Ob Käse, Schokolade, Uhren oder Kreditgeschäfte – Schweizer mussten schon immer Produkte mit deutlichem Mehrwert anbieten.
Sehr früh schon führte dies dazu, dass breite Schichten der Bevölkerung verhältnismäßig viel Wohlstand aufbauen konnten. Dies wiederum bildete eine zusätzliche Grundlage für sozialen Konsens. Diese gesellschaftliche Homogenität hatte sich allmählich aufgebaut.
Gerade wegen der Verschiedenartigkeit ihrer Landesteile und Einwohner war den Eidgenossen früh bewusst geworden, wie notwendig die Fähigkeiten zu Kompromiss, Kommunikation und Kontakten waren. Dass Schweizer Politik oft vorsichtig, ja betulich wirkt, ist ein Ergebnis dieser Entwicklung.
Wird die Schweiz auch in Zukunft ihren Sonderweg beschreiten, ihre Eigenart behalten können? Reinhardt weist auf zwei gegensätzliche Entwicklungen hin, die Europa in den letzten zwanzig Jahren seit dem Ende des Kommunismus geprägt haben: die Aufgabe eigener Souveränität an die supranationale Europäische Union auf der einen Seite, und die zum Teil kriegerisch durchgesetzte Maxime „ein Volk, eine Sprache, ein Staat“ in Osteuropa auf der anderen Seite. Beides widerspricht diametral der Schweizer Realität und der Schweizer Identität von einer aus vier Kulturen und Sprachen gebildeten Nation mit dezidiert eigenständigen Gepflogenheiten.
Dennoch kann sich die Schweiz weltweiten Entwicklungen nicht entziehen. Und auch wenn die EU derzeit wenig Attraktivität ausübt, so schafft sie dennoch einen Sog, in den die Eidgenossenschaft mit ihren bilateralen Verträgen mit Brüssel längst geraten ist.
Volker Reinhardt, ein Deutscher, ist aber zuversichtlich für sein Gastland. Gerade wegen ihrer unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, meint er, verfüge die Schweiz „wie kein anderes Land Europas über die Fähigkeit, sich neu zu denken, zu erfinden und zu positionieren, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen“. Sein Fazit: „In dieser Hinsicht kann Europa von der Schweiz nur lernen.“ Und alte Mythen braucht man dazu nicht.
Volker Reinhardt
Die Geschichte der Schweiz
Von den Anfängen bis heute.
Verlag C. H. Beck, München 2011.
512 Seiten, 34,95 Euro.
Gründungsmythen sind
hartnäckig: Der Rütli-Schwur
war eine Elitenveranstaltung
Tatkräftig und geübt im
Kompromiss: Europa kann
von der Schweiz nur lernen
So begehrenswert wie die Toblerone-Gipfel war die Schweiz immer auch aus geostrategischen Gründen – weil sie die Alpenpässe kontrollierte. Doch den Eidgenossen gelang es, ihre Neutralität dauerhaft zu verteidigen.
Foto: Studio/
Photocuisine
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Alle Schokoladen-, Uhren- und Käse-Klischees liegen im Ideenreichtum eines ganz besonderen Volkes begründet:
Volker Reinhardts so lehrreiche wie unterhaltsame Geschichte der Schweiz hat das Zeug zum Standardwerk Von Wolfgang Koydl
Was wissen wir Deutsche schon über Schweizer Geschichte? Geßler-Hut, Apfelschuss, Wilhelm Tell und die Hohle Gasse. Und dann war da noch so eine Sache mit einem heiligen Schwur irgendwo auf einer Bergwiese über dem Vierwaldstätter See. Eine magere Ausbeute, wenn man sie mit dem Wissen über Österreich oder Frankreich vergleicht. Und noch magerer wird sie, wenn man bedenkt, dass Tell gar keine historische Figur und vermutlich noch nicht einmal Schweizer gewesen ist – unbeschadet der Tatsache, dass ein Standbild des vollbärtigen Freiheitskämpfers den Plenarsaal des Parlaments in Bern schmückt.
Tatsächlich dürfte der mittelalterliche Schweizer Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi den Tell-Mythos einer dänischen Sage entliehen und für das Alpenland zurechtgemodelt haben. Popularisiert wurde der legendäre Held dann durch einen anderen Ausländer, den deutschen Dramatiker Friedrich Schiller. Deutschlands anderer klassischer Dichterfürst, Goethe, hatte ihm das Thema großzügig abgetreten, auf das er bei einer Schweiz-Reise gestoßen war.
Schiller war es auch, der mit seinem Drama ein Idealbild der Eidgenossenschaft schuf, das sich bis heute fest in den Köpfen eingenistet hat: Die Geschichte einer verschworenen Gemeinschaft freiheitsdurstiger Bauern, die sich gegen despotische Fürsten auflehnen, deren gepanzerte Ritter in offener Feldschlacht niedermetzeln und anschließend eine Art früher Volksrepublik gleichberechtigter Männer (Frauen stießen erst später, viel später hinzu) begründen, die über Jahrhunderte den Feudalherrschern rings herum in Europa tapfer die Stirn bietet.
Ganz so dramatisch verlief die Geschichte freilich nicht. Aber andererseits auch nicht so langweilig, wie gemeinhin behauptet wird, wenn man das eigene Desinteresse an helvetischer Historie rechtfertigen will. Wie es wirklich gewesen ist, hat nun auf bemerkenswert lehrreiche wie unterhaltsame Weise der Historiker Volker Reinhardt aufgeschrieben. Bisher ist der Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg hauptsächlich mit Werken über das Italien der Renaissance hervorgetreten; nun hat er seiner vor einigen Jahren erschienenen kleinen Geschichte der Schweiz eine umfangreiche Ausgabe nachfolgen lassen, die sich zu einem Standardwerk entwickeln könnte.
Reinhardts Buch kommt zudem zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt. In den letzten Jahren ist das Interesse an der Eidgenossenschaft jenseits ihrer Grenzen deutlich gewachsen, eine Folge – unter anderem – der fast schon als Massenzustrom zu bezeichnenden Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte vom Küchenpersonal bis zum Klinikchef. Unter den Deutschen ist verstärkt die Neugier geweckt, endlich hinter die Käse- und Kuckucksuhren-Klischees zu blicken.
Was es da zu entdecken gibt, ist eine faszinierende Abfolge von ebenso überraschenden wie erstaunlichen Begebenheiten und zahlreichen Aha-Erlebnissen. Mit Königsmorden, Kolonialabenteuern und Kabalen an Prinzenhöfen kann die Schweiz zwar nicht dienen; aber die mehr als 700 Jahre seit dem legendären Rütli-Schwur entbehren nicht des Dramas, der Tragik, aber auch der Triumphe. Die Schweiz mag immer, bis zum heutigen Tag, unbeirrt und manchmal stur ihren Sonderweg gegangen sein; aber Reinhardt macht deutlich, dass sie ebenso eindeutig stets Teil Europas und seiner Geschichte gewesen ist – nicht im Scheinwerferlicht, aber auf stille Weise eben oft auch bestimmend.
Reinhardt ist gewiss nicht der erste Historiker, der mit den eidgenössischen Gründungsmythen aufräumt, aber er tut es vielleicht gründlicher als andere. So vermag man beispielsweise bei einer genaueren Lektüre des „Bundesbriefes“, in dem sich die drei Ur-Kantone Uri, Schwyz und Obwalden einander gegenseitig Beistandes versichern, keine wahrhaft revolutionären Forderungen zu erkennen. „Im Gegenteil“, schreibt Volker Reinhardt, „sie zielten auf die Bewahrung der bestehenden Herrschafts- und Rechtsverhältnisse ab.“ Die Kantone verbaten sich lediglich Einmischung von außen mit der Begründung, dass die örtlichen Kräfte sehr wohl in der Lage wären, selbst Recht und Ordnung zu garantieren.
Dies aber führt zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung: Interessiert an der Friedens-, Ordnungs- und Besitzstandwahrung im Zusammenspiel mit dem Reichsvogt als Vertreter der kaiserlichen Krone waren die lokalen Eliten und nicht das Volk – also „die Familien, die auf Alter, Besitz und Prestige pochen konnten und daher Autorität besaßen“. Diese Familien machten den örtlichen Adel aus, und daher gemahnt der Rütli-Schwur eher an die Magna Charta, in welcher der englische Adel dem Monarchen Zugeständnisse abtrotzte, als einem revolutionären Volkssturm auf die Bastille.
Während ihrer ganzen Geschichte stellten sich Schweizer und Nicht-Schweizer die Frage, wie solch ein Staatswesen wie die Alpen-Konföderation eigentlich funktionieren, ja existieren kann. Zum einen waren die Kantone untereinander immer uneins: Stadt gegen Land, Katholiken gegen Protestanten, Patriziergeschlechter gegen Bauern, romanische Schweizer gegen deutsche. Ihren letzten Bürgerkrieg fochten die Eidgenossen erst 1847 aus. Doch schon im Jahr darauf gaben sie sich, in enger Anlehnung an das amerikanische Vorbild, jene demokratische Verfassung, die bis heute Bestand hat und die politische Stabilität und wirtschaftlichen Welterfolg der kleinen Nation mit begründete.
Risiken für den Zusammenhalt drohten aber nicht nur von innen. Diese kleine Insel im Herzen Europas mit ihren anderswo als höchst suspekt betrachteten basisdemokratischen Elementen war umgeben von ebenso mächtigen wie machthungrigen Staaten: Frankreich, Deutschland, Habsburg, Mailand und Savoyen. Die einzelnen Kantone selbst verfolgten teils gegensätzliche außenpolitische Interessen: Zürich blickte nach Norden über den Bodensee hinweg; Bern nach Westen Richtung Frankreich; und die Zentralschweiz hatte Oberitalien jenseits der Pässe fest im Visier.
Doch im Angesicht äußerer Bedrohungen schlossen sich die Schweizer meist zusammen, derweil die bedrohliche Außenwelt sich gegenseitig neutralisierte: Begehrenswert war die Schweiz in erster Linie aus geostrategischen Gründen, weil sie die Nord-Süd-Achse Europas über die Alpenpässe kontrollierte. Da keine Großmacht der anderen diesen Preis vergönnte, hielten sie einander gegenseitig in Schach. Das schmälert nicht die kriegerischen Leistungen der Schweizer selbst: Ihre Söldner gehörten jahrhundertelang zu den besten ihres Fachs, und da sie unterschiedslos an jeden Potentaten ausgeliehen wurden, der sie sich leisten konnte, hatte niemand ein Interesse daran, dass diese Quelle der Kampfkraft versiegte.
Seit 1515, als sie in der Schlacht von Marignano einem französischen Heer unterlagen, führten die Eidgenossen nicht mehr auf eigene Regie Krieg. Die Niederlage war die Geburtsstunde der bewaffneten Neutralität. Aber dank der fetten Gebühren, die ausländische Mächte für Schweizer Söldner zahlten, verdienten die Schweizer Eliten an jedem Waffengang auf dem Kontinent mit. Es war aber nicht nur dieses Kapital, das die Grundlage legte für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz. Sehr viel wichtiger waren der Ideenreichtum und der Fleiß eines Volkes, das nicht wohlfeil irgendwelche Rohstoffe und Ressourcen ausbeuten und verkaufen konnte. Ob Käse, Schokolade, Uhren oder Kreditgeschäfte – Schweizer mussten schon immer Produkte mit deutlichem Mehrwert anbieten.
Sehr früh schon führte dies dazu, dass breite Schichten der Bevölkerung verhältnismäßig viel Wohlstand aufbauen konnten. Dies wiederum bildete eine zusätzliche Grundlage für sozialen Konsens. Diese gesellschaftliche Homogenität hatte sich allmählich aufgebaut.
Gerade wegen der Verschiedenartigkeit ihrer Landesteile und Einwohner war den Eidgenossen früh bewusst geworden, wie notwendig die Fähigkeiten zu Kompromiss, Kommunikation und Kontakten waren. Dass Schweizer Politik oft vorsichtig, ja betulich wirkt, ist ein Ergebnis dieser Entwicklung.
Wird die Schweiz auch in Zukunft ihren Sonderweg beschreiten, ihre Eigenart behalten können? Reinhardt weist auf zwei gegensätzliche Entwicklungen hin, die Europa in den letzten zwanzig Jahren seit dem Ende des Kommunismus geprägt haben: die Aufgabe eigener Souveränität an die supranationale Europäische Union auf der einen Seite, und die zum Teil kriegerisch durchgesetzte Maxime „ein Volk, eine Sprache, ein Staat“ in Osteuropa auf der anderen Seite. Beides widerspricht diametral der Schweizer Realität und der Schweizer Identität von einer aus vier Kulturen und Sprachen gebildeten Nation mit dezidiert eigenständigen Gepflogenheiten.
Dennoch kann sich die Schweiz weltweiten Entwicklungen nicht entziehen. Und auch wenn die EU derzeit wenig Attraktivität ausübt, so schafft sie dennoch einen Sog, in den die Eidgenossenschaft mit ihren bilateralen Verträgen mit Brüssel längst geraten ist.
Volker Reinhardt, ein Deutscher, ist aber zuversichtlich für sein Gastland. Gerade wegen ihrer unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, meint er, verfüge die Schweiz „wie kein anderes Land Europas über die Fähigkeit, sich neu zu denken, zu erfinden und zu positionieren, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen“. Sein Fazit: „In dieser Hinsicht kann Europa von der Schweiz nur lernen.“ Und alte Mythen braucht man dazu nicht.
Volker Reinhardt
Die Geschichte der Schweiz
Von den Anfängen bis heute.
Verlag C. H. Beck, München 2011.
512 Seiten, 34,95 Euro.
Gründungsmythen sind
hartnäckig: Der Rütli-Schwur
war eine Elitenveranstaltung
Tatkräftig und geübt im
Kompromiss: Europa kann
von der Schweiz nur lernen
So begehrenswert wie die Toblerone-Gipfel war die Schweiz immer auch aus geostrategischen Gründen – weil sie die Alpenpässe kontrollierte. Doch den Eidgenossen gelang es, ihre Neutralität dauerhaft zu verteidigen.
Foto: Studio/
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2012Jetzt kann es nur noch die Mundart richten
Von Wilhelm Tell bis zur vollendeten Demokratie: Der rhetorische Bürgerkrieg ist vorbei, heute will die Schweiz am liebsten mit sich und ihrer Geschichte im Reinen sein. Das klappt indes nicht reibungslos, wie neue Darstellungen zeigen.
Als "folgenschwersten Eid der Literaturgeschichte" verspottet der deutsche Historiker den Rütlischwur. Mit dieser nicht mehr ganz neuen Pointe eröffnete Volker Reinhardt vor zwei Jahren seine "Kleine Geschichte der Schweiz". Das eher schmale und sehr vergnüglich zu lesende Bändchen war bereits ein Recyclingprodukt, hervorgegangen aus der in der Reihe Beck Wissen mehrfach aufgelegten "Geschichte der Schweiz". Jetzt wurde daraus "Die Geschichte der Schweiz" schlechthin. Sie erschien praktisch gleichzeitig mit Volker Reinhardts hochgelobter Biographie von Machiavelli, der für den Laien doch eher überraschenderweise auch in seiner großen "Geschichte der Schweiz" mehrfach auftaucht. Vor drei Jahren schrieb er über Calvin und die "Tyrannei der Tugend" in Genf.
"In kaum einem anderen Land ist die Gegenwart so nah an der Geschichte wie in der Schweiz": Mit Niklaus von der Flüe, der im fünfzehnten Jahrhundert die Schweiz aus einer staatspolitischen Krise führte, wurde der Beitritt zur Europäischen Union bekämpft. Aber auch gegen ihre neuen "fremden Vögte" war der Mythos Wilhelm Tell sehr viel schlagkräftiger geblieben. Feindbilder funktionieren über Jahrzehnte und manchmal gar Jahrhunderte hinweg: Habsburg, Berlin, Moskau, Brüssel - und zurück nach Berlin? Als Igel fühlt sich die Schweiz seit ihrer Begründung, als Stachelschwein bezeichneten sie die Deutschen im Weltkrieg.
Damals erreichte die Verklärung Tells zum Helden des Widerstands ihren Höhepunkt. Erstmals wurde die politische Fabel mit dem Apfelschuss genauso wie der Rütlischwur um 1470 im Weißen Buch von Sarnen aufgezeichnet. Doch die Tell-Sage geht noch viel weiter zurück und hat skandinavische Ursprünge. Als Schiller sie auf die Bühne brachte, war sie "bereits von der unaufhaltsam fortschreitenden Geschichtswissenschaft bedroht". Auch für den Helden Winkelried, der bei der Schlacht von Sempach die Speere des feindlichen Heeres auf sich zog, finden sich in den historischen Quellen keine Belege. Viele Schriftstücke, die im neunzehnten Jahrhundert zu Gründungsdokumenten der Eidgenossenschaft verklärt wurden, waren bedeutend später entstanden.
Das haben C-14-Untersuchungen zweifelsfrei ergeben: "Selbst das Text-Allerheiligste der Schweiz, der Bundesbrief vom August 1291, ist auf diese Weise seines Ranges weitgehend verlustig gegangen." Einen mythologischen Umgang mit ihrer Geschichte betreibt die Schweiz seit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Die "geistige Landesverteidigung" als politisches Dogma verfestigte im Zeiten Weltkrieg das Selbstverständnis eines alleinstehenden, von Feinden umgebenen Landes. Es hat 1945 überlebt und den Kalten Krieg geprägt. Dass sich "die Schweiz aus der Geschichte verabschiedet hat", stellte an seinem Ende der Historiker Jean-Rudolph von Salis fest.
Als einziges Land der Welt feierte sie 1989 den Ausbruch des Weltkriegs fünfzig Jahre zuvor. Die Identitätskrise kam mit dem Fall der Berliner Mauer und stürzte die Schweiz in eine tiefe Depression. Deren Sinnbild bleibt die Selbstdarstellung auf der Weltausstellung 1992 unter dem Motto "La Suisse n'existe pas". Den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR lehnte das heillos zerstrittene Land ganz knapp ab, zwischen den Landesteilen tobte ein rhetorischer Bürgerkrieg. Schließlich geriet die Schweiz wegen ihres Verhaltens im Weltkrieg auf die Anklagebank der Weltöffentlichkeit. Zur Aufklärung ihrer Vergangenheit setzte sie die von Jean-François Bergier geleitete Historikerkommission ein.
Seit der Veröffentlichung ihres Schlussberichts gibt es in der Schweiz ein großes Bedürfnis nach neuen Darstellungen der nationalen Geschichte. Auf Französisch sind innerhalb kürzester Zeit mehrere Bücher erschienen. Neben Georges Andreys "Histoire de la Suisse pour les nuls" (First Verlag) mit mehreren zehntausend verkauften Exemplaren schaffte es auch die Journalistin Joëlle Kuntz auf die Bestsellerlisten. Ihre "Schweizer Geschichte - einmal anders" (Verlag Tobler) wurde auf Deutsch übersetzt und ist in zweiter Auflage erhältlich. Gleichzeitig publizierte der emeritierte Genfer Ideenhistoriker Alfred Berchtold eine Studie über den eidgenössischen "Widerstandskämpfer und Weltenbürger" ("Guillaume Tell", Editions Zoé). Sie ist auch ein Versuch, die traditionelle Geschichtsschreibung gegen die Demontage der Mythen zu verteidigen, ohne an die Legenden zu glauben.
2010 brachte Thomas Maissen - wie Volker Reinhardt - seine "Kleine Geschichte der Schweiz" (Verlag Hier und Jetzt) heraus. Sie wurde von Peter von Matt und der Kritik als Standardwerk gelobt. Maissen ist Schweizer und lehrt in Heidelberg, der Norddeutsche Reinhardt ist Professor an der Universität Fribourg. Beide Werke sind sehr stark auf die Gründungsmythen der helvetischen Geschichte konzentriert. Ihre Dekonstruktion war das epochale und konfliktträchtige Unterfangen der Nachkriegskultur - unter Beteiligung von Max Frisch. Jetzt ist sie fast offizielle Geschichte geworden.
"Nicht schon wieder!": Mit einem Stoßseufzer beginnt die Rezension von Volker Reinhardts drittem Streich in der "Neuen Zürcher Zeitung". Seine "Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute" ist plakativ aufgemacht und mehr als 500 Seiten lang, mit roten Titeln, bei jedem Kapitelanfang nickt das Matterhorn auf eineinhalb Seiten dem geneigten Leser zu. Auf dem Umschlag weht eine Schweizer Fahne im Wind. Das Cover des eleganten "kleinen" Essays - ohne Fußnoten und Anmerkungen - mit Schloss Chillon am Genfer See und den Alpen illustrierte wohl eher unbewusst einen Aspekt, der Reinhardt gegenüber Maissen auszeichnet: Er hat auf selbstverständlichere Art und Weise die gesamte Schweiz im Blick. In anderen Punkten ist seine Darstellung weniger ergiebig als jene des Kollegen.
Wie auch immer: "Den hochgesteckten Anspruch, ,die' Geschichte der Schweiz zu erzählen, löst er nicht ein", kritisiert die NZZ. Ihr Rezensent rügt die "schlecht reproduzierten, fast allesamt bereits vorliegenden Büchern entnommenen Abbildungen". Kurzum: "Solche Bücher könnten auch von Wissenschaftsjournalisten verfasst werden, vorausgesetzt natürlich, sie beherrschten das Handwerk und würden ausreichend finanziert." Der etwas merkwürdige Vergleich mit den Journalisten zielt auf die "Emigration zahlreicher akademischer und anderswie qualifizierter Arbeitskräfte in die Schweiz", Reinhardts Landsleute werden als Zielpublikum ausgemacht: "Leser, die mit der Materie wenig vertraut sind und wohl auch nicht allzu tief in diese eintauchen wollen." Ja, "dieses Buch wurde für einen deutschen Markt hergestellt" - auf welchem alle drei Schweiz-Titel des Historikers lieferbar sind.
Dass es auch für den Band "Schweiz" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt einen Markt geben möge, ist ihm sehr zu wünschen. Als Herausgeberin zeichnet Rita Schneider-Sliwa, die in Aachen studierte, in den Vereinigten Staaten arbeitete und heute an der Universität Basel wirkt. Sie hat zahlreiche Mitarbeiter gewinnen können, die glücklicherweise von akademischen Institutionen finanziert werden. Behandelt werden die traditionellen Bereiche der Länderkunde; den Alpen wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Banken. Den historischen Überblick, der Maissen und Reinhardt bestätigt, leistet Georg Kreis: "Geschichte der Schweiz - ein Mythos?" Kreis, Mitglied der Bergier-Kommission, befasst sich auch mit Europa: "Die Rechte (SVP) ist eine entschiedene Beitrittsgegnerin, die Linke ist eine engagierte Beitrittsbefürworterin, während die beiden Mitteparteien schwanken." Diese Einschätzung trifft nicht mehr wirklich zu.
Wichtiger allerdings ist, dass es auch den Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz nicht mehr gibt. Der Druck von außen hat das Land zusammengeschweißt wie einst im Krieg. Die Ablehnung Europas ist in den französischsprachigen Kantonen inzwischen genauso virulent. Und der Vormarsch der Mundart wird nicht mehr als nationales Ärgernis und Diskriminierung der Minderheiten bekämpft. Das exzellente Buch des in Berlin lebenden früheren Westschweizer TV-Korrespondenten und Chefredakteurs José Ribeaud ("La Suisse plurilingue se dégulingue", F.A.Z. von 7. Juni 2010) wurde von einem renommierten Verlag in Zürich vollständig übersetzt. Aber nicht veröffentlicht: Für die Kritik an der Deutschschweiz gäbe es weder Leser noch Käufer, wurde dem Autor beschieden.
Der Röschtigraben wird zugeschüttet, dafür errichtet die Schweiz rund ums ganze Land eine unsichtbare Sprach-Mauer: Mit dem Dialekt schottet sie sich nicht nur von Deutschland ab, Peer Steinbrück hatte den Indianern in ihrem "Réduit" mit der Kavallerie gedroht. Die Schweizerische Volkspartei will im einst separatistischen Jura die Mundart im frankophonen Kindergarten einführen. Für José Ribeau ist sie zum neuen eidgenössischen Tabu geworden: Die Kritik an ihr ist so unmöglich wie in früheren Zeiten jene an Wilhelm Tell. Sogar das Bankgeheimnis ist tot: Maissen datiert sein Ende auf den 13. März 2009. Volker Reinhardt sieht in seinem Schlusskapitel bereits die neuen Mythen blühen: das Rote Kreuz und der Gotthard. Er führt seine Datentafel bis zum Verbot neuer Minarette. "Die Schweiz ist sich einig über die Geschichte und überwiegend im Reinen mit ihr", stellt er fest: "Schulen und Medien vermitteln das Bild eines bruchlosen Verlaufs mit dem vorgegebenen Endziel der vollendeten Demokratie."
JÜRG ALTWEGG.
Volker Reinhardt: "Die Geschichte der Schweiz". Von den Anfängen bis heute.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 512 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
Rita Schneider-Sliwa (Hrsg.): "Schweiz". Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik.
WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 240 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Wilhelm Tell bis zur vollendeten Demokratie: Der rhetorische Bürgerkrieg ist vorbei, heute will die Schweiz am liebsten mit sich und ihrer Geschichte im Reinen sein. Das klappt indes nicht reibungslos, wie neue Darstellungen zeigen.
Als "folgenschwersten Eid der Literaturgeschichte" verspottet der deutsche Historiker den Rütlischwur. Mit dieser nicht mehr ganz neuen Pointe eröffnete Volker Reinhardt vor zwei Jahren seine "Kleine Geschichte der Schweiz". Das eher schmale und sehr vergnüglich zu lesende Bändchen war bereits ein Recyclingprodukt, hervorgegangen aus der in der Reihe Beck Wissen mehrfach aufgelegten "Geschichte der Schweiz". Jetzt wurde daraus "Die Geschichte der Schweiz" schlechthin. Sie erschien praktisch gleichzeitig mit Volker Reinhardts hochgelobter Biographie von Machiavelli, der für den Laien doch eher überraschenderweise auch in seiner großen "Geschichte der Schweiz" mehrfach auftaucht. Vor drei Jahren schrieb er über Calvin und die "Tyrannei der Tugend" in Genf.
"In kaum einem anderen Land ist die Gegenwart so nah an der Geschichte wie in der Schweiz": Mit Niklaus von der Flüe, der im fünfzehnten Jahrhundert die Schweiz aus einer staatspolitischen Krise führte, wurde der Beitritt zur Europäischen Union bekämpft. Aber auch gegen ihre neuen "fremden Vögte" war der Mythos Wilhelm Tell sehr viel schlagkräftiger geblieben. Feindbilder funktionieren über Jahrzehnte und manchmal gar Jahrhunderte hinweg: Habsburg, Berlin, Moskau, Brüssel - und zurück nach Berlin? Als Igel fühlt sich die Schweiz seit ihrer Begründung, als Stachelschwein bezeichneten sie die Deutschen im Weltkrieg.
Damals erreichte die Verklärung Tells zum Helden des Widerstands ihren Höhepunkt. Erstmals wurde die politische Fabel mit dem Apfelschuss genauso wie der Rütlischwur um 1470 im Weißen Buch von Sarnen aufgezeichnet. Doch die Tell-Sage geht noch viel weiter zurück und hat skandinavische Ursprünge. Als Schiller sie auf die Bühne brachte, war sie "bereits von der unaufhaltsam fortschreitenden Geschichtswissenschaft bedroht". Auch für den Helden Winkelried, der bei der Schlacht von Sempach die Speere des feindlichen Heeres auf sich zog, finden sich in den historischen Quellen keine Belege. Viele Schriftstücke, die im neunzehnten Jahrhundert zu Gründungsdokumenten der Eidgenossenschaft verklärt wurden, waren bedeutend später entstanden.
Das haben C-14-Untersuchungen zweifelsfrei ergeben: "Selbst das Text-Allerheiligste der Schweiz, der Bundesbrief vom August 1291, ist auf diese Weise seines Ranges weitgehend verlustig gegangen." Einen mythologischen Umgang mit ihrer Geschichte betreibt die Schweiz seit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Die "geistige Landesverteidigung" als politisches Dogma verfestigte im Zeiten Weltkrieg das Selbstverständnis eines alleinstehenden, von Feinden umgebenen Landes. Es hat 1945 überlebt und den Kalten Krieg geprägt. Dass sich "die Schweiz aus der Geschichte verabschiedet hat", stellte an seinem Ende der Historiker Jean-Rudolph von Salis fest.
Als einziges Land der Welt feierte sie 1989 den Ausbruch des Weltkriegs fünfzig Jahre zuvor. Die Identitätskrise kam mit dem Fall der Berliner Mauer und stürzte die Schweiz in eine tiefe Depression. Deren Sinnbild bleibt die Selbstdarstellung auf der Weltausstellung 1992 unter dem Motto "La Suisse n'existe pas". Den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR lehnte das heillos zerstrittene Land ganz knapp ab, zwischen den Landesteilen tobte ein rhetorischer Bürgerkrieg. Schließlich geriet die Schweiz wegen ihres Verhaltens im Weltkrieg auf die Anklagebank der Weltöffentlichkeit. Zur Aufklärung ihrer Vergangenheit setzte sie die von Jean-François Bergier geleitete Historikerkommission ein.
Seit der Veröffentlichung ihres Schlussberichts gibt es in der Schweiz ein großes Bedürfnis nach neuen Darstellungen der nationalen Geschichte. Auf Französisch sind innerhalb kürzester Zeit mehrere Bücher erschienen. Neben Georges Andreys "Histoire de la Suisse pour les nuls" (First Verlag) mit mehreren zehntausend verkauften Exemplaren schaffte es auch die Journalistin Joëlle Kuntz auf die Bestsellerlisten. Ihre "Schweizer Geschichte - einmal anders" (Verlag Tobler) wurde auf Deutsch übersetzt und ist in zweiter Auflage erhältlich. Gleichzeitig publizierte der emeritierte Genfer Ideenhistoriker Alfred Berchtold eine Studie über den eidgenössischen "Widerstandskämpfer und Weltenbürger" ("Guillaume Tell", Editions Zoé). Sie ist auch ein Versuch, die traditionelle Geschichtsschreibung gegen die Demontage der Mythen zu verteidigen, ohne an die Legenden zu glauben.
2010 brachte Thomas Maissen - wie Volker Reinhardt - seine "Kleine Geschichte der Schweiz" (Verlag Hier und Jetzt) heraus. Sie wurde von Peter von Matt und der Kritik als Standardwerk gelobt. Maissen ist Schweizer und lehrt in Heidelberg, der Norddeutsche Reinhardt ist Professor an der Universität Fribourg. Beide Werke sind sehr stark auf die Gründungsmythen der helvetischen Geschichte konzentriert. Ihre Dekonstruktion war das epochale und konfliktträchtige Unterfangen der Nachkriegskultur - unter Beteiligung von Max Frisch. Jetzt ist sie fast offizielle Geschichte geworden.
"Nicht schon wieder!": Mit einem Stoßseufzer beginnt die Rezension von Volker Reinhardts drittem Streich in der "Neuen Zürcher Zeitung". Seine "Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute" ist plakativ aufgemacht und mehr als 500 Seiten lang, mit roten Titeln, bei jedem Kapitelanfang nickt das Matterhorn auf eineinhalb Seiten dem geneigten Leser zu. Auf dem Umschlag weht eine Schweizer Fahne im Wind. Das Cover des eleganten "kleinen" Essays - ohne Fußnoten und Anmerkungen - mit Schloss Chillon am Genfer See und den Alpen illustrierte wohl eher unbewusst einen Aspekt, der Reinhardt gegenüber Maissen auszeichnet: Er hat auf selbstverständlichere Art und Weise die gesamte Schweiz im Blick. In anderen Punkten ist seine Darstellung weniger ergiebig als jene des Kollegen.
Wie auch immer: "Den hochgesteckten Anspruch, ,die' Geschichte der Schweiz zu erzählen, löst er nicht ein", kritisiert die NZZ. Ihr Rezensent rügt die "schlecht reproduzierten, fast allesamt bereits vorliegenden Büchern entnommenen Abbildungen". Kurzum: "Solche Bücher könnten auch von Wissenschaftsjournalisten verfasst werden, vorausgesetzt natürlich, sie beherrschten das Handwerk und würden ausreichend finanziert." Der etwas merkwürdige Vergleich mit den Journalisten zielt auf die "Emigration zahlreicher akademischer und anderswie qualifizierter Arbeitskräfte in die Schweiz", Reinhardts Landsleute werden als Zielpublikum ausgemacht: "Leser, die mit der Materie wenig vertraut sind und wohl auch nicht allzu tief in diese eintauchen wollen." Ja, "dieses Buch wurde für einen deutschen Markt hergestellt" - auf welchem alle drei Schweiz-Titel des Historikers lieferbar sind.
Dass es auch für den Band "Schweiz" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt einen Markt geben möge, ist ihm sehr zu wünschen. Als Herausgeberin zeichnet Rita Schneider-Sliwa, die in Aachen studierte, in den Vereinigten Staaten arbeitete und heute an der Universität Basel wirkt. Sie hat zahlreiche Mitarbeiter gewinnen können, die glücklicherweise von akademischen Institutionen finanziert werden. Behandelt werden die traditionellen Bereiche der Länderkunde; den Alpen wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Banken. Den historischen Überblick, der Maissen und Reinhardt bestätigt, leistet Georg Kreis: "Geschichte der Schweiz - ein Mythos?" Kreis, Mitglied der Bergier-Kommission, befasst sich auch mit Europa: "Die Rechte (SVP) ist eine entschiedene Beitrittsgegnerin, die Linke ist eine engagierte Beitrittsbefürworterin, während die beiden Mitteparteien schwanken." Diese Einschätzung trifft nicht mehr wirklich zu.
Wichtiger allerdings ist, dass es auch den Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz nicht mehr gibt. Der Druck von außen hat das Land zusammengeschweißt wie einst im Krieg. Die Ablehnung Europas ist in den französischsprachigen Kantonen inzwischen genauso virulent. Und der Vormarsch der Mundart wird nicht mehr als nationales Ärgernis und Diskriminierung der Minderheiten bekämpft. Das exzellente Buch des in Berlin lebenden früheren Westschweizer TV-Korrespondenten und Chefredakteurs José Ribeaud ("La Suisse plurilingue se dégulingue", F.A.Z. von 7. Juni 2010) wurde von einem renommierten Verlag in Zürich vollständig übersetzt. Aber nicht veröffentlicht: Für die Kritik an der Deutschschweiz gäbe es weder Leser noch Käufer, wurde dem Autor beschieden.
Der Röschtigraben wird zugeschüttet, dafür errichtet die Schweiz rund ums ganze Land eine unsichtbare Sprach-Mauer: Mit dem Dialekt schottet sie sich nicht nur von Deutschland ab, Peer Steinbrück hatte den Indianern in ihrem "Réduit" mit der Kavallerie gedroht. Die Schweizerische Volkspartei will im einst separatistischen Jura die Mundart im frankophonen Kindergarten einführen. Für José Ribeau ist sie zum neuen eidgenössischen Tabu geworden: Die Kritik an ihr ist so unmöglich wie in früheren Zeiten jene an Wilhelm Tell. Sogar das Bankgeheimnis ist tot: Maissen datiert sein Ende auf den 13. März 2009. Volker Reinhardt sieht in seinem Schlusskapitel bereits die neuen Mythen blühen: das Rote Kreuz und der Gotthard. Er führt seine Datentafel bis zum Verbot neuer Minarette. "Die Schweiz ist sich einig über die Geschichte und überwiegend im Reinen mit ihr", stellt er fest: "Schulen und Medien vermitteln das Bild eines bruchlosen Verlaufs mit dem vorgegebenen Endziel der vollendeten Demokratie."
JÜRG ALTWEGG.
Volker Reinhardt: "Die Geschichte der Schweiz". Von den Anfängen bis heute.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 512 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
Rita Schneider-Sliwa (Hrsg.): "Schweiz". Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik.
WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 240 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der deutsche, in Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt räumt mit manchem Mythos der Schweiz auf, aber das gereicht den Schweizern gar nicht mal zum Nachteil, meint Rezensent Wolfgang Koydl. Nachdem die Schweizer 1515 eine Schlacht gegen die Franzosen verloren hatten, verlegten sie sich auf die "bewaffnete Neutralität", so Koydl, die viel mehr Geld einbrachte als das Kriegführen in eigenem Namen. Schweizer Söldner waren begehrt in ganz Europa! So lernten sie, dass Produkte sich nur gut verkaufen, wenn sie einmalig sind. Das mag für Söldner ebenso wie für Schokolade gelten. Aber vor allem wussten sie, wie man ein Staatsgebilde mit mehreren Sprache und Temperamenten funktionsfähig hält. Da könnte Europa einiges lehren, meint Koydl, und darum könnte Reinhardts Geschichte der Schweiz ein "Standardwerk" werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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