Produktdetails
- Verlag: DVA
- ISBN-13: 9783421050410
- ISBN-10: 3421050414
- Artikelnr.: 24376180
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Die Religion des Vielleicht
Ironie des Heils: Owen Chadwicks Geschichte des Christentums aus dem Geist der anglikanischen Kirche / Von Patrick Bahners
Die anglikanische Kirche hätte keine heilige Theresa hervorbringen können, bemerkt Lytton Strachey in seinem Essay über Mandell Creighton, den Gegenspieler Lord Actons im Werturteilsstreit der englischen Historiker. Die großen Gestalten der Kirche von England hätten sich durch weltliche Tugenden hervorgetan, durch Gelehrsamkeit und administrative Energie. Mit Creighton, dem Bischof von London und Historiker des mittelalterlichen Papsttums, sei diese Tradition vielleicht ausgestorben. Mit Bedacht hat der Spötter, der sonst jeden Totenschein unterzeichnete, hier einmal das "vielleicht" gesetzt, das man das anglikanische Adverb nennen könnte. Gott wandelt auf geheimnisvollen Wegen. Wer mit ihm rechnet, ist gut beraten, sich alle Optionen offenzuhalten.
In England lebt die weltkluge Gottesgelehrsamkeit noch, in der Person von Owen Chadwick. Wäre er ein Kirchenvater gewesen, dann wären die Philologen heute damit beschäftigt, die echten Schriften von den untergeschobenen zu trennen. Unmöglich scheint es, daß ein einzelner selbst während eines langen Lebens so viele gewichtige Werke verfassen kann. Epochendarstellungen und Biographien gehören zum Chadwickschen Corpus, der ideengeschichtliche Essay und die diplomatiehistorische Abhandlung. Aber der Kritik dürfte es schwerfallen, Deuterochadwick oder gar Pseudo-Chadwick von Chadwick zu unterscheiden. Aus allen unter seinem Namen verbreiteten Büchern hört man die Stimme desselben Erzählers heraus. Große Zusammenhänge reduziert er auf einfache Linien; an kleinen Begebenheiten entdeckt er komplizierte Muster. Er ist ein Freund der Parataxe.
In Chadwicks jüngstem Buch sind die Sätze so kurz und die Übergänge so zwanglos wie nie zuvor. Das Buch liest sich leicht, weil der Autor seinen Gegenstand nicht besser kennen könnte. Wenn er von Erzbischöfen und Dorfpfarrern, Päpsten und Atheisten sprach, hat er die Geschichte des Christentums ja immer schon miterzählt. Das neue Buch ist also eine Summe, gibt die Geschichte hinter den Geschichten. Es ist aber auch etwas ganz anderes als die bisherigen Bücher. Hier geraten Phänomene in den Blick, die dem Geschichtsforscher gewöhnlich entgehen, weil er zu genau hinsieht.
Die Methoden des Historikers sind Kritik und Verstehen. Er weist den Dingen ihren Platz in Raum und Zeit an. Er begreift, indem er begrenzt. Der christliche Glaube ist dagegen die Botschaft der Entgrenzung. Jesus Christus ist für alle Menschen gestorben. Wer diese Wahrheit aus ihren historischen Bedingungen erklärt, aus Hoffnungen und Befürchtungen jüdischer Sekten im Römischen Reich, mag sie verstehen oder kritisieren. Fassen wird er sie nicht.
Die Universalität der christlichen Botschaft ist in theologischen und juristischen Begriffen formuliert worden, die die jüdische Religion und der römische Staat vorgaben. Allen diesen Buchstaben ist aber ihr besonderer Ursprung anzusehen. Der Geist, dessen Wirken ohne Anfang und ohne Ende ist, weht am kräftigsten vielleicht in einer Sprache, die der Vernunft und damit auch der Wissenschaft spottet: in der mystischen Rede. Der Mystiker erfährt die Entgrenzung, die der Inhalt des christlichen Dogmas ist, am eigenen Leib. Wären alle Christen Mystiker, hätte das Christentum keine Geschichte. Die mystische Kommunion mit Gott ereignet sich außerhalb der Zeit.
Das Erinnerungsmahl, das Jesus eingesetzt hat, wird dagegen in der Zeit gefeiert, an einem bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden Tag. Die Christen wissen, daß sie an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit leben. Für die Verkündigung des Evangeliums ist dieses Wissen nicht gleichgültig. Würden sie nicht im lokalen Dialekt und in der Sprache der Zeit reden, würde niemand sie anhören. Nicht erst ungläubige Wissenschaftler, sondern die Christen selbst haben die Geschichte des Christentums geschrieben. Ihr vornehmster Gegenstand ist die Bekehrung der Völker. Aber die Kirchenhistoriker begleitet der Verdacht, daß das Wichtigste nicht in ihren Büchern stehen kann. Das Schlachtfeld ist nicht die Welt, sondern die Seele.
Die Erinnerung an den englischen Bürgerkrieg des siebzehnten Jahrhunderts erklärt, warum die Mystik kaum Spuren in der anglikanischen Frömmigkeit hinterlassen hat. Auf individuelle Inspiration durch den Heiligen Geist beriefen sich damals die Feinde der Ordnung in Kirche und Staat. Anglikanischen Bischöfen konnte man nachsagen, daß sie das Evangelium ohne Enthusiasmus predigten. Sie mißtrauten der Begeisterung und suchten den Geist lieber in der rationalen Welterklärung und in der vernünftigen Verwaltung. Selbst die Reaktion gegen den Rationalismus im neunzehnten Jahrhundert hielt das Gefühl in den Schranken von Ritual und Tradition.
Owen Chadwick hat ein Interesse am Gewaltsamen und Unmittelbaren der religiösen Erfahrung, an Ekstase, Zungenrede und Wunderheilung, das man unanglikanisch nennen könnte, wäre diese ökumenische Unbefangenheit nicht wieder gut anglikanisch.
Der christliche Historiker bejubelt die Triumphe der Kirche nicht. Eher schickt er sich in die Unvermeidlichkeit einer Institution, die sich nach weltlichen Gesetzen richten muß, solange Christus nicht wiederkehrt. Gäbe es die gelehrte Sorge um Schrift und Tradition und die organisierte Verkündigung und Seelsorge nicht, wäre die Geschichte des Christentums am Ende. Doch Wissenschaft und Administration sind nicht unbedenklich. Sie fördern einen geistigen Habitus, der vom Unerhörten nichts hören will.
Der Wissenschaftler Chadwick demonstriert in diesem Buch eine erhabene Objektivität. Jedes Problem hat zwei Seiten. Für den Zölibat ist etwas zu sagen und für die Ehe, für die Reformation und für die Gegenreformation, für die Macht und für die Herrlichkeit. Die repräsentative Bildauswahl verstärkt den Eindruck, daß hier eine Vulgata der Kirchengeschichte vorliegt, die an allen Enden des Erdkreises mit gleicher Zustimmung gelesen werden kann.
Und doch haben wir es mit einem sehr persönlichen Buch zu tun. Das erkennt man gerade daran, daß der Autor an jenen Gegenständen vorübereilt, bei denen er sonst mit Vorliebe verweilt. Es ist, als wollte der Christ Abbitte leisten für den Historiker, als sollten jene Dimensionen christlicher Existenz ihr Recht bekommen, die die Geschichte der Dogmen und Institute verfehlt. Frappierend ist, daß von Theologie kaum die Rede ist. Newman wird als Dichter aufgerufen, Barth als Kopf der Bekennenden Kirche. Thomas von Aquin kommt gar nicht vor.
Der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft verliert seine Dramatik. Voltaire wird unter die Reformatoren aufgenommen. Die Säkularisierung des europäischen Geistes im neunzehnten Jahrhundert erscheint beinahe als kleine örtliche Schwierigkeit, hält man sie neben die Fortschritte der Mission in der außereuropäischen Welt. Den Missionaren fehlte die Sicherheit der Organisation und die Zeit für die Gelehrsamkeit. Sie hatten nur den Glauben.
Als im Frühjahr in London eine Ausstellung über David Livingstone zu sehen war, wurde in der Presse höhnisch vermerkt, daß der Doktor nur einen einzigen Konvertiten gewann und daß dieser auch noch abfiel. Chadwick erinnert daran, daß Livingstone ein Beispiel setzte. Das Weizenkorn hat reiche Frucht gebracht. Dank der Christianisierung Afrikas gibt es heute so viele Christen wie nie zuvor. Chadwicks Pointen ergeben sich zwanglos aus der Erzählung; leicht kann man übersehen, daß dieser Ireniker das Kontroverse nicht scheut. Die Mission ist gerade in der anglikanischen Kirche nicht unumstritten. Ein früherer Erzbischof von York hat gesagt, es gehöre sich nicht, einem Menschen den Glauben zu nehmen, in dem er aufgewachsen ist.
Wie der Papst erwartet Chadwick, daß eine Erneuerung des Christentums aus den jungen Kirchen kommen muß. Allerdings gibt er sich nicht der Hoffnung hin, die Trompeten der Enthusiasten würden die Mauern von Amtskirche und Theologie zum Einsturz bringen. Die Geschichte lehrt, daß charismatische Bewegungen mit der Zeit Strukturen ausbilden und Bücher produzieren. Aber sie erinnern die Kirchen daran, daß die Amtsbezirke ihrer Funktionäre und die Geltungsbereiche ihrer Lehrbegriffe nur ein größeres, grenzenloses Reich vertreten. Vom Geist des Oxford Movement, der katholischen Reformbewegung in der anglikanischen Kirche, sind nach Chadwicks Darstellung nicht die Bannflüche gegen den Liberalismus lebendig geblieben, sondern ein paar Kirchenlieder.
Chadwicks Geschichte des Christentums ist reich an solchen unerwarteten Resultaten. Mandell Creighton wollte die Kirchengeschichte zu einer exakten Disziplin machen. Aber je präziser die Wissenschaft die Geschehnisse datierte und lokalisierte, desto mehr verlor sie die Geschichte aus den Augen. Vom großen Auftrag der Kirche blieben die kleinen Absichten der Kirchenmänner.
Chadwick geht frei mit der Chronologie um, springt vor und zurück. Er legt die Ereignisse nicht nach ihren Daten auseinander, sondern läßt sie ineinandergreifen. Der Leser erhält den Eindruck, daß die Kirche immer in Bewegung ist. Kaum wird ein Problem sichtbar, da erscheint schon die Lösung, auch wenn die Zeitgenossen sie zunächst nicht bemerken. Der christliche Historiker ist ein Ironiker; das Heil entdeckt er in den Nebenfolgen. Das alles ist bei Chadwick nur dezent angedeutet. Vor der trügerischen Rationalität der expliziten Theodizee warnt Voltaire. Wer an Christus glaubt, braucht es mit den Dingen dieser Welt nicht so genau zu nehmen. Vom wichtigsten Ereignis der Weltgeschichte kennt er weder den Tag noch die Stunde.
Owen Chadwick: "Die Geschichte des Christentums". Aus dem Englischen von Friederike Börner und Cäcilie Plieninger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 304 S., 204 Farb- u. S/W-Abb., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ironie des Heils: Owen Chadwicks Geschichte des Christentums aus dem Geist der anglikanischen Kirche / Von Patrick Bahners
Die anglikanische Kirche hätte keine heilige Theresa hervorbringen können, bemerkt Lytton Strachey in seinem Essay über Mandell Creighton, den Gegenspieler Lord Actons im Werturteilsstreit der englischen Historiker. Die großen Gestalten der Kirche von England hätten sich durch weltliche Tugenden hervorgetan, durch Gelehrsamkeit und administrative Energie. Mit Creighton, dem Bischof von London und Historiker des mittelalterlichen Papsttums, sei diese Tradition vielleicht ausgestorben. Mit Bedacht hat der Spötter, der sonst jeden Totenschein unterzeichnete, hier einmal das "vielleicht" gesetzt, das man das anglikanische Adverb nennen könnte. Gott wandelt auf geheimnisvollen Wegen. Wer mit ihm rechnet, ist gut beraten, sich alle Optionen offenzuhalten.
In England lebt die weltkluge Gottesgelehrsamkeit noch, in der Person von Owen Chadwick. Wäre er ein Kirchenvater gewesen, dann wären die Philologen heute damit beschäftigt, die echten Schriften von den untergeschobenen zu trennen. Unmöglich scheint es, daß ein einzelner selbst während eines langen Lebens so viele gewichtige Werke verfassen kann. Epochendarstellungen und Biographien gehören zum Chadwickschen Corpus, der ideengeschichtliche Essay und die diplomatiehistorische Abhandlung. Aber der Kritik dürfte es schwerfallen, Deuterochadwick oder gar Pseudo-Chadwick von Chadwick zu unterscheiden. Aus allen unter seinem Namen verbreiteten Büchern hört man die Stimme desselben Erzählers heraus. Große Zusammenhänge reduziert er auf einfache Linien; an kleinen Begebenheiten entdeckt er komplizierte Muster. Er ist ein Freund der Parataxe.
In Chadwicks jüngstem Buch sind die Sätze so kurz und die Übergänge so zwanglos wie nie zuvor. Das Buch liest sich leicht, weil der Autor seinen Gegenstand nicht besser kennen könnte. Wenn er von Erzbischöfen und Dorfpfarrern, Päpsten und Atheisten sprach, hat er die Geschichte des Christentums ja immer schon miterzählt. Das neue Buch ist also eine Summe, gibt die Geschichte hinter den Geschichten. Es ist aber auch etwas ganz anderes als die bisherigen Bücher. Hier geraten Phänomene in den Blick, die dem Geschichtsforscher gewöhnlich entgehen, weil er zu genau hinsieht.
Die Methoden des Historikers sind Kritik und Verstehen. Er weist den Dingen ihren Platz in Raum und Zeit an. Er begreift, indem er begrenzt. Der christliche Glaube ist dagegen die Botschaft der Entgrenzung. Jesus Christus ist für alle Menschen gestorben. Wer diese Wahrheit aus ihren historischen Bedingungen erklärt, aus Hoffnungen und Befürchtungen jüdischer Sekten im Römischen Reich, mag sie verstehen oder kritisieren. Fassen wird er sie nicht.
Die Universalität der christlichen Botschaft ist in theologischen und juristischen Begriffen formuliert worden, die die jüdische Religion und der römische Staat vorgaben. Allen diesen Buchstaben ist aber ihr besonderer Ursprung anzusehen. Der Geist, dessen Wirken ohne Anfang und ohne Ende ist, weht am kräftigsten vielleicht in einer Sprache, die der Vernunft und damit auch der Wissenschaft spottet: in der mystischen Rede. Der Mystiker erfährt die Entgrenzung, die der Inhalt des christlichen Dogmas ist, am eigenen Leib. Wären alle Christen Mystiker, hätte das Christentum keine Geschichte. Die mystische Kommunion mit Gott ereignet sich außerhalb der Zeit.
Das Erinnerungsmahl, das Jesus eingesetzt hat, wird dagegen in der Zeit gefeiert, an einem bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden Tag. Die Christen wissen, daß sie an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit leben. Für die Verkündigung des Evangeliums ist dieses Wissen nicht gleichgültig. Würden sie nicht im lokalen Dialekt und in der Sprache der Zeit reden, würde niemand sie anhören. Nicht erst ungläubige Wissenschaftler, sondern die Christen selbst haben die Geschichte des Christentums geschrieben. Ihr vornehmster Gegenstand ist die Bekehrung der Völker. Aber die Kirchenhistoriker begleitet der Verdacht, daß das Wichtigste nicht in ihren Büchern stehen kann. Das Schlachtfeld ist nicht die Welt, sondern die Seele.
Die Erinnerung an den englischen Bürgerkrieg des siebzehnten Jahrhunderts erklärt, warum die Mystik kaum Spuren in der anglikanischen Frömmigkeit hinterlassen hat. Auf individuelle Inspiration durch den Heiligen Geist beriefen sich damals die Feinde der Ordnung in Kirche und Staat. Anglikanischen Bischöfen konnte man nachsagen, daß sie das Evangelium ohne Enthusiasmus predigten. Sie mißtrauten der Begeisterung und suchten den Geist lieber in der rationalen Welterklärung und in der vernünftigen Verwaltung. Selbst die Reaktion gegen den Rationalismus im neunzehnten Jahrhundert hielt das Gefühl in den Schranken von Ritual und Tradition.
Owen Chadwick hat ein Interesse am Gewaltsamen und Unmittelbaren der religiösen Erfahrung, an Ekstase, Zungenrede und Wunderheilung, das man unanglikanisch nennen könnte, wäre diese ökumenische Unbefangenheit nicht wieder gut anglikanisch.
Der christliche Historiker bejubelt die Triumphe der Kirche nicht. Eher schickt er sich in die Unvermeidlichkeit einer Institution, die sich nach weltlichen Gesetzen richten muß, solange Christus nicht wiederkehrt. Gäbe es die gelehrte Sorge um Schrift und Tradition und die organisierte Verkündigung und Seelsorge nicht, wäre die Geschichte des Christentums am Ende. Doch Wissenschaft und Administration sind nicht unbedenklich. Sie fördern einen geistigen Habitus, der vom Unerhörten nichts hören will.
Der Wissenschaftler Chadwick demonstriert in diesem Buch eine erhabene Objektivität. Jedes Problem hat zwei Seiten. Für den Zölibat ist etwas zu sagen und für die Ehe, für die Reformation und für die Gegenreformation, für die Macht und für die Herrlichkeit. Die repräsentative Bildauswahl verstärkt den Eindruck, daß hier eine Vulgata der Kirchengeschichte vorliegt, die an allen Enden des Erdkreises mit gleicher Zustimmung gelesen werden kann.
Und doch haben wir es mit einem sehr persönlichen Buch zu tun. Das erkennt man gerade daran, daß der Autor an jenen Gegenständen vorübereilt, bei denen er sonst mit Vorliebe verweilt. Es ist, als wollte der Christ Abbitte leisten für den Historiker, als sollten jene Dimensionen christlicher Existenz ihr Recht bekommen, die die Geschichte der Dogmen und Institute verfehlt. Frappierend ist, daß von Theologie kaum die Rede ist. Newman wird als Dichter aufgerufen, Barth als Kopf der Bekennenden Kirche. Thomas von Aquin kommt gar nicht vor.
Der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft verliert seine Dramatik. Voltaire wird unter die Reformatoren aufgenommen. Die Säkularisierung des europäischen Geistes im neunzehnten Jahrhundert erscheint beinahe als kleine örtliche Schwierigkeit, hält man sie neben die Fortschritte der Mission in der außereuropäischen Welt. Den Missionaren fehlte die Sicherheit der Organisation und die Zeit für die Gelehrsamkeit. Sie hatten nur den Glauben.
Als im Frühjahr in London eine Ausstellung über David Livingstone zu sehen war, wurde in der Presse höhnisch vermerkt, daß der Doktor nur einen einzigen Konvertiten gewann und daß dieser auch noch abfiel. Chadwick erinnert daran, daß Livingstone ein Beispiel setzte. Das Weizenkorn hat reiche Frucht gebracht. Dank der Christianisierung Afrikas gibt es heute so viele Christen wie nie zuvor. Chadwicks Pointen ergeben sich zwanglos aus der Erzählung; leicht kann man übersehen, daß dieser Ireniker das Kontroverse nicht scheut. Die Mission ist gerade in der anglikanischen Kirche nicht unumstritten. Ein früherer Erzbischof von York hat gesagt, es gehöre sich nicht, einem Menschen den Glauben zu nehmen, in dem er aufgewachsen ist.
Wie der Papst erwartet Chadwick, daß eine Erneuerung des Christentums aus den jungen Kirchen kommen muß. Allerdings gibt er sich nicht der Hoffnung hin, die Trompeten der Enthusiasten würden die Mauern von Amtskirche und Theologie zum Einsturz bringen. Die Geschichte lehrt, daß charismatische Bewegungen mit der Zeit Strukturen ausbilden und Bücher produzieren. Aber sie erinnern die Kirchen daran, daß die Amtsbezirke ihrer Funktionäre und die Geltungsbereiche ihrer Lehrbegriffe nur ein größeres, grenzenloses Reich vertreten. Vom Geist des Oxford Movement, der katholischen Reformbewegung in der anglikanischen Kirche, sind nach Chadwicks Darstellung nicht die Bannflüche gegen den Liberalismus lebendig geblieben, sondern ein paar Kirchenlieder.
Chadwicks Geschichte des Christentums ist reich an solchen unerwarteten Resultaten. Mandell Creighton wollte die Kirchengeschichte zu einer exakten Disziplin machen. Aber je präziser die Wissenschaft die Geschehnisse datierte und lokalisierte, desto mehr verlor sie die Geschichte aus den Augen. Vom großen Auftrag der Kirche blieben die kleinen Absichten der Kirchenmänner.
Chadwick geht frei mit der Chronologie um, springt vor und zurück. Er legt die Ereignisse nicht nach ihren Daten auseinander, sondern läßt sie ineinandergreifen. Der Leser erhält den Eindruck, daß die Kirche immer in Bewegung ist. Kaum wird ein Problem sichtbar, da erscheint schon die Lösung, auch wenn die Zeitgenossen sie zunächst nicht bemerken. Der christliche Historiker ist ein Ironiker; das Heil entdeckt er in den Nebenfolgen. Das alles ist bei Chadwick nur dezent angedeutet. Vor der trügerischen Rationalität der expliziten Theodizee warnt Voltaire. Wer an Christus glaubt, braucht es mit den Dingen dieser Welt nicht so genau zu nehmen. Vom wichtigsten Ereignis der Weltgeschichte kennt er weder den Tag noch die Stunde.
Owen Chadwick: "Die Geschichte des Christentums". Aus dem Englischen von Friederike Börner und Cäcilie Plieninger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 304 S., 204 Farb- u. S/W-Abb., geb., 98,- DM.
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