Im März 1900 wird in der ländlichen Kleinstadt Konitz am östlichen Ende des Deutschen Reiches der Torso des 18jährigen Ernst Winter unter dem Eis entdeckt. Weitere Körperteile des brutal ermordeten Jungen werden in den darauffolgenden Tagen gefunden. Bald konzentrieren sich die Verdächtigungen auf den jüdischen Schlachter, und Ritualmordsvorwürfe werden laut. Die Stadt explodiert in antisemitischer Wut, so daß die Lokalbehörden das Militär zu Hilfe rufen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.
Die Unruhen in Konitz, der schwerste Ausbruch antisemitischer Gewalt im wilhelminischen Deutschland, ermöglichen heute einen einzigartigen Blick auf lokale Muster des Antisemitismus.
Helmut Walser Smith macht anhand von Dokumenten deutlich, wie ein Ensemble unterschiedlichster Vorurteile - über Juden, soziale Klassen, Sexualität und das Denken von Verbrechern - die Ermittlungen beeinträchtigte und blind machte für die Identität des wirklichen Mörders.
Die Unruhen in Konitz, der schwerste Ausbruch antisemitischer Gewalt im wilhelminischen Deutschland, ermöglichen heute einen einzigartigen Blick auf lokale Muster des Antisemitismus.
Helmut Walser Smith macht anhand von Dokumenten deutlich, wie ein Ensemble unterschiedlichster Vorurteile - über Juden, soziale Klassen, Sexualität und das Denken von Verbrechern - die Ermittlungen beeinträchtigte und blind machte für die Identität des wirklichen Mörders.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein schöner Zufall: Zwei Wissenschaftler arbeiten gleichzeitig am gleichen Thema. Der Trierer Historiker Christoph Nonn sowie der Amerikaner Helmut Walser Smith untersuchen einen Mordfall im Kaiserreich, der antisemitische Ausschreitungen zur Folge hatte. Beide Bücher sind akribisch recherchiert, pflegen die direkte Rede, haben unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und kommen teilweise zu verschiedenen Schlüssen. Gangolf Hübinger stellt sie vor.
Zunächst liefert Hübinger die Basisdaten zum sogenannten "Konitz-Mord". In dem westpreußischen Städtchen wurde im Jahr 1900 die zerstückelte Leiche eines Gymnasiasten aufgefunden, der Mordfall konnte nie richtig geklärt werden. Während die Polizei im Dunkeln tappte, wurden in Windeseile antisemitische Stereotypen virulent, es kam zu einer antijüdischen Hetzkampagne und Ausschreitungen, viele jüdische Einwohner zogen fort. Hübinger zufolge arbeitet Nonn in seinem Buch "Eine Stadt sucht einen Mörder" die wirtschafts- und politikgeschichtlichen Aspekte des Themas auf; ihn interessiert die soziale Kraft des Gerüchtes, die Bereitschaft zur Denunziation, er analysiert die politische Konstellation (kurz vor einer Landtagswahl) und berücksichtigt die ökonomische Schere, die die Agrarregion ins Abseits drängte. Nonn, resümiert Hübinger, sieht Konitz, auch wenn es von ihm klar als antisemitischer Vorgang behandelt wird, nicht als "Meilenstein auf dem Weg nach Auschwitz". Für ihn beruhe das Amalgam aus sozialen Härten und mentalem Klima eher auf anthropologischen Konstanten.
Anders als bei seinem Kollegen Nonn, mit dem sich Helmut Walser Smith in der Frühphase der Arbeit auch ausgetauscht hat und auf dessen methodisch anders gewichtete Arbeit er fairerweise sogar verweist, wie Gangolf Hübinger berichtet, stellt Smith in "Die Geschichte des Schlachters" den Konitz-Mord sehr wohl in einen Kontinuitätszusammenhang mit der Geschichte des Dritten Reiches, auch wenn die Konitzer Juden durch das Einschreiten des preußischen Militärs geschützt wurden. Smith nähert sich seinem Fall ganz anders, so Hübinger: Er berichtet aus der Perspektive eines der Beteiligten, der verdächtig war, den Verdacht von sich abzulenken. Durch diesen Kunstgriff können die antijüdischen Stereotypen noch einmal durchgespielt werden, erklärt Hübinger, denen Smith mit eher literaturwissenschaftlichen Kategorien zu Leibe rücke und die er kulturgeschichtlich verdrahte: von der mittelalterlichen Transsubstantiationslehre zum modernen Antisemitismus. Für Smith ist der Befund klar, sagt der Rezensent, sein Stufenmodell der kleinstädtischen Kollektiverzählung und Mythenbildung überzeuge. Smith plädiere - darin mit seinem Kollege Nonn einig - dafür, die Unterscheidung zwischen altem Antijudaismus und modernen Antisemitismus endlich fallen zu lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
Zunächst liefert Hübinger die Basisdaten zum sogenannten "Konitz-Mord". In dem westpreußischen Städtchen wurde im Jahr 1900 die zerstückelte Leiche eines Gymnasiasten aufgefunden, der Mordfall konnte nie richtig geklärt werden. Während die Polizei im Dunkeln tappte, wurden in Windeseile antisemitische Stereotypen virulent, es kam zu einer antijüdischen Hetzkampagne und Ausschreitungen, viele jüdische Einwohner zogen fort. Hübinger zufolge arbeitet Nonn in seinem Buch "Eine Stadt sucht einen Mörder" die wirtschafts- und politikgeschichtlichen Aspekte des Themas auf; ihn interessiert die soziale Kraft des Gerüchtes, die Bereitschaft zur Denunziation, er analysiert die politische Konstellation (kurz vor einer Landtagswahl) und berücksichtigt die ökonomische Schere, die die Agrarregion ins Abseits drängte. Nonn, resümiert Hübinger, sieht Konitz, auch wenn es von ihm klar als antisemitischer Vorgang behandelt wird, nicht als "Meilenstein auf dem Weg nach Auschwitz". Für ihn beruhe das Amalgam aus sozialen Härten und mentalem Klima eher auf anthropologischen Konstanten.
Anders als bei seinem Kollegen Nonn, mit dem sich Helmut Walser Smith in der Frühphase der Arbeit auch ausgetauscht hat und auf dessen methodisch anders gewichtete Arbeit er fairerweise sogar verweist, wie Gangolf Hübinger berichtet, stellt Smith in "Die Geschichte des Schlachters" den Konitz-Mord sehr wohl in einen Kontinuitätszusammenhang mit der Geschichte des Dritten Reiches, auch wenn die Konitzer Juden durch das Einschreiten des preußischen Militärs geschützt wurden. Smith nähert sich seinem Fall ganz anders, so Hübinger: Er berichtet aus der Perspektive eines der Beteiligten, der verdächtig war, den Verdacht von sich abzulenken. Durch diesen Kunstgriff können die antijüdischen Stereotypen noch einmal durchgespielt werden, erklärt Hübinger, denen Smith mit eher literaturwissenschaftlichen Kategorien zu Leibe rücke und die er kulturgeschichtlich verdrahte: von der mittelalterlichen Transsubstantiationslehre zum modernen Antisemitismus. Für Smith ist der Befund klar, sagt der Rezensent, sein Stufenmodell der kleinstädtischen Kollektiverzählung und Mythenbildung überzeuge. Smith plädiere - darin mit seinem Kollege Nonn einig - dafür, die Unterscheidung zwischen altem Antijudaismus und modernen Antisemitismus endlich fallen zu lassen.
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"Sozial- und Kulturgeschichte in ihrer Bestform." (Peter Gay)