Sie heißt Kazue und verdankt ihre Schönheit der Puderdose. Üppig aufgetragene Schminke verhilft ihr zu Selbstbewußtsein und dem Gefühl von Freiheit. So gestärkt, stürzt sie sich in erotische Abenteuer. Unter der blassen Maske fühlt sie sich geschützt vor der Welt und tut, was sie will. Was sie nicht will, ist heiraten. Ein Skandal, denn Kazue, gebildet und aus guter Familie, wächst im Japan der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf. Der Vater befiehlt, das Kind folgt - "ein getreues Abbild des Rituals zwischen Herr und Gefolgsmann". Als der Vater stirbt, löst sich die alte Ordnung auf. Kazue wird zu der "gewissen Frau", die sich allen Regeln entzieht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.1995Vergessen besiegt Erinnerung
Uno Chiyo erzählt die "Geschichte einer gewissen Frau"
Sie heißt Kazue und verdankt ihre Schönheit der Puderdose. Üppig aufgetragene Schminke verhilft ihr zu Selbstbewußtsein und dem Gefühl von Freiheit. So gestärkt, stürzt sie sich in erotische Abenteuer. Unter der blassen Maske fühlt sie sich geschützt vor der Welt und tut, was sie will; was sie nicht will, ist heiraten. Ein Skandal, denn Kazue, gebildet und aus guter Familie, wächst im Japan der zwanziger Jahre auf. Uno Chiyos "Geschichte einer gewissen Frau" läßt sich vordergründig als die einer Emanzipation lesen - mit offenem Ende.
Wir begegnen Kazue zuerst als kleinem Mädchen, das seine Erinnerung an die frühverstorbene Mutter verloren hat. Ihrem Vater ist sie ergeben. Der Vater aber führt, das Geld seiner reichen Verwandten verprassend, ein ausschweifendes Leben, ist herrisch, launenhaft und verschlossen. Sie nimmt es ganz selbstverständlich hin "wie Regen und Wind". Der Vater bleibt über viele Jahre, auch über seinen Tod hinaus, die beherrschende Figur ihres Lebens. Es scheint, als befreite sie sich von seinen tyrannischen Geboten. Aber wie so vieles in dieser Geschichte ist auch das unsicher. Denn zugleich wird Kazue, wie sie erkennt, dem Vater immer ähnlicher.
Man könnte Kazue als Bohemienne bezeichnen, aber sie empfindet sich nicht so. Ohne eigentlichen Vorsatz führt sie ein Vagabundenleben, gesäumt von zahllosen Männerbekanntschaften und wechselnden Gelegenheitsarbeiten, die sie schließlich zur Schriftstellerei führen. Die ist keine große Sache für sie, nur ein Broterwerb.
Historische Zeit und Umstände spielen in Uno Chiyos Erzählung keine besondere Rolle. Die Selbstverständlichkeit, mit der die "gewisse Frau" die gesellschaftlichen Erwartungen abstreift, entspringt weniger dem Geist einer neuen Ära als vielmehr ihrem Wesen. Ihm allein spürt die Geschichte vorsichtig tastend nach.
Über das Leben der jungen Kazue gibt sie selbst als alte Frau Auskunft. Uno Chiyo manövriert virtuos zwischen den Perspektiven der sorglos nach vorne blickenden jungen Frau und der alten, die zurückdenkt, ohne etwas zu beschönigen. Was aber die junge mit der alten Kazue verbindet: Nie wird die Vergangenheit als die bessere Zeit gepriesen. Die Erzählerin sieht vieles deutlicher als zum Zeitpunkt des Geschehens; manches verschweigt sie; anderes ist ihr nicht mehr gegenwärtig. Häufig stellt sie Fragen, die uns in die Rekonstruktion der vergessenen Zeit einbeziehen. So versetzt die Autorin den Leser in die Perspektive dessen, der das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet. Er müßte urteilen können, aber er kann es nicht. Manchmal gibt die alte Kazue die notwendige Auskunft, manchmal aber ist es ihr nicht möglich, und an anderer Stelle bleiben wesentliche Details der Handlung bewußt im dunkeln.
Die Sprache Uno Chiyos, die, inzwischen siebenundneunzig Jahre alt, als gefeierte Doyenne unter den Schriftstellerinnen Japans gilt, ist einfach und klar. Dies und die Zügigkeit des Erzählens verführen dazu, das Buch rasch zu lesen, es aus der Hand zu legen und sich dann erst seiner kunstvoll plazierten Stolpersteine bewußt zu werden. Denn vielleicht läßt uns die Erzählerin über manches im unklaren, weil wir nur so viel erfahren sollen, wie wir auch in der Realität von einer Geschichte erfahren würden: nämlich immer nur einen Bruchteil. Die Erzählung ist wie ein Bild, auf dem Figuren und Gegenstände deutlich erkennbar sind, deren Beziehungen zueinander aber nicht restlos geklärt werden können - oder sollen.
Das ist die Magie dieser Geschichte. Sie akzentuiert das Vergessen stärker als die Erinnerung. Sie zeigt, wie die Zeit alles relativiert, auch die großen Gefühle. Das ist nicht neu in der Literatur. Aber Uno Chiyo beherrscht die Kunst der Andeutung. Und so steckt hinter dem Gestus des Schlichten, fast Naiven in Wahrheit ein besonderes Raffinement. MARION LÖHNDORF
Uno Chiyo: "Die Geschichte einer gewissen Frau". Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Barbara Yoshida-Krafft. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1994. 164 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uno Chiyo erzählt die "Geschichte einer gewissen Frau"
Sie heißt Kazue und verdankt ihre Schönheit der Puderdose. Üppig aufgetragene Schminke verhilft ihr zu Selbstbewußtsein und dem Gefühl von Freiheit. So gestärkt, stürzt sie sich in erotische Abenteuer. Unter der blassen Maske fühlt sie sich geschützt vor der Welt und tut, was sie will; was sie nicht will, ist heiraten. Ein Skandal, denn Kazue, gebildet und aus guter Familie, wächst im Japan der zwanziger Jahre auf. Uno Chiyos "Geschichte einer gewissen Frau" läßt sich vordergründig als die einer Emanzipation lesen - mit offenem Ende.
Wir begegnen Kazue zuerst als kleinem Mädchen, das seine Erinnerung an die frühverstorbene Mutter verloren hat. Ihrem Vater ist sie ergeben. Der Vater aber führt, das Geld seiner reichen Verwandten verprassend, ein ausschweifendes Leben, ist herrisch, launenhaft und verschlossen. Sie nimmt es ganz selbstverständlich hin "wie Regen und Wind". Der Vater bleibt über viele Jahre, auch über seinen Tod hinaus, die beherrschende Figur ihres Lebens. Es scheint, als befreite sie sich von seinen tyrannischen Geboten. Aber wie so vieles in dieser Geschichte ist auch das unsicher. Denn zugleich wird Kazue, wie sie erkennt, dem Vater immer ähnlicher.
Man könnte Kazue als Bohemienne bezeichnen, aber sie empfindet sich nicht so. Ohne eigentlichen Vorsatz führt sie ein Vagabundenleben, gesäumt von zahllosen Männerbekanntschaften und wechselnden Gelegenheitsarbeiten, die sie schließlich zur Schriftstellerei führen. Die ist keine große Sache für sie, nur ein Broterwerb.
Historische Zeit und Umstände spielen in Uno Chiyos Erzählung keine besondere Rolle. Die Selbstverständlichkeit, mit der die "gewisse Frau" die gesellschaftlichen Erwartungen abstreift, entspringt weniger dem Geist einer neuen Ära als vielmehr ihrem Wesen. Ihm allein spürt die Geschichte vorsichtig tastend nach.
Über das Leben der jungen Kazue gibt sie selbst als alte Frau Auskunft. Uno Chiyo manövriert virtuos zwischen den Perspektiven der sorglos nach vorne blickenden jungen Frau und der alten, die zurückdenkt, ohne etwas zu beschönigen. Was aber die junge mit der alten Kazue verbindet: Nie wird die Vergangenheit als die bessere Zeit gepriesen. Die Erzählerin sieht vieles deutlicher als zum Zeitpunkt des Geschehens; manches verschweigt sie; anderes ist ihr nicht mehr gegenwärtig. Häufig stellt sie Fragen, die uns in die Rekonstruktion der vergessenen Zeit einbeziehen. So versetzt die Autorin den Leser in die Perspektive dessen, der das Geschehen aus nächster Nähe beobachtet. Er müßte urteilen können, aber er kann es nicht. Manchmal gibt die alte Kazue die notwendige Auskunft, manchmal aber ist es ihr nicht möglich, und an anderer Stelle bleiben wesentliche Details der Handlung bewußt im dunkeln.
Die Sprache Uno Chiyos, die, inzwischen siebenundneunzig Jahre alt, als gefeierte Doyenne unter den Schriftstellerinnen Japans gilt, ist einfach und klar. Dies und die Zügigkeit des Erzählens verführen dazu, das Buch rasch zu lesen, es aus der Hand zu legen und sich dann erst seiner kunstvoll plazierten Stolpersteine bewußt zu werden. Denn vielleicht läßt uns die Erzählerin über manches im unklaren, weil wir nur so viel erfahren sollen, wie wir auch in der Realität von einer Geschichte erfahren würden: nämlich immer nur einen Bruchteil. Die Erzählung ist wie ein Bild, auf dem Figuren und Gegenstände deutlich erkennbar sind, deren Beziehungen zueinander aber nicht restlos geklärt werden können - oder sollen.
Das ist die Magie dieser Geschichte. Sie akzentuiert das Vergessen stärker als die Erinnerung. Sie zeigt, wie die Zeit alles relativiert, auch die großen Gefühle. Das ist nicht neu in der Literatur. Aber Uno Chiyo beherrscht die Kunst der Andeutung. Und so steckt hinter dem Gestus des Schlichten, fast Naiven in Wahrheit ein besonderes Raffinement. MARION LÖHNDORF
Uno Chiyo: "Die Geschichte einer gewissen Frau". Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Barbara Yoshida-Krafft. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1994. 164 S., geb., 39,80 DM.
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