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Während der letzten 400 Jahre haben Historiker in wachsendem Maße Gebrauch von Bildquellen gemacht, um die Vergangenheit zu verstehen. Umfassend, lebendig, anschaulich und im besten Sinne gelehrt, bietet Francis Haskell hier erstmals eine Geschichte der 'Entdeckung' und des 'Gebrauchs' von Bildzeugnissen durch die Geschichtswissenschaften - von den Antiquaren des 15. bis zu den Kulturhistorikern des frühen 20. Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
Während der letzten 400 Jahre haben Historiker in wachsendem Maße Gebrauch von Bildquellen gemacht, um die Vergangenheit zu verstehen. Umfassend, lebendig, anschaulich und im besten Sinne gelehrt, bietet Francis Haskell hier erstmals eine Geschichte der 'Entdeckung' und des 'Gebrauchs' von Bildzeugnissen durch die Geschichtswissenschaften - von den Antiquaren des 15. bis zu den Kulturhistorikern des frühen 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Die zweite Geburt der Geschichte
Francis Haskell erzählt davon, wie die Historiographie allmählich die Augen aufschlug / Von Ulrich Raulff

Als großer Leser lebte Ernst Robert Curtius in den Texten der europäischen Literatur wie ein Tier in den Tiefen seines Baus. Unklar blieb dagegen lange, was ihm die Bilder der europäischen Kunst bedeuteten. Nachdem er Ende 1928 in Rom die Bekanntschaft des Kunsthistorikers Aby Warburg gemacht hatte und dem Zauber des außergewöhnlichen Mannes verfallen war, hätte man vermuten können, Curtius messe dem Bild ähnliche Bedeutung für die Bildung des europäischen Geistes zu wie der Literatur. Ein Irrtum, den ein Aufsatz von 1947 zerstreute: "Das Buch", schrieb Curtius damals, "ist realer als das Bild. Hier liegt ein Seinsverhältnis vor und die reale Teilhabe an einem geistigen Sein. Eine ontologische Philosophie würde das vertiefen können." Ein Buch sei in erster Linie ein Text, den zu verstehen bisweilen die größte Anstrengung verlange. Wie einfach dagegen die Beschäftigung mit der bildenden Kunst! "Die Bilderwissenschaft ist mühelos verglichen mit der Bücherwissenschaft." Curtius glaubte an das ontische Gewicht des Texts und mißtraute der unerträglichen Leichtigkeit der Bilder. Auch als Organon der historischen Bildung waren sie damit entwertet: Wo alles auf der Hand lag, brachte Deutung wenig Gewinn.

Im Jahr darauf trat Ernst Gombrich vom Londoner Warburg Institute Curtius' Auffassung entgegen, allein die Literatur sei "Träger von Gedanken", die Kunst hingegen nicht. Der Kritisierte schwieg. Erst drei Jahre später antwortete er in einem Zeitungsartikel und berief sich auf "einen der Veteranen moderner Kunstforschung", Bernard Berenson, der geschrieben hatte, die Sprache der griechischen Plastik sei unvergleichlich leichter zu lernen als die der griechischen Dichtung. Berenson, der Connaisseur, gegen die Hüter des Warburgschen Feuers, der Vertreter der Kennerschaft gegen die Anwälte der Ikonologie - es sah nach einer sehr klassischen Konfrontation aus. Und Curtius ließ keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er jetzt stand.

Indem er den Vorrang der Texte gegenüber den Bildern behauptete, riß Curtius alte Gräben wieder auf, von denen es schien, als hätten gerade die Schüler Warburgs - in ihrem Bestreben, "das Wort zum Bild" zu finden und die Bilder selbst wie einen Text zu lesen - sie eingeebnet. In Wahrheit war der Streit zwischen Philologen und Ikonologen nie zum Erliegen gekommen. Wann immer Kunst-und Kulturhistoriker darangingen, neue Wege zur Erkenntnis der Vergangenheit zu erproben, flackerte er wieder auf. Denn die "ontologische Philosophie", die definitiv den Rang der Bilder gegenüber dem des Texts festgelegt hätte, gab es nicht. Statt dessen gab es zahllose Versuche, die Bilder zum Sprechen zu bringen und den Sinn ihrer Rede mit den Mitteln der Philologie dingfest zu machen. Zu diesem verbissenen Kampf um den Sinn der Bilder haben auch die Historiker ihren Teil beigetragen. Oft freilich nur, um einen scharfen Schnitt zu legen: Die Geschichte, sagte Fustel de Coulanges, wird mit Texten gemacht.

Gegen dieses Urteil haben sich immer wieder einzelne Historiker aufgelehnt und Revision gefordert. Wußten oder ahnten sie doch, daß die Bilder wie ein See einen Schatz an Kenntnissen über die Vergangenheit verbargen: Es bedurfte nur des intellektuellen Netzes, ihn zu heben. Der Geschichte dieser Schatzsuchen und Bergungsunternehmen hat der Oxforder Kunsthistoriker Francis Haskell jetzt ein großes Buch gewidmet, von dem sich sicher sagen läßt, daß es sich unter die Klassiker der kulturhistorischen Literatur dieses Jahrhunderts einreihen wird.

Haskell beschreibt die lange Reihe der Versuche, das künstlerische Bild zur Quelle der historischen Erkenntnis zu machen - von den tastenden Bemühungen der Antiquare und curieux des Barock bis zu den Triumphen einer Kulturgeschichte, die in den Bildern der Kunst wie in einem aufgeschlagenen Buche las. Der Weg, den Haskell dabei abschreitet, ist nicht nur die Straße des Fortschritts in den historischen Methoden - es ist auch der Weg der Selbstbefreiung der Vernunft aus der Furcht vor der unheimlichen Macht der Bilder. An seinem Ende hätte Aby Warburg stehen können: "Du lebst und tust mir nichts" wollte er einst als Motto über seine Psychologie der Kunst setzen. Aber Haskell arrangiert sein Finale anders. Er schließt mit dem Autor des "Herbst des Mittelalters".

Johan Huizinga hielt sich gern in Kunstgalerien auf und war ein talentierter Zeichner. Er liebte die Welt der Formen, die Buntheit und die Kontraste der äußeren Erscheinung. Aber er liebte nicht wahllos. Wo er im Kunstwerk die Lockung des Bösen verspürte, erwachte im Historiker der ästhetische Sittenrichter. In Jean Fouquets Antwerpener Madonna erkannte Huizinga "jene gefährliche Annäherung des religiösen und des erotischen Fühlens, die die Kirche in dieser Form aufs äußerste fürchtete". Der Überlieferung zufolge habe der Maler der Madonna die Züge von Agnes Sorel gegeben, der königlichen Mätresse, für die Etienne Chevalier, der königliche Schatzmeister und Stifter des Bildes, heftige Leidenschaft empfand.

"Es ist in der Tat", so Huizinga über die fatale Gottesmutter, "bei allen hohen malerischen Qualitäten eine Modepuppe, die wir vor uns sehen, mit der gewölbten, kahlgeschorenen Stirn, den weit auseinanderstehenden kugelrunden Brüsten, der hohen dünnen Taille. Das Bizarre des hermetischen Gesichtsausdruckes, die steifen roten und blauen Engel, die sie umringen, alles trägt dazu bei, dem Gemälde einen Hauch dekadenter Gottlosigkeit zu verleihen . . . Liegt in dem Ganzen nicht eine blasphemische Freimütigkeit dem Heiligen gegenüber, die durch keinen Renaissancegeist zu überbieten war?"

Mit dieser Frage war Huizinga wieder bei seinem Thema, dem Niedergang des mittelalterlichen Geistes, der alles Heilige veräußerlicht und dem Irdischen anbequemt hatte, lange bevor die Renaissance die Profanierung zum Programm erhob. Huizinga hatte seine Einsicht in den Verfall des späten Mittelalters aus der Anschauung der Kunst jener Zeit gewonnen. Gewiß sei die Kunst nicht der einzige Weg zum Verständnis des Klimas einer vergangenen Zeit, doch müßten wir "alles, was wir sonst noch über diese Zeit wissen, in ihrem Spiegel oder in ihrem Lichte" sehen. Allerdings fiel aus den Bildern der Kunst ein milderer Schein auf die Vergangenheit: "Unser Bild von allen früheren Kulturen ist heiterer geworden, seitdem wir uns mehr und mehr vom Lesen dem Sehen zugewandt haben, seit das historische Organ immer visueller geworden ist."

Darin liegt die Faszination, die Huizinga auf Haskell ausübt: daß er mit aller Macht seiner historischen Imagination, mit aller Verführungskraft seines bildhaften Stils den Historiker zum Sehen erziehen und ihm alle Reichtümer der Kunst als Quellen seiner Divination erschließen wollte - und daß er zugleich den Maelstrom der Bilder fürchtete, der das genaue und ernste Wissen, den Sinn für das Tragische der Geschichte zu verschlingen drohte. Unter den Historikern war Huizinga der wortgewaltigste Prophet der Kunst: Durch das Bild, so lehrte er, sehen wir die Vergangenheit "klarer, schärfer und farbiger, mit einem Wort: historischer". Als ihm jedoch aufging, welche Geister er gerufen hatte, blies er zur Umkehr: "Der Geist hat allmählich so viel Stoff und Gelegenheit zu bloß visueller Aufnahme der Vergangenheit bekommen, daß er das Lesen und das Denken darüber in Verwahrlosung geraten zu lassen droht."

"Die Geschichte und ihre Bilder" ist ein monumentales Werk, bestehend aus zwei Teilen, die nur locker miteinander verbunden sind. Der erste handelt unter dem Titel "Die Entdeckung des Bildes" von den visuellen Quellen der Historie im 16. und 17. Jahrhundert, von den Sammlern und Kompilatoren, die sie zusammentrugen oder verbreiteten, und von den Deutungen und Kritiken, deren Gegenstand sie wurden. Anknüpfend an einen berühmten Essay Arnaldo Momiglianos, der den Wert hervorhob, den die pietätvollen und gelehrten Bemühungen der Antiquare für die Historie der Barockzeit hatten, beschreibt Haskell das allmähliche Erwachen der Vorstellung, die Münzen und Medaillen, die Statuen und Gemälde, die aus früheren Jahrhunderten überkommen waren, könnten Zeugnis ablegen vom damaligen Leben, von Aussehen und Geistesart der Herrscher, Heiligen und Philosophen. Es sind Seiten, die man mit großer Bewunderung liest, weil man spürt, daß dies alles aus erster Hand stammt: So frisch schreibt nur, wer Jahrzehnte unter Antiquaren zugebracht hat.

Ein einziges Mal nur unterbricht Haskell den Reigen der eleganten Porträts von Sammlern, Kompilatoren und Historikern, in dem seine Erzählung fortschreitet (ein Darstellungsprinzip, das seine Reize, aber auch seine Ermüdungsrisiken hat), um eine systematische Übersicht zu geben über das Bildmaterial, das den Historikern des 16. und 17. Jahrhunderts zur Verfügung stand. Besondere Bedeutung kam den Münzen und Medaillen zu, da sie zu Vorlagen von Stichen und abermals Stichen, Kopien von Kopien wurden: das historische Zeugnis im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In diesem Zusammenhang liefert Haskell auch eine Reihe amüsanter Belege für die von Anthony Grafton beschriebene Geburtshilfe der Fälscher bei der Entstehung der historischen Kritik. Am Ende nährte bereits das Werk der Antiquare jenen Traum von einer reinen Bildersprache, in der die Menschheit der Wahrheit ihrer Vergangenheit inne würde: "Wenn wir eine vollkommene und lückenlose Serie von Medaillen besäßen", schrieb John Evelyn gegen Ende des 17. Jahrhunderts, "brauchten wir eigentlich fast keine andere Geschichtsschreibung mehr".

Im zweiten Teil des Buches, "Der Umgang mit dem Bild", behandelt Haskell den Gebrauch der Bilder durch die Historiker seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dieser Gebrauch beschränkte sich lange Zeit auf passive Rezeption. Wohl besuchten Gibbon und Montesquieu, die beiden größten Historiker Roms im 18. Jahrhundert, die großherzogliche Sammlung in den Uffizien (nachdem Gibbon zuvor bereits das königliche Raritätenkabinett in Turin besichtigt hatte) und zeigten sich von den Büsten und Statuen tief beeindruckt - doch, so Haskell, "als sie ihre berühmten Werke schrieben, machten sie beide keinen direkten Gebrauch von dem Wissen, das sie daraus hätten ziehen können". Nicht anders verhielten sich die italienischen Historiker jener Zeit, Muratori etwa oder Scipione Maffei. Auch sie waren sich des Einflusses bewußt, den Bilder auf die Vorstellungen von der Vergangenheit nehmen konnten. Sobald sie aber selbst Geschichte erzählten, gaben sie dem geschriebenen Wort den Vorzug vor den Zeugnissen der Kunst. Erst seit Voltaires "Siècle de Louis XIV" zeichnet sich ein Wandel ab. Nicht, weil in seiner Darstellung die Künste einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis jener Epoche leisteten. Ihre bloße Behandlung im Anhang des Werks genügte vielmehr, um sie der Aufmerksamkeit der Epigonen zu empfehlen.

Bei der Sicherung der Spuren zwischen Kunstanschauung und Historiographie schöpft Francis Haskell auch aus den Kenntnissen der Kunstliteratur, die er bei seinen früheren Studien zur Geschichte des Geschmacks gesammelt hat. Die Entdeckung der Zeugnisse der Kunst als Quellen der Historiographie vollzog sich nicht im Sinn einer Einbahnstraße, auf der die Historie sich allmählich auf die Kunst zubewegt hätte. Folgenreich war, wie Haskell richtig sieht, das merkwürdige Junktim, das Winckelmann schuf, als er die Entstehung großer Kunst an die Voraussetzung politischer Freiheit band. Denn diese Gleichung ließ sich umkehren: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewöhnten sich die Historiker daran, von der Qualität der Kunst rückzuschließen auf die Epoche ihrer Entstehung. Herder und Hegel erhoben die Kunst zum Ausdruck ihrer Epoche und postulierten notwendige Beziehungen zwischen dem Stil der Kunst und dem Geist der Zeit. Damit versetzten sie, wie Haskell einräumt, die Historiker in die Lage, "das von den Künstlern gebotene Zeugnis ungleich reicher und produktiver zu nutzen als jemals zuvor".

Von dieser neugewonnenen Freiheit hat niemand kühneren Gebrauch gemacht als Jules Michelet. Statt aus Münzen und Medaillen, den bis dato wichtigsten visuellen Quellen der historischen Erkenntnis, saugte Michelet sein Wissen aus Malerei, Skulptur und Architektur. Da vor seinen Augen alles Gesehene alsbald allegorische Gestalt annahm, belud sich auch sein eigener Text mit einer Bilderfracht von unerhörter Macht und Schönheit: "Die Monumente atmen dort, die Spitzbögen der Kathedralen denken, die Kreuzrippen meditieren und atmen", schrieb 1843 ein Rezensent. Der Preis mag hoch gewesen sein, den Michelet für seinen originellen Ansatz zahlte - die Naivitäten, die man ihm zu Recht vorwarf, die Fehler, die man ihm nachweisen konnte, die falschen Zuschreibungen, die überzogenen Deutungen. Höher aber war, jedenfalls in den Augen Haskells, der Gewinn. Denn ohne seinen ausgeprägten Sinn für die Kunst wäre Michelet kaum in der Lage gewesen, "das zweifellos kühnste historiographische Konzept des 19. Jahrhunderts vorzuschlagen" - das Konzept der Renaissance.

Nach Michelet war keine Kulturgeschichte mehr denkbar, die nicht das Zeugnis der Bilder befragte - vielleicht nicht einmal eine politische Geschichte. "Große Nationen", verkündete John Ruskin 1884, "schreiben ihre Autobiographien in drei Bücher: das Buch ihrer Taten, das Buch ihrer Worte und das Buch ihrer Kunst. Keines dieser Bücher können wir verstehen, wenn wir nicht auch die beiden anderen lesen; doch von den dreien ist nur das letzte vollkommen glaubwürdig." Die unumschränkte Vorherrschaft des Texts in der Geschichtsforschung war gebrochen, mochte auch Fustel das Gegenteil verkünden. Die Historie hatte das Bild als Quelle entdeckt und akzeptiert.

Nirgends wird man diese zweite Geburt des historischen Sinns in der Bilderkammer der Kunstgeschichte detaillierter dargestellt finden als bei Francis Haskell. Denn neben den Werken der Geschichtsschreiber würdigt Haskell auch die Leistungen der Sammler und Museumsgründer, und er übersieht nicht den Beitrag, den das beginnende Ausstellungswesen und die aufblühende Buchillustration für das historische Bewußtsein gehabt haben. Und doch stellt sich bei der Lektüre der Eindruck ein, daß sein großes Werk an Brillanz verliert, je mehr im Lauf des 19. Jahrhunderts die Sache selbst - Historie, die sich auf visuelle Zeugnisse stützt - an Elan gewinnt. Es ist, als sei etwas ins Spiel gekommen, daß nicht in Haskells Schema paßt.

Ist es die Tatsache, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kunst für die Historie nicht länger nur Gegenstand der Betrachtung und der Kritik, nicht länger bloß eine "Quelle" unter anderen ist? Seither nämlich wandert die Kunst in die Form der Historie, in die Auswahl und Konstellation des Materials, die Konzepte und Stile der Darstellung ein. Die Historiographie eines Ruskin, eines Taine oder Burckhardt ist nicht bloß eine Geschichte von Stilen, sondern entwickelt selber ihre eigenen Kunststile. Wer die eigentümliche Kunstform eines Werkes wie Burckhardts "Kultur der Renaissance in Italien" übersieht, mag immer dessen ungeschriebenen Band über die Kunst der Renaissance in Italien beklagen: Ein wesentlicher Wandel im Verhältnis der Historie zu den anderen Erkenntnisweisen und den anderen literarischen Gattungen bleibt ihm verborgen.

So ergeht es auch Haskell, dessen Blick vielleicht zu starr auf die Kunst gerichtet ist, welche die Historie rezipiert, und zu wenig auf die Kunst, die sie produziert. Aber vielleicht ist das der Preis, den man bezahlt, wenn man sich lange unter Antiquaren aufhält. Gleichgültig, mit welchem Autor und mit welcher Epoche Francis Haskell sich beschäftigt, seine Behandlungsweise bleibt die des Antiquars und gelehrten Kenners - ein Meister der "unbegrenzten Detaillierung", wie Huizinga über van Eyck sagte, und zugleich ein Meister der Anekdote.

Wie hoch der Preis für diesen heiteren Positivismus ist, dafür gibt es verschiedene Hinweise. Einer davon ist die Nichtbehandlung Nietzsches, obwohl seine Konzepte - man denke an das Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch oder die drei Modi der Historie, die monumentale, die antiquarische und die kristische - die historische Ästhetik der folgenden Generationen tief geprägt haben. Ein anderes Indiz ist die eigentümlich schiefe Plazierung Warburgs in Haskells Historienkabinett. Der Nachfolger Edgar Winds auf dessen Oxforder Lehrstuhl stellt Aby Warburg in die romantische Tradition der Entdeckung der volkstümlichen Kunst und der Faszination durch Groteske und Karikatur. So wichtig diese Quellen für Warburgs Denken sind und so sicher Haskell die Wege des Einflusses (über Hugo, Quinet und Champfleury, Lamprecht und Bastian) nachzeichnet - ein Werk, das die Entdeckung des Bildes durch die Historie darzustellen beansprucht, kann sich mit diesem genetischen Aspekt des Warburgschen Werks nicht zufriedengeben und seine wahre Herausforderung umgehen. Die aber liegt im "Mnemosyne"-Projekt, Warburgs unerreichtem Lebensziel, die Geschichte des europäischen Bildgedächtnisses in Bildersequenzen und -konstellationen nachzuerzählen, die keiner Textspur und keines Kommentars mehr bedürften. Doch dieser Sphinx will Francis Haskell nicht ins Auge sehen.

Vielleicht tut Haskell gut daran, seine Demonstration bei Huizinga enden zu lassen. Zwar trifft es nicht ganz zu, daß das Geschlecht der großen Kulturhistoriker, die aus dem Fundus der Kunst den Geist einer vergangenen Epoche heraufbeschwören, mit Huizinga erloschen sei: Die Bilder der Kindheit und die Einstellungen zum Tode, die Philippe Ariès seinen Lesern vermittelt hat, wären nicht greifbar geworden ohne den steten Rekurs des Historikers auf die ikonographische Tradition. Aber Ariès ist auch zur Zielscheibe des Spotts von Ikonologen geworden, Autoren wie Leo Steinberg, die den Mentalitäten-Historikern vorwarfen, sie verwechselten die Bilder der Kunst mit Fenstern auf die vergangene Wirklichkeit und übersähen die ikonographischen Programme und semiotischen Codes, die jene zu Wirklichkeiten eigener Art machen. An diesem Dilemma hat die Kulturgeschichte nach Huizinga lange Zeit gelitten - auf der einen Seite die Mentalitätengeschichte, die den Bildern herzlich, aber naiv zugetan war, auf der anderen die Ikonographie, die sich die Welt mit "Programmen" und letztlich immer dichteren Texthecken zustellte: die eine eine Spur zu dumm, die andere eine Idee zu klug.

Francis Haskell läßt sein Buch mit der Entdeckung des Bildes durch die Sammler und Amateure, die Historiker und Antiquare des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts beginnen. Auch im zweiten Teil, wenn er sich den philosophischen Historikern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zuwendet, spürt man die Sympathie des Autors für jene Gelehrten, für die "allein schon die Weitergabe und Untersuchung der greifbaren Zeugnisse einer Welt, die für immer verloren zu sein schien, den Glauben nährte, die Vergangenheit sei nicht unwiederbringlich verloren, sondern lasse sich irgendwie zurückholen und zu neuem Leben erwecken". Im Schatten der überragenden Geschichtsdeuter von Sismondi bis Burckhardt lebte in Gestalt der gelehrten Kenner die Tradition der Antiquare fort. Johan Huizinga sollte sie noch einmal zusammenführen und versöhnen, den Geist der Antiquare und den der Visionäre. Der historische Sinn, so formulierte er in späten Jahren, bedeute ihm nichts anderes als "eine hohe Form jenes Qualitätsgefühls, welches dem Kunstkenner die Unterscheidung eines echten Kunstwerks von einem falschen und des einen Stils von einem anderen ermöglicht". Seit kurzem wissen wir, daß Johan Huizinga nicht der letzte der großen Antiquare unter den Kulturhistorikern war.

Francis Haskell: "Die Geschichte und ihre Bilder". Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag C. H. Beck, München 1995. 588 S., 262 Abb., geb., 168,- DM.

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