Welch ein Talent: Die erst 17-jährige Solomonica de Winter erzählt die Geschichte von Blue, die ihren Vater früh verloren hat, deren Mutter in ihrer eigenen Welt lebt und die sich in einen Menschen verliebt, der vom gleichen Buch besessen ist wie sie: dem 'Zauberer von Oz'. Wie Dorothy im Buch macht sie sich auf, um jenseits des Regenbogens wieder eine Art Zuhause zu finden - und den Mörder ihres Vaters. Ein Roman mit doppeltem Boden, Drive, Chuzpe und einer völlig eigenen Poesie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2014Die Zauberin von Oz
Solomonica de Winter ist siebzehn und Kind berühmter Eltern: Ihr Debüt, eine Mischung aus Krimi und Fantasyroman, erzählt von einer widerspenstigen Heldin
Mit fünfzehn in einer Fußballnationalmannschaft, mit sechzehn Romanautorin in einem renommierten Verlag, mit siebzehn im Cockpit der Formel eins: Rekordmarken dieser Art sind allemal Meldungen wert. Oder auch mehr. Hier also mehr zu einem dieser Rekorde: Solomonica de Winter, gerade siebzehn geworden, ist die Tochter des erfolgreichen niederländischen Schriftstellerpaars Leon de Winter und Jessica Durlacher. Sie ging in Los Angeles zur Schule und schrieb ihren ersten Roman auf Englisch. Weil der Schweizer Diogenes Verlag sich schon vor Monaten die Rechte daran sicherte, ist das Buch nun zuerst auf Deutsch erschienen.
Solomonica de Winter selbst dürfte so etwas wie eine höhere Tochter sein. Die Hauptfigur ihres Debütromans jedoch hat sie am anderen Ende der sozialen Leiter angesiedelt. Sie heißt Blue, "blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise". Blue auch wie einsam, trostlos und verlassen. Blues Mutter arbeitet in der Nachtschicht bei Walmart und ist kokainabhängig, der Vater wurde von einem Gangster erschossen. Blue ist erst dreizehn und vom Tod des Vaters schwer traumatisiert. Sie redet kein Wort. Nicht mit ihrer Mutter, nicht in der Schule. Die Erwachsenen wollen, dass sie keinen Ärger macht. Blue dagegen denkt: "Ich bin der Ärger. Ich bin obenhin voll davon. Ich esse Ärger zum Frühstück. Ich werde nie wieder rein sein ... Mein Gott, wie ich Kinder hasse. Alle zusammen. Ich hasse es, ihre kleinen Herzen voller Glück und Unschuld und Freude schlagen zu hören. Ich weiß, dass ich nicht so bin wie sie."
Dieses Außenseitertum verfestigt sich. Die Hassphantasien schlagen in Gewalt um. Blue hat, wie wir erfahren, zwei Menschen auf dem Gewissen, einen Mann und eine Frau, die sie aus Eifersucht tötete. Dafür sitzt sie in der Psychiatrie. Auch dort bleibt sie stumm. Immerhin kann der behandelnde Arzt sie dazu bringen, all das aufzuschreiben, was sie bedrückt.
Der französische Schauspieler Gérard Depardieu erzählte kürzlich in seinem Film über eine Reise in den Kaukasus, dass er mit dreizehn ein Jahr lang geschwiegen habe. So etwas gibt es also wirklich. Depardieu erzählte auch, was ihn von seinem Schweigen befreite: Ein Imam habe ihm gut zugeredet, er sei mit dreizehn zum Islam konvertiert, mit vierzehn allerdings wieder ausgestiegen.
Blue wird nicht von einem Imam, sondern von einem Buch gerettet. In der Hölle, in der sie lebt, gibt es nur einen einzigen Trost: den Roman "Der Zauberer von Oz". Es ist für sie das wichtigste und kostbarste Buch. Es hat so viel Bedeutung, weil Blue es von dem für sie wichtigsten Menschen geschenkt bekommen hatte: ihrem Vater. Den Inhalt der Märchenerzählung nimmt sie für bare Münze. Sooft es geht, flüchtet sie sich in die Traumwelt von Oz. Egal, wo sie gerade ist, ob zu Hause, auf der Straße oder in der Schule: Das Buch hält sie immer fest umschlossen in ihren Armen. Sie kann es gar nicht oft genug lesen.
Ich mag die Art und Weise, wie Solomonica de Winter Stimmungen, Orte und Personen beschreibt. Besonders ihre kritische und negative Einstellung zum Leben in so jungen Jahren kann ich als Gleichaltrige sehr gut nachvollziehen. Seit dem Tod ihres Vaters ist alles in der Welt für sie nur noch böse und schlecht, sogar ihre Mutter. Mir gefällt es, wie egal Blue die Leute um sie herum sind, wie wenig anspruchsvoll sie ist und mit wie einfachen Sachen (Schokoladeneis) sie zufriedenzustellen ist. Und dass es ihr gleichgültig ist, wie andere über sie denken.
Dass sich Blue so sehr mit der Dorothy des Romans "Der Zauberer von Oz" identifiziert und in de Winters Roman auch oft darauf verweist, ist ein Problem, wenn man dieses Buch nicht kennt. Man benötigt Hintergrundwissen über den "Zauberer von Oz", weil man sonst Blues Gedankengänge nicht nachvollziehen kann.
Zwei Genres verkaufen sich heute besonders gut: Krimi und Fantasy. "Die Geschichte von Blue" hat etwas von beiden. Blue ist als Figur eine krasse Mixtur aus kindlichen Träumen, verletzter Seele und Tötungsphantasien. Ihre drogensüchtige Mutter, das Leben in der Schule und auch die gefährlichen dunklen Randbezirke einer amerikanischen Großstadt werden realistisch dargestellt.
Der Gangster aber, den Blue, weil er ihren Vater getötet hat, beseitigen will, wirkt manchmal unecht, wie aus einem billigen Film herbeizitiert, wie ein "Plastikmörder" eben (so Blues Wort). Das Gute aber ist: Solomonica de Winter hat dies offenbar bemerkt. Am Ende gibt sie ihrer Geschichte eine unerwartete Wendung. Alles ist ganz anders, als es scheint, denn die Krankenakte der psychiatrischen Klinik, in der Blue sitzt, enthält deutliche Abweichungen von der Geschichte, die Blue uns erzählt hat.
Mit zweitem Vornamen heißt Blue übrigens Vanity. Man könnte meinen, Solomonica de Winter spräche von sich, wenn sie ihre Blue Vanity gleich zu Beginn des Buchs sagen lässt: "Meine Eltern hielten Eitelkeit nicht für eine positive Eigenschaft, aber sie waren von ihr fasziniert. Davon, wie etwas das Denken eines Menschen so einnehmen kann, dass er sich davon betören lässt, sich in das Streben nach Perfektion zu verlieben."
Von dieser Perfektion ist in Solomonica de Winters Debütroman schon erstaunlich viel zu spüren. Gut, es gibt auch eine gute Dosis Jugendsprache. Da wird ständig gerannt und gestarrt. Es gibt viel Gefühlsüberschwang und teen spirit. Im Ganzen aber ist "Die Geschichte von Blue" unglaublich cool, abgeklärt und stilsicher erzählt. Eigentlich ist das von einer Sechzehnjährigen kaum zu schaffen, doch dürfte es in ihrer Familie kompetente Beratung gegeben haben.
MELINA SAVVIDOU
Die Rezensentin ist sechzehn Jahre alt.
Solomonica de Winter: "Die Geschichte von Blue".
Roman. Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll. Diogenes Verlag, Zürich 2014. 277 S., br., 14,90 [Euro].
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Solomonica de Winter ist siebzehn und Kind berühmter Eltern: Ihr Debüt, eine Mischung aus Krimi und Fantasyroman, erzählt von einer widerspenstigen Heldin
Mit fünfzehn in einer Fußballnationalmannschaft, mit sechzehn Romanautorin in einem renommierten Verlag, mit siebzehn im Cockpit der Formel eins: Rekordmarken dieser Art sind allemal Meldungen wert. Oder auch mehr. Hier also mehr zu einem dieser Rekorde: Solomonica de Winter, gerade siebzehn geworden, ist die Tochter des erfolgreichen niederländischen Schriftstellerpaars Leon de Winter und Jessica Durlacher. Sie ging in Los Angeles zur Schule und schrieb ihren ersten Roman auf Englisch. Weil der Schweizer Diogenes Verlag sich schon vor Monaten die Rechte daran sicherte, ist das Buch nun zuerst auf Deutsch erschienen.
Solomonica de Winter selbst dürfte so etwas wie eine höhere Tochter sein. Die Hauptfigur ihres Debütromans jedoch hat sie am anderen Ende der sozialen Leiter angesiedelt. Sie heißt Blue, "blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise". Blue auch wie einsam, trostlos und verlassen. Blues Mutter arbeitet in der Nachtschicht bei Walmart und ist kokainabhängig, der Vater wurde von einem Gangster erschossen. Blue ist erst dreizehn und vom Tod des Vaters schwer traumatisiert. Sie redet kein Wort. Nicht mit ihrer Mutter, nicht in der Schule. Die Erwachsenen wollen, dass sie keinen Ärger macht. Blue dagegen denkt: "Ich bin der Ärger. Ich bin obenhin voll davon. Ich esse Ärger zum Frühstück. Ich werde nie wieder rein sein ... Mein Gott, wie ich Kinder hasse. Alle zusammen. Ich hasse es, ihre kleinen Herzen voller Glück und Unschuld und Freude schlagen zu hören. Ich weiß, dass ich nicht so bin wie sie."
Dieses Außenseitertum verfestigt sich. Die Hassphantasien schlagen in Gewalt um. Blue hat, wie wir erfahren, zwei Menschen auf dem Gewissen, einen Mann und eine Frau, die sie aus Eifersucht tötete. Dafür sitzt sie in der Psychiatrie. Auch dort bleibt sie stumm. Immerhin kann der behandelnde Arzt sie dazu bringen, all das aufzuschreiben, was sie bedrückt.
Der französische Schauspieler Gérard Depardieu erzählte kürzlich in seinem Film über eine Reise in den Kaukasus, dass er mit dreizehn ein Jahr lang geschwiegen habe. So etwas gibt es also wirklich. Depardieu erzählte auch, was ihn von seinem Schweigen befreite: Ein Imam habe ihm gut zugeredet, er sei mit dreizehn zum Islam konvertiert, mit vierzehn allerdings wieder ausgestiegen.
Blue wird nicht von einem Imam, sondern von einem Buch gerettet. In der Hölle, in der sie lebt, gibt es nur einen einzigen Trost: den Roman "Der Zauberer von Oz". Es ist für sie das wichtigste und kostbarste Buch. Es hat so viel Bedeutung, weil Blue es von dem für sie wichtigsten Menschen geschenkt bekommen hatte: ihrem Vater. Den Inhalt der Märchenerzählung nimmt sie für bare Münze. Sooft es geht, flüchtet sie sich in die Traumwelt von Oz. Egal, wo sie gerade ist, ob zu Hause, auf der Straße oder in der Schule: Das Buch hält sie immer fest umschlossen in ihren Armen. Sie kann es gar nicht oft genug lesen.
Ich mag die Art und Weise, wie Solomonica de Winter Stimmungen, Orte und Personen beschreibt. Besonders ihre kritische und negative Einstellung zum Leben in so jungen Jahren kann ich als Gleichaltrige sehr gut nachvollziehen. Seit dem Tod ihres Vaters ist alles in der Welt für sie nur noch böse und schlecht, sogar ihre Mutter. Mir gefällt es, wie egal Blue die Leute um sie herum sind, wie wenig anspruchsvoll sie ist und mit wie einfachen Sachen (Schokoladeneis) sie zufriedenzustellen ist. Und dass es ihr gleichgültig ist, wie andere über sie denken.
Dass sich Blue so sehr mit der Dorothy des Romans "Der Zauberer von Oz" identifiziert und in de Winters Roman auch oft darauf verweist, ist ein Problem, wenn man dieses Buch nicht kennt. Man benötigt Hintergrundwissen über den "Zauberer von Oz", weil man sonst Blues Gedankengänge nicht nachvollziehen kann.
Zwei Genres verkaufen sich heute besonders gut: Krimi und Fantasy. "Die Geschichte von Blue" hat etwas von beiden. Blue ist als Figur eine krasse Mixtur aus kindlichen Träumen, verletzter Seele und Tötungsphantasien. Ihre drogensüchtige Mutter, das Leben in der Schule und auch die gefährlichen dunklen Randbezirke einer amerikanischen Großstadt werden realistisch dargestellt.
Der Gangster aber, den Blue, weil er ihren Vater getötet hat, beseitigen will, wirkt manchmal unecht, wie aus einem billigen Film herbeizitiert, wie ein "Plastikmörder" eben (so Blues Wort). Das Gute aber ist: Solomonica de Winter hat dies offenbar bemerkt. Am Ende gibt sie ihrer Geschichte eine unerwartete Wendung. Alles ist ganz anders, als es scheint, denn die Krankenakte der psychiatrischen Klinik, in der Blue sitzt, enthält deutliche Abweichungen von der Geschichte, die Blue uns erzählt hat.
Mit zweitem Vornamen heißt Blue übrigens Vanity. Man könnte meinen, Solomonica de Winter spräche von sich, wenn sie ihre Blue Vanity gleich zu Beginn des Buchs sagen lässt: "Meine Eltern hielten Eitelkeit nicht für eine positive Eigenschaft, aber sie waren von ihr fasziniert. Davon, wie etwas das Denken eines Menschen so einnehmen kann, dass er sich davon betören lässt, sich in das Streben nach Perfektion zu verlieben."
Von dieser Perfektion ist in Solomonica de Winters Debütroman schon erstaunlich viel zu spüren. Gut, es gibt auch eine gute Dosis Jugendsprache. Da wird ständig gerannt und gestarrt. Es gibt viel Gefühlsüberschwang und teen spirit. Im Ganzen aber ist "Die Geschichte von Blue" unglaublich cool, abgeklärt und stilsicher erzählt. Eigentlich ist das von einer Sechzehnjährigen kaum zu schaffen, doch dürfte es in ihrer Familie kompetente Beratung gegeben haben.
MELINA SAVVIDOU
Die Rezensentin ist sechzehn Jahre alt.
Solomonica de Winter: "Die Geschichte von Blue".
Roman. Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll. Diogenes Verlag, Zürich 2014. 277 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main