Im Jahr 1974, als die Rockmusik noch unangefochten die Vorherrschaft genoss, eroberten ein paar Düsseldorfer mit einem knapp 23-minütigen elektronischen Song über die deutsche Autobahn die britischen und amerikanischen Charts. Das Album Autobahn von Kraftwerk gilt als musikalisches Meisterwerk, das für die Band den Übergang vom Krautrock zur elektronischen Musik einläutete und seine Einzigartigkeit bis heute bewahrt hat.Jan Reetze beleuchtet in diesem Buch die Entstehungsgeschichte eines seiner ewigen Lieblingsalben und geht der Frage auf den Grund, weshalb Autobahn auch nach einem halben Jahrhundert noch immer so zeitlos klingt wie am Tag der Veröffentlichung.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einiges, aber nicht unbedingt genug erfährt Rezensent Philipp Krohn von Jan Reetze über einen Klassiker der deutschen Popmusik. Reetze schreibt sein Buch, so Krohn, dezidiert als ein Fan des Albums "Autobahn" der Band Kraftwerk, und er nähert sich ihm aus verschiedenen Perspektiven, über die Musik, kulturgeschichtlich und über die Technik. Letzteres findet Krohn besonders interessant, weil der Autor Ahnung von der Materie hat und nachzeichnet, wie die Arbeit mit elektronischen Effektgeräten es der Band ermöglicht, einen eigenständigen Sound zu kreieren, der mit ganz unterschiedlichen musikalischen Genres spielt. Auch die Rezeption des Albums in anderen Ländern wird behandelt, so Krohn, der allerdings unter anderem eine Auseinandersetzung mit der Düsseldorfer Musikszene vermisst, der "Autobahn" damals entsprang. Als erste Annäherung ist das Buch brauchbar, aber es wäre mehr möglich gewesen, heißt es zum Schluss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2024Kosmische Musik
Die Mutter aller deutschen Elektronikalben: Jan Reetze über Kraftwerks "Autobahn"
Vom Ausland aus betrachtet, zählt an deutscher Musik außer den überangepassten Hardrockern der Scorpions, den auf Pyro-Riefenstahl-Ästhetik vertrauenden Rammstein und den ungleichen Zwillingen von Tokio Hotel vor allem eines: Elektronik. Musikbands, die mit amerikanischen oder britischen Pionieren mithalten wollen, müssen doppelt so gut sein. Verwenden sie statt Gitarre, Bass und Schlagzeug dagegen Synthesizer und Drumcomputer und berufen sich nicht auf die Tradition des nordamerikanischen Blues, haben sie Chancen, als Unikum aufzufallen.
Bis heute stimmt diese Formel. Ob Modeselektor, Digitalism oder Moderat: Deutsche Elektronikmusiker werden in angelsächsischen Ländern mehr rezipiert, rezensiert und wertgeschätzt als deutsche Indiebands. Das zieht sich durch die Popgeschichte von Tangerine Dream über D.A.F. und Propaganda bis zu Nils Frahm. Der Sequenzer als deutscher Standortvorteil.
Die Mutter aller deutschen Elektronikalben ist "Autobahn", aufgenommen wurde es von der Mutter aller deutschen Elektronikbands: Kraftwerk. Die Platte, wie der Autor Jan Reetze in "Die Geschichte von Kraftwerks 'Autobahn'" in Anlehnung an eine vergangene Epoche der Musikrezeption schreibt, wird in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert alt. In seinem schmalen Band beschreibt er den unvorhergesehenen Welterfolg dieses Albums aus musikalischer, kultureller und technischer Perspektive. Dieser dritte Blickwinkel ist ein großer Gewinn, da Reetze, der seit dreieinhalb Jahrzehnten als Buch-, Hörfunk- und Drehbuchautor arbeitet, zeitweise selbst in den Hamburger Alster-Studios die Produktion kennengelernt hat und somit genau weiß, wovon er schreibt.
Zu Beginn verortet er sich selbst. "Autobahn" zähle neben dem Debüt von Soft Machine, dem Gesamtwerk von Steely Dan und der Avantgardeplatte "The United States of America", den Klassikern der Minimal Music und einigen Krautrockaufnahmen zu den paar Platten, die hängen blieben. Den deutschen Elektronikpionieren komme das Verdienst zu, nicht nur aufgeschlossen für Synthesizer gewesen zu sein, sondern sie anders als angelsächsische Bands für eine strukturell andersartige Musik zu verwenden. Kein Rock mit alternativem Klang, sondern kosmische Musik.
Aus einem Düsseldorfer Humus experimentell orientierter junger Musiker ging zunächst das Vorläuferprojekt Organisation hervor, für das der damals noch unbedarfte Schüler Reetze keinen Grund erkannte, es wichtig zu finden. "Man konnte ja nicht ahnen, was aus dieser Kapelle einmal werden würde", schreibt er selbstironisch. Fast allen deutschen Pionieren habe der aus Schweiß und Arbeit abgeleitete Groove gefehlt, der vielen amerikanischen Rockbands über die Jahre zu eigen wurde, paraphrasiert er eine Einschätzung des Tangerine-Dream-Gründers Edgar Froese.
Florian Schneider und Ralf Hütter aber, die beiden Hauptfiguren von Kraftwerk, hätten sich durch eine besondere Aufgeschlossenheit ausgezeichnet, Klänge mittels Effektgeräten zu verfremden. Dafür waren sie auch bereit und in der Lage zu investieren. "Mit dem Auto konnte ich in der Gegend herumfahren, aber mit dem Synthesizer konnte ich mir die ganze Welt erschließen", wird Hütter zitiert.
Mit diesen Geräten und dem versierten Toningenieur (und hier zum ersten Mal nicht mehr Produzenten) Conny Plank gelang es ihnen, das technisch-romantische Covermotiv von Emil Schult musikalisch lebendig werden zu lassen: Popsymphonie, Konzeptalbum, akustisches Storytelling aus simplen Melodien, vertonter Alltag. "Wir erfinden Geschichten und illustrieren sie mit Musik", sagte der wortkarge Hütter einmal.
Neben den technischen Aspekten widmet sich Reetze ausführlich dem Vertriebserfolg und seinen Ursachen. Besonders in den Vereinigten Staaten schlug die Platte ein, obwohl die Hauptzeile "Fahr'n fahr'n fahr'n auf der Autobahn" wahlweise als Beach-Boys-Zitat oder "fond of the Autobahn" ausgelegt wurde. Jedenfalls erfüllte das Album den Tatbestand des Kuriosums. UKW-Stationen mit geringer Reichweite und hochwertigem Klang waren begeistert von den Stereoeffekten.
Der Titelsong "Autobahn" mit einer Länge von mehr als zwanzig Minuten schlug besonders in den UKW-Collegeradios ein, erst danach kam der Erfolg in den Plattenläden. Anschließend stellte die Band eine dreiminütige Singleauskopplung für den Massenmarkt auf der Mittelwelle her. Danach folgte eine Tournee mit vierzig Stationen. Den Erfolg konnte Kraftwerk nicht mehr wiederholen. Aber sie waren in den Ghettos New Yorks, Detroits und Chicagos eine Größe geworden und somit Quelle für Samples, die ihren Rang in der Pophistorie festigten.
Reetze gelingt eine faktensichere Einführung in eines der Schlüsselwerke deutscher Popmusik. Weil sich die Protagonisten rar machen (Hütter) oder tot sind (Plank, Schneider), musste er mit einer überschaubaren Quellenlage arbeiten und hat das Beste daraus gemacht. Einige Aspekte kommen etwas kurz: Die Bereitschaft bis zuletzt, Pop so zu kuratieren, dass er wie ein Kunstwerk wirkt, dürfte einiges mit dem Zusammenspiel von Kunsthochschule und Popszene in Düsseldorf zu tun haben, das nur in Ansätzen erklärt wird. Auch die Rezeption unter internationalen Künstlern hätte mehr Platz verdient. Reetzes Band erfüllt die Rolle einer gelungenen Einführung, hätte aber noch etwas mehr leisten können. PHILIPP KROHN
Jan Reetze: "Die Geschichte von Kraftwerks 'Autobahn'". Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album.
Halvmall Verlag, Bremen 2024.
162 S., Abb., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Mutter aller deutschen Elektronikalben: Jan Reetze über Kraftwerks "Autobahn"
Vom Ausland aus betrachtet, zählt an deutscher Musik außer den überangepassten Hardrockern der Scorpions, den auf Pyro-Riefenstahl-Ästhetik vertrauenden Rammstein und den ungleichen Zwillingen von Tokio Hotel vor allem eines: Elektronik. Musikbands, die mit amerikanischen oder britischen Pionieren mithalten wollen, müssen doppelt so gut sein. Verwenden sie statt Gitarre, Bass und Schlagzeug dagegen Synthesizer und Drumcomputer und berufen sich nicht auf die Tradition des nordamerikanischen Blues, haben sie Chancen, als Unikum aufzufallen.
Bis heute stimmt diese Formel. Ob Modeselektor, Digitalism oder Moderat: Deutsche Elektronikmusiker werden in angelsächsischen Ländern mehr rezipiert, rezensiert und wertgeschätzt als deutsche Indiebands. Das zieht sich durch die Popgeschichte von Tangerine Dream über D.A.F. und Propaganda bis zu Nils Frahm. Der Sequenzer als deutscher Standortvorteil.
Die Mutter aller deutschen Elektronikalben ist "Autobahn", aufgenommen wurde es von der Mutter aller deutschen Elektronikbands: Kraftwerk. Die Platte, wie der Autor Jan Reetze in "Die Geschichte von Kraftwerks 'Autobahn'" in Anlehnung an eine vergangene Epoche der Musikrezeption schreibt, wird in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert alt. In seinem schmalen Band beschreibt er den unvorhergesehenen Welterfolg dieses Albums aus musikalischer, kultureller und technischer Perspektive. Dieser dritte Blickwinkel ist ein großer Gewinn, da Reetze, der seit dreieinhalb Jahrzehnten als Buch-, Hörfunk- und Drehbuchautor arbeitet, zeitweise selbst in den Hamburger Alster-Studios die Produktion kennengelernt hat und somit genau weiß, wovon er schreibt.
Zu Beginn verortet er sich selbst. "Autobahn" zähle neben dem Debüt von Soft Machine, dem Gesamtwerk von Steely Dan und der Avantgardeplatte "The United States of America", den Klassikern der Minimal Music und einigen Krautrockaufnahmen zu den paar Platten, die hängen blieben. Den deutschen Elektronikpionieren komme das Verdienst zu, nicht nur aufgeschlossen für Synthesizer gewesen zu sein, sondern sie anders als angelsächsische Bands für eine strukturell andersartige Musik zu verwenden. Kein Rock mit alternativem Klang, sondern kosmische Musik.
Aus einem Düsseldorfer Humus experimentell orientierter junger Musiker ging zunächst das Vorläuferprojekt Organisation hervor, für das der damals noch unbedarfte Schüler Reetze keinen Grund erkannte, es wichtig zu finden. "Man konnte ja nicht ahnen, was aus dieser Kapelle einmal werden würde", schreibt er selbstironisch. Fast allen deutschen Pionieren habe der aus Schweiß und Arbeit abgeleitete Groove gefehlt, der vielen amerikanischen Rockbands über die Jahre zu eigen wurde, paraphrasiert er eine Einschätzung des Tangerine-Dream-Gründers Edgar Froese.
Florian Schneider und Ralf Hütter aber, die beiden Hauptfiguren von Kraftwerk, hätten sich durch eine besondere Aufgeschlossenheit ausgezeichnet, Klänge mittels Effektgeräten zu verfremden. Dafür waren sie auch bereit und in der Lage zu investieren. "Mit dem Auto konnte ich in der Gegend herumfahren, aber mit dem Synthesizer konnte ich mir die ganze Welt erschließen", wird Hütter zitiert.
Mit diesen Geräten und dem versierten Toningenieur (und hier zum ersten Mal nicht mehr Produzenten) Conny Plank gelang es ihnen, das technisch-romantische Covermotiv von Emil Schult musikalisch lebendig werden zu lassen: Popsymphonie, Konzeptalbum, akustisches Storytelling aus simplen Melodien, vertonter Alltag. "Wir erfinden Geschichten und illustrieren sie mit Musik", sagte der wortkarge Hütter einmal.
Neben den technischen Aspekten widmet sich Reetze ausführlich dem Vertriebserfolg und seinen Ursachen. Besonders in den Vereinigten Staaten schlug die Platte ein, obwohl die Hauptzeile "Fahr'n fahr'n fahr'n auf der Autobahn" wahlweise als Beach-Boys-Zitat oder "fond of the Autobahn" ausgelegt wurde. Jedenfalls erfüllte das Album den Tatbestand des Kuriosums. UKW-Stationen mit geringer Reichweite und hochwertigem Klang waren begeistert von den Stereoeffekten.
Der Titelsong "Autobahn" mit einer Länge von mehr als zwanzig Minuten schlug besonders in den UKW-Collegeradios ein, erst danach kam der Erfolg in den Plattenläden. Anschließend stellte die Band eine dreiminütige Singleauskopplung für den Massenmarkt auf der Mittelwelle her. Danach folgte eine Tournee mit vierzig Stationen. Den Erfolg konnte Kraftwerk nicht mehr wiederholen. Aber sie waren in den Ghettos New Yorks, Detroits und Chicagos eine Größe geworden und somit Quelle für Samples, die ihren Rang in der Pophistorie festigten.
Reetze gelingt eine faktensichere Einführung in eines der Schlüsselwerke deutscher Popmusik. Weil sich die Protagonisten rar machen (Hütter) oder tot sind (Plank, Schneider), musste er mit einer überschaubaren Quellenlage arbeiten und hat das Beste daraus gemacht. Einige Aspekte kommen etwas kurz: Die Bereitschaft bis zuletzt, Pop so zu kuratieren, dass er wie ein Kunstwerk wirkt, dürfte einiges mit dem Zusammenspiel von Kunsthochschule und Popszene in Düsseldorf zu tun haben, das nur in Ansätzen erklärt wird. Auch die Rezeption unter internationalen Künstlern hätte mehr Platz verdient. Reetzes Band erfüllt die Rolle einer gelungenen Einführung, hätte aber noch etwas mehr leisten können. PHILIPP KROHN
Jan Reetze: "Die Geschichte von Kraftwerks 'Autobahn'". Eine Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album.
Halvmall Verlag, Bremen 2024.
162 S., Abb., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main