Ein Buch wie eine persönliche Begegnung. Benedict Wells erzählt von der Faszination des Schreibens und gibt einen tiefen Einblick in sein Leben, von seiner Kindheit bis zu seinen ersten Veröffentlichungen. Anhand eigener und anderer Werke zeigt er anschaulich, wie ein Roman entsteht, was fesselnde Geschichten ausmacht und wie man mit Rückschlägen umgeht. Ein berührendes, lebenskluges und humorvolles Buch - für alle, die Literatur lieben oder selbst schreiben wollen.
»Ein Ausnahmetalent in der jungen deutschen Literatur.« Claudio Armbruster / ZDF ZDF
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dass auch dieses Buch von Benedict Wells wieder ein Erfolg wird, daran hat Kritikerin Cornelia Geißler keinen Zweifel: Eigentlich wollte der Autor erstmal eine Pause vom Schreiben einlegen, stattdessen hat er über das Schreiben selbst geschrieben. Und über sein Leben, die schwierige Familiensituation, seine Zeit im Internat, so Geißler. Es beeindruckt sie, wie Wells nicht aufgibt, obwohl es mit den Romanen erstmal jahrelang nicht klappt und alle Testleser schlechte Rückmeldungen geben. Auch anhand der Bücher, die der Autor gelesen hat, erörtert er die Geheimnisse eines guten Texts und spricht damit eine "großherzige Einladung zum Schreiben" aus, resümiert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.07.2024Am
Schreibtisch
ein bisschen
fliegen
„Die Geschichten in uns“ von
Benedict Wells ist eine Liebeserklärung
an das Schreiben – und zugleich
eine eindringliche Warnung davor.
VON CORNELIUS POLLMER
Dieser Text ist der gescheiterte Versuch, erst mal keinen Text mehr zu schreiben. Er kommt direkt aus einer lächerlichen Schrumpfmasse von Zeit – einem „Urlaub“, für den vorgesehen war, Abstand zu gewinnen von dieser eigentümlichen Tätigkeit, die einen Beruf zu nennen man gelegentlich noch immer zögert: dem Schreiben. Und jetzt? Schreibt man also doch schon wieder. Über ein Buch, das selbst vom Schreiben erzählt. Wie könnte das nicht schiefgehen?
„Dieses Buch ist der gescheiterte Versuch, erst mal kein Buch mehr zu schreiben“, so lautet der erste Satz von „Die Geschichten in uns“ des sehr erfolgreichen Schriftstellers Benedict Wells. Wells erläutert, wie eine Dozententätigkeit in Tateinheit mit der Pandemie ihn dazu brachten, sich neu und intensiver mit dem Prozess des Schreibens auseinanderzusetzen. Im Ergebnis liegt dieser vom Diogenes-Verlag zutreffend als „erzählendes Sachbuch“ klassifizierte Band vor, der den titelgebenden „Geschichten in uns“ in zweieinhalb recht unterschiedlichen Teilen nachsteigt.
Zunächst beschreibt Benedict Wells, warum er persönlich angefangen und nicht mehr aufgehört hat zu schreiben. Er erzählt von den ersten 40 Jahren eines Lebens und auch von dessen teils dramatischen Details. Die schwere Krankheit der Mutter, die ambivalente Lebensverlorenheit des Vaters, viele Jahre voller Absagen von Verlagen und Rückmeldungen von Bekannten wie Freunden, die trotz größter Zugewandtheit Mühe hatten, in den Versuchen des Autors Sätze zu finden, denen sich wenigstens das unverbindlich höfliche Prädikat „vielversprechend“ hätte verleihen lassen.
Schließlich jedoch: einen Agenten überzeugt, beim Wunschverlag Diogenes unter Vertrag gekommen, Erfolge wie „Vom Ende der Einsamkeit“ erschrieben. Wie ein Abziehbild von Spitzwegs armem Poeten saß Benedict Wells offenbar jahrelang in einer Nebenstraße der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg, „ein Zimmer, Dusche in der Küche, Kohleofen“. Heute ist er in 38 Sprachen übersetzt und verkauft so gut, dass sogar seine Versuche über das Scheitern als Schriftsteller verlegt werden.
Auf diesen ersten Teil lässt Wells einen zweiten „über das Schreiben“ folgen. Er erzählt vom initialen „Funken“, der am Anfang jedes Romans stehe, es geht um Figurenentwicklung, das Finden der richtigen Sprache, um Erzählperspektiven und Tempo, den mitunter qualvollen Prozess des Überarbeitens. Schon in diesen beiden ersten Teilen fällt einem als Leser auf, wie erfrischend unerschrocken und hart Wells auf der Suche nach Beispielen gerade mit eigenen Texten ins Gericht geht. In der abschließenden substanziellen Erweiterung dieses zweiten Teils lektoriert der gegenwärtige Wells Passagen des früheren – genau und hart, ohne vernichtend zu sein.
In dieser Weise auf offener Bühne gegen sich selbst anzutreten, ohne gleich wieder in die Koketterie zu flüchten, das trauen sich nicht viele Autoren. Über „Vom Ende der Einsamkeit“ schreibt Benedict Wells, er finde den Text heute „an manchen Tagen an der Grenze zum Kitsch oder darüber“. Aber wenn er das schreibt, dann nicht im Stile seines Protagonisten Marty, über den es im Roman einmal heißt, er hätte „auch Streit in einem leeren Raum anfangen können“. Bei Wells folgt auf die Selbstkritik der Nachsatz: „Aber er ist zumindest das Ehrlichste, was ich schreiben konnte, ohne den Selbstschutz von Ironie und Zynismus.“
Die „Geschichten in uns“ sind damit nicht nur eine teils poetologische, teils biografische Grundsatzrede zur Lage des Schreibens wie des Autors. Sie sind ein typischer Wells: Als durchschnittlich missvergnügter Mensch und Leser trifft einen die offensive Gefühligkeit völlig unvorbereitet. Und es ist immer wieder durchaus herausfordernd, einem – man kann es wirklich nicht anders sagen als mit kaum verborgenen Unverständnis – so unheimlich netten und gelegentlich provozierend harmlosen Erzähler zu begegnen. Aber wichtiger ist doch etwas anderes. Wichtiger ist, dass hier ein talentierter Schriftsteller aufrichtig bis ungeschützt und jedenfalls redlich von seinem Leben und seiner Arbeit berichtet. Das ist, auch dies sei ohne Ironie und Zynismus einmal als wesentlich festgehalten, sehr, sehr schön.
Natürlich kommt ein über das Schreiben schreibender Schriftsteller nicht an all jenen vorbei, die vor ihm schon über das Schreiben geschrieben haben. Benedict Wells führt an: „Das Leben und das Schreiben“ von Stephen King, „Big Magic“ von Elizabeth Gilbert, „Bird by Bird“ von Anne Lamott. Wie ein Doktor einen Medikationsplan erstellt, empfiehlt er außerdem abgestimmt auf Problemlagen und Phasen weitere Titel. Nach der ersten Fassung solle man George Saunders einnehmen, bei „Ängsten, Zweifeln und anderen Blockaden“ verschreibt er „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron.
Hemingway und Fitzgerald fliegen durch die Fußnoten, wobei Wells angenehmerweise jenes Briefzitat auslässt, das den ersten und zweiten Teil seines Buches wie zu aggressiver Sekundenkleber aneinander gebunden hätte: „Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor Du ernsthaft schreiben kannst.“ Eher rahmen die vielen allgemeinen Bezüge und Zitate über das Schreiben diese persönliche Sammlung von Erfahrungen, Erkenntnissen und Werkzeugen, für die gilt, was die ebenfalls zitierte Schriftstellerin und Essayistin Hélène Cixous gesagt hat: „Was ich gelernt habe, kann man nicht verallgemeinern ... Aber man kann es teilen.“
Dieser persönliche Angang ist aus zwei wesentlichen Gründen noch immer der aussichtsreichste Weg, über das Schreiben zu schreiben. Denn „es gibt keine todsicheren Tipps für das Schreiben, nur Übung und das Sammeln von Erfahrungen“, schreibt Benedict Wells. Und wenn man anfange, gebe es nur eine einzige Garantie. Es laufe „nie alles glatt, aber fast immer etwas schief“.
Weil dem so ist und weil ein Roman eben „keine Planwirtschaft“ sein kann, bleibt fast nur der persönliche Blick auf das, was die eigene Welt bedeuten kann. Und im Falle eines Bestsellerlistenautors wie Wells ist es doch interessant, mal nicht ein hundertfach überarbeitetes und feinlektoriertes Ergebnis vieler Jahre geistiger Arbeit in die Hände zu bekommen, sondern eine Introspektion, eine Art Tag der offenen Tür zum Oberstübchen des Schriftstellers. So werden das Glück und noch ein bisschen mehr das Grauen nachvollziehbar, das es bedeuten kann, zu schreiben. „Am Schreibtisch kann ich ein kleines bisschen fliegen“, so Jurek Becker einmal, und nach dem Fliegen und der Landung las er manchmal eigene Texte und kam „zu dem Schluss: Eigentlich sind diese Texte intelligenter, als ich es bin“. War und ist und bleibt das nicht ein Wunder, zumal im Ergebnis eines Prozesses, der – Becker zum Letzten – nichts anderes sei „als eine endlose Reihe von Zweifeln, die zugunsten eines Satzes überwunden werden müssen“?
Nun hat Cordt Schnibben diese Woche in der Zeit einen ausnehmend freundlichen Text über Wells’ neues Buch geschrieben, der – dies am Rande – schon deswegen keine Rezension im eigentlichen Sinn sein kann, weil er ohne Kenntlichmachung möglicherweise sich mindestens überschneidender Interessen mehrfach Bezug nimmt auf eine vom selben Cordt Schnibben verantwortete Bücher-Webseite, die unter Mitwirkung vom selben Benedict Wells gerade frisch bestückt worden ist. In diesem Text jedenfalls wird Bezug genommen auf eine Umfrage, der zufolge die Hälfte aller Deutschen irgendwann mal einen Roman schreiben möchte.
Gott bewahre!, denkt man da als Erstes. Und als Zweites, dass es wohl nie eine Art Schreibführerschein geben wird, zu dessen Erwerb – zum Beispiel – das verpflichtende Lesen der oft berührenden und lehrreichen, manchmal plätschernden, zuweilen auch untiefen „Geschichten in uns“ von Benedict Wells gehört.
Wer dann immer noch loslegen will, für den und die gilt ein Satz aus „Vom Ende der Einsamkeit“ – „Das wahre Talent war der Wille“. Und für den gilt die Erkenntnis von Benedict Wells, dass nicht die Ängste und Zweifel, mithin „die Stimmen im Kopf“ entscheiden, ob es wann und wie auch immer klappt mit dem Schreiben. Denn „wir sind nicht diese Stimme, wir sind, wie wir mit ihr umgehen“.
„Du musst erst furchtbar
verletzt werden, bevor
Du schreiben kannst.“
War und ist
und bleibt das
nicht ein Wunder?
Benedict Wells:
Die Geschichten in uns.
Vom Schreiben und Leben.
Diogenes, Zürich 2024.
400 Seiten, 26 Euro.
Ohne den Selbstschutz von Zynismus oder Ironie: der Schriftsteller Benedict Wells.
Foto: S. Gollnow/picture alliance/dpa
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Schreibtisch
ein bisschen
fliegen
„Die Geschichten in uns“ von
Benedict Wells ist eine Liebeserklärung
an das Schreiben – und zugleich
eine eindringliche Warnung davor.
VON CORNELIUS POLLMER
Dieser Text ist der gescheiterte Versuch, erst mal keinen Text mehr zu schreiben. Er kommt direkt aus einer lächerlichen Schrumpfmasse von Zeit – einem „Urlaub“, für den vorgesehen war, Abstand zu gewinnen von dieser eigentümlichen Tätigkeit, die einen Beruf zu nennen man gelegentlich noch immer zögert: dem Schreiben. Und jetzt? Schreibt man also doch schon wieder. Über ein Buch, das selbst vom Schreiben erzählt. Wie könnte das nicht schiefgehen?
„Dieses Buch ist der gescheiterte Versuch, erst mal kein Buch mehr zu schreiben“, so lautet der erste Satz von „Die Geschichten in uns“ des sehr erfolgreichen Schriftstellers Benedict Wells. Wells erläutert, wie eine Dozententätigkeit in Tateinheit mit der Pandemie ihn dazu brachten, sich neu und intensiver mit dem Prozess des Schreibens auseinanderzusetzen. Im Ergebnis liegt dieser vom Diogenes-Verlag zutreffend als „erzählendes Sachbuch“ klassifizierte Band vor, der den titelgebenden „Geschichten in uns“ in zweieinhalb recht unterschiedlichen Teilen nachsteigt.
Zunächst beschreibt Benedict Wells, warum er persönlich angefangen und nicht mehr aufgehört hat zu schreiben. Er erzählt von den ersten 40 Jahren eines Lebens und auch von dessen teils dramatischen Details. Die schwere Krankheit der Mutter, die ambivalente Lebensverlorenheit des Vaters, viele Jahre voller Absagen von Verlagen und Rückmeldungen von Bekannten wie Freunden, die trotz größter Zugewandtheit Mühe hatten, in den Versuchen des Autors Sätze zu finden, denen sich wenigstens das unverbindlich höfliche Prädikat „vielversprechend“ hätte verleihen lassen.
Schließlich jedoch: einen Agenten überzeugt, beim Wunschverlag Diogenes unter Vertrag gekommen, Erfolge wie „Vom Ende der Einsamkeit“ erschrieben. Wie ein Abziehbild von Spitzwegs armem Poeten saß Benedict Wells offenbar jahrelang in einer Nebenstraße der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg, „ein Zimmer, Dusche in der Küche, Kohleofen“. Heute ist er in 38 Sprachen übersetzt und verkauft so gut, dass sogar seine Versuche über das Scheitern als Schriftsteller verlegt werden.
Auf diesen ersten Teil lässt Wells einen zweiten „über das Schreiben“ folgen. Er erzählt vom initialen „Funken“, der am Anfang jedes Romans stehe, es geht um Figurenentwicklung, das Finden der richtigen Sprache, um Erzählperspektiven und Tempo, den mitunter qualvollen Prozess des Überarbeitens. Schon in diesen beiden ersten Teilen fällt einem als Leser auf, wie erfrischend unerschrocken und hart Wells auf der Suche nach Beispielen gerade mit eigenen Texten ins Gericht geht. In der abschließenden substanziellen Erweiterung dieses zweiten Teils lektoriert der gegenwärtige Wells Passagen des früheren – genau und hart, ohne vernichtend zu sein.
In dieser Weise auf offener Bühne gegen sich selbst anzutreten, ohne gleich wieder in die Koketterie zu flüchten, das trauen sich nicht viele Autoren. Über „Vom Ende der Einsamkeit“ schreibt Benedict Wells, er finde den Text heute „an manchen Tagen an der Grenze zum Kitsch oder darüber“. Aber wenn er das schreibt, dann nicht im Stile seines Protagonisten Marty, über den es im Roman einmal heißt, er hätte „auch Streit in einem leeren Raum anfangen können“. Bei Wells folgt auf die Selbstkritik der Nachsatz: „Aber er ist zumindest das Ehrlichste, was ich schreiben konnte, ohne den Selbstschutz von Ironie und Zynismus.“
Die „Geschichten in uns“ sind damit nicht nur eine teils poetologische, teils biografische Grundsatzrede zur Lage des Schreibens wie des Autors. Sie sind ein typischer Wells: Als durchschnittlich missvergnügter Mensch und Leser trifft einen die offensive Gefühligkeit völlig unvorbereitet. Und es ist immer wieder durchaus herausfordernd, einem – man kann es wirklich nicht anders sagen als mit kaum verborgenen Unverständnis – so unheimlich netten und gelegentlich provozierend harmlosen Erzähler zu begegnen. Aber wichtiger ist doch etwas anderes. Wichtiger ist, dass hier ein talentierter Schriftsteller aufrichtig bis ungeschützt und jedenfalls redlich von seinem Leben und seiner Arbeit berichtet. Das ist, auch dies sei ohne Ironie und Zynismus einmal als wesentlich festgehalten, sehr, sehr schön.
Natürlich kommt ein über das Schreiben schreibender Schriftsteller nicht an all jenen vorbei, die vor ihm schon über das Schreiben geschrieben haben. Benedict Wells führt an: „Das Leben und das Schreiben“ von Stephen King, „Big Magic“ von Elizabeth Gilbert, „Bird by Bird“ von Anne Lamott. Wie ein Doktor einen Medikationsplan erstellt, empfiehlt er außerdem abgestimmt auf Problemlagen und Phasen weitere Titel. Nach der ersten Fassung solle man George Saunders einnehmen, bei „Ängsten, Zweifeln und anderen Blockaden“ verschreibt er „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron.
Hemingway und Fitzgerald fliegen durch die Fußnoten, wobei Wells angenehmerweise jenes Briefzitat auslässt, das den ersten und zweiten Teil seines Buches wie zu aggressiver Sekundenkleber aneinander gebunden hätte: „Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor Du ernsthaft schreiben kannst.“ Eher rahmen die vielen allgemeinen Bezüge und Zitate über das Schreiben diese persönliche Sammlung von Erfahrungen, Erkenntnissen und Werkzeugen, für die gilt, was die ebenfalls zitierte Schriftstellerin und Essayistin Hélène Cixous gesagt hat: „Was ich gelernt habe, kann man nicht verallgemeinern ... Aber man kann es teilen.“
Dieser persönliche Angang ist aus zwei wesentlichen Gründen noch immer der aussichtsreichste Weg, über das Schreiben zu schreiben. Denn „es gibt keine todsicheren Tipps für das Schreiben, nur Übung und das Sammeln von Erfahrungen“, schreibt Benedict Wells. Und wenn man anfange, gebe es nur eine einzige Garantie. Es laufe „nie alles glatt, aber fast immer etwas schief“.
Weil dem so ist und weil ein Roman eben „keine Planwirtschaft“ sein kann, bleibt fast nur der persönliche Blick auf das, was die eigene Welt bedeuten kann. Und im Falle eines Bestsellerlistenautors wie Wells ist es doch interessant, mal nicht ein hundertfach überarbeitetes und feinlektoriertes Ergebnis vieler Jahre geistiger Arbeit in die Hände zu bekommen, sondern eine Introspektion, eine Art Tag der offenen Tür zum Oberstübchen des Schriftstellers. So werden das Glück und noch ein bisschen mehr das Grauen nachvollziehbar, das es bedeuten kann, zu schreiben. „Am Schreibtisch kann ich ein kleines bisschen fliegen“, so Jurek Becker einmal, und nach dem Fliegen und der Landung las er manchmal eigene Texte und kam „zu dem Schluss: Eigentlich sind diese Texte intelligenter, als ich es bin“. War und ist und bleibt das nicht ein Wunder, zumal im Ergebnis eines Prozesses, der – Becker zum Letzten – nichts anderes sei „als eine endlose Reihe von Zweifeln, die zugunsten eines Satzes überwunden werden müssen“?
Nun hat Cordt Schnibben diese Woche in der Zeit einen ausnehmend freundlichen Text über Wells’ neues Buch geschrieben, der – dies am Rande – schon deswegen keine Rezension im eigentlichen Sinn sein kann, weil er ohne Kenntlichmachung möglicherweise sich mindestens überschneidender Interessen mehrfach Bezug nimmt auf eine vom selben Cordt Schnibben verantwortete Bücher-Webseite, die unter Mitwirkung vom selben Benedict Wells gerade frisch bestückt worden ist. In diesem Text jedenfalls wird Bezug genommen auf eine Umfrage, der zufolge die Hälfte aller Deutschen irgendwann mal einen Roman schreiben möchte.
Gott bewahre!, denkt man da als Erstes. Und als Zweites, dass es wohl nie eine Art Schreibführerschein geben wird, zu dessen Erwerb – zum Beispiel – das verpflichtende Lesen der oft berührenden und lehrreichen, manchmal plätschernden, zuweilen auch untiefen „Geschichten in uns“ von Benedict Wells gehört.
Wer dann immer noch loslegen will, für den und die gilt ein Satz aus „Vom Ende der Einsamkeit“ – „Das wahre Talent war der Wille“. Und für den gilt die Erkenntnis von Benedict Wells, dass nicht die Ängste und Zweifel, mithin „die Stimmen im Kopf“ entscheiden, ob es wann und wie auch immer klappt mit dem Schreiben. Denn „wir sind nicht diese Stimme, wir sind, wie wir mit ihr umgehen“.
„Du musst erst furchtbar
verletzt werden, bevor
Du schreiben kannst.“
War und ist
und bleibt das
nicht ein Wunder?
Benedict Wells:
Die Geschichten in uns.
Vom Schreiben und Leben.
Diogenes, Zürich 2024.
400 Seiten, 26 Euro.
Ohne den Selbstschutz von Zynismus oder Ironie: der Schriftsteller Benedict Wells.
Foto: S. Gollnow/picture alliance/dpa
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