Produktdetails
- ISBN-13: 9783868545753
- Artikelnr.: 42231095
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den Gedanken an eine umfassende Demokratie, in der das Gemeinsame nicht über Eigentum, sondern über Beziehungen definiert wird, findet Urs Hafner angenehm. Den Ausführungen des französischen Zeithistorikers Pierre Rosanvallon folgt er daher mit Gewinn. Was den Essay für Hafner zum gedankensprühenden Text macht, sind des Autors historisch fundierte Analysen französischer, aber auch englischer, amerikanischer und deutscher Gleichheits- beziehungsweise Ungleichheitsverhältnisse von der Französischen Revolution bis heute. Rosanvallons sozial- und rechtsphilosophisch grundierte Kritik am Turbokapitalismus mit seinem Pochen auf die Einzigartigkeit des Einzelnen und der Segregation der Gesellschaft, scheint Hafner zwar nicht immer leicht verständlich und mitunter auch widersprüchlich. Doch die Unvoreingenommenheit des Autors, der Umstand, dass er weder kulturpessimistisch noch allzu sehr dem Wohlfahrtszeitalter zugeneigt argumentiert, macht dem Rezensenten das Buch höchst sympathisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2013Wie der Wohlfahrtsstaat gedacht war, bevor Fürsorge zu seiner Aufgabe wurde
Pierre Rosanvallons exzellente Geschichte der Idee der Gleichheit und ihrer gesetzgeberischen Umsetzungen in den vergangenen zweihundert Jahren
Einsam geht der Wählende in die Wahlkabine, um seine Kreuze zu machen. Wenn er sich zuvor mit anderen versammelte, dann höchstens zu einer schweigenden Warteschlange. "Wahlbeteiligung" heißt heute: wie viele wählten. Pierre Rosanvallon erinnert an andere Möglichkeiten der Wahlbeteiligung, an die Urversammlungen etwa in den ersten Wahlen nach 1789, als die Wahlberechtigten eines Bezirks sich oft für zwei bis drei Tage versammelten. 400 bis 900 Personen kamen als Gleichrangige zusammen, um nach Aufruf aus der Wahlliste ihre Stimme offen oder geheim abzugeben. Ohne Zweifel nutzten sie die Gelegenheit, um miteinander zu diskutieren, sie erlebten aber vor allem das demokratische Moment, den Augenblick der Gleichrangigkeit ungeachtet ihrer sozialen Distinktionen.
Rosanvallon hält sich nicht lange mit einer Klage über die aus heutiger Sicht eklatante Ungleichbehandlung der Frauen oder der Tagelöhner in den Anfangstagen der modernen Demokratie auf. Die Wahlgleichheit fiel nicht vom Himmel, sie musste errungen werden, ist heute aber auch nicht mehr bedroht. Die Bedrohungen der Demokratie, die Rosanvallon thematisiert, liegen in der Missachtung der Demokratie als einer Form gemeinsamer Praxis. Demokratie bedeutet für Rosanvallon das Projekt der Verwirklichung einer "Gesellschaft der Gleichen", worunter er Gleichrangigkeit, Ebenbürtigkeit versteht, keine nivellierende Angleichung der Lebensverhältnisse.
Der am Collège de France lehrende Historiker kann seine ideengeschichtliche Herkunft nicht verleugnen. Die Demokratie in der französischen Tradition steht zwischen gesetzgeberischer Gestaltungsmacht in rousseauistischer Manier und der Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen im Zeichen Montesquieus. Die Gesellschaft der Gleichen ist ein politisches Projekt gegen widerstrebende gesellschaftliche Kräfte.
In seiner formidablen Rekonstruktion der Geschichte der Idee der Gleichheit und ihrer gesetzgeberischen Umsetzung der vergangenen zweihundert Jahre macht Rosanvallon deutlich, dass viele gegenwärtige Ungleichheitsentwicklungen Folgen früherer Versuche der Verwirklichung von Gleichheit sind. Die Revolutionäre strebten eine Gemeinschaft der Gleichen an, zusammengesetzt aus sozial unabhängigen (und dadurch in ihrem Votum unbeeinflussbaren) Individuen.
Diese naive Idee der Gleichheit öffnete die Schleusen für die gesellschaftlichen Kräfte im neunzehnten Jahrhundert; der Kapitalismus ersetzte die Stände durch Klassen und desintegrierte die Bürgerschaft. Die Demokratie versuchte sich dieser gesellschaftlichen Kräfte durch die Erfindung des Wohlfahrtsstaates zu erwehren. Der Wohlfahrtsstaat war laut Rosanvallon ursprünglich kein Mechanismus der Umverteilung, er sollte politische Ebenbürtigkeit schaffen. Erst die Unfinanzierbarkeit dieses Projekts in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts reduzierte die Wohlfahrt zur Fürsorge. Chancengleichheit war das Anliegen, Separatismus und Isolationismus auseinanderstrebender sozialer Gemeinschaften das Ergebnis.
Rosanvallon beklagt das gegenwärtige Zeitalter des Separatismus: Menschen schotten sich voneinander ab, schaffen kleine isolierte Lebensräume, in welchen Gleichheit im Sinne der Ähnlichkeit der Interessen und Merkmale verwirklicht wird. An Stelle der Demokratie treten Identitätsgemeinschaften. Zur Singularität des Menschen gehört sein individueller Zuschnitt an Lebensführung, Neigungen und Überzeugungen. Doch was bedeutet es, wenn Menschen sich in gated communities und Identitätsgemeinschaften der Gleichgesinnten flüchten, statt im öffentlichen Raum die gegenseitig verpflichtenden Lebensformen auszuhandeln? Bedenklich sind also nicht allein die reichen Steuerflüchtlinge, die ihre Eigeninteressen dort ansiedeln, wo ihnen am meisten geboten oder am wenigsten abverlangt wird. Rosanvallon thematisiert auch die Frage, ob die sich selbst überlassene Gleichheitsidee nicht zur Abschottung und Absonderung innerhalb der Gesellschaft führt.
Für Rosanvallon bedeutet das demokratische Projekt vor allem die Gleichheit in der Ungleichheit: Die Idee des Bürgers meint jene Gleichrangigkeit, die den Umgang mit der unumgänglichen sozialen und individuellen Ungleichheit erst ermöglicht und ein Miteinander-Handeln und nicht nur Nebeneinander-Leben bewirkt. Rosanvallon schlägt daher vor, die gesetzgeberische Gestaltung von Ehe, Familie, Schule, das Vererben von Vermögen, Städtebaupolitik, Arbeits- und Wirtschaftspolitik sowie die Steuerpolitik als Stellschrauben zur Wiedergewinnung von "Beziehungsgleichheit" zu verstehen. Gleichheit soll nicht aus einer abstrakten Gerechtigkeitsidee abgeleitet werden, sondern sich den Kontexten anpassen und diese miteinander in Beziehung stellen. Das Projekt der Gesellschaft der Gleichen dient hierzu als "realistische Utopie", die Orientierung schafft.
Rosanvallons Modell lässt (wohl vorerst) die internationale Einbettung der nationalen Demokratien außer Acht. Mit seiner Idee des Bürgers ist die europäisch-administrative Utopie des anationalen Konsumenten unvereinbar, welche Gleichheit der Lebensverhältnisse verspricht, aber der Versuchung erliegt, Europäern vorzuschreiben, wie sie leben sollen, damit sie überall gleich leben können. Andererseits ist Europa die Fortsetzung der föderalistischen Idee, des intelligenten Umgangs mit politischer Einheit in der Vielfalt.
Es ist auffällig, dass Rosanvallon einer Auslegung der Menschenrechte misstraut, welche Individuen ungeachtet ihrer demokratischen Verwurzelung Rechte einräumt, als wären sie autonome Inseln in einem anonymen Meer von Einzelgängern. Menschenrechte sind der individuelle Schutz vor staatlicher Tyrannis, erst in Demokratien werden sie gesetzgeberisch in gesellschaftliches Leben verwandelt. Ein kosmopolitisches Regime von international agierenden Gerichten im Namen der Menschenrechte kann auch zur Aushöhlung der Demokratie führen. Andererseits konnte so manche Gesetzgebung erst durch höchstrichterlichen Druck parteipolitische Blockaden überwinden.
Man wird also abwarten dürfen, wie Rosanvallons in französisch-republikanischer Tradition geäußerte Forderung einer "Renationalisierung" der Demokratie mit dem Umstand der Internationalisierung von Politik und Gesellschaft umgehen wird: ob sie auf die demokratische Provinz hinausläuft oder dem Zeitgeist der transnationalen Marginalisierung des Nationalstaates Widerstand leisten möchte.
MARCUS LLANQUE
Pierre Rosanvallon: "Die Gesellschaft der Gleichen".
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2013. 334 S., geb., 33,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pierre Rosanvallons exzellente Geschichte der Idee der Gleichheit und ihrer gesetzgeberischen Umsetzungen in den vergangenen zweihundert Jahren
Einsam geht der Wählende in die Wahlkabine, um seine Kreuze zu machen. Wenn er sich zuvor mit anderen versammelte, dann höchstens zu einer schweigenden Warteschlange. "Wahlbeteiligung" heißt heute: wie viele wählten. Pierre Rosanvallon erinnert an andere Möglichkeiten der Wahlbeteiligung, an die Urversammlungen etwa in den ersten Wahlen nach 1789, als die Wahlberechtigten eines Bezirks sich oft für zwei bis drei Tage versammelten. 400 bis 900 Personen kamen als Gleichrangige zusammen, um nach Aufruf aus der Wahlliste ihre Stimme offen oder geheim abzugeben. Ohne Zweifel nutzten sie die Gelegenheit, um miteinander zu diskutieren, sie erlebten aber vor allem das demokratische Moment, den Augenblick der Gleichrangigkeit ungeachtet ihrer sozialen Distinktionen.
Rosanvallon hält sich nicht lange mit einer Klage über die aus heutiger Sicht eklatante Ungleichbehandlung der Frauen oder der Tagelöhner in den Anfangstagen der modernen Demokratie auf. Die Wahlgleichheit fiel nicht vom Himmel, sie musste errungen werden, ist heute aber auch nicht mehr bedroht. Die Bedrohungen der Demokratie, die Rosanvallon thematisiert, liegen in der Missachtung der Demokratie als einer Form gemeinsamer Praxis. Demokratie bedeutet für Rosanvallon das Projekt der Verwirklichung einer "Gesellschaft der Gleichen", worunter er Gleichrangigkeit, Ebenbürtigkeit versteht, keine nivellierende Angleichung der Lebensverhältnisse.
Der am Collège de France lehrende Historiker kann seine ideengeschichtliche Herkunft nicht verleugnen. Die Demokratie in der französischen Tradition steht zwischen gesetzgeberischer Gestaltungsmacht in rousseauistischer Manier und der Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen im Zeichen Montesquieus. Die Gesellschaft der Gleichen ist ein politisches Projekt gegen widerstrebende gesellschaftliche Kräfte.
In seiner formidablen Rekonstruktion der Geschichte der Idee der Gleichheit und ihrer gesetzgeberischen Umsetzung der vergangenen zweihundert Jahre macht Rosanvallon deutlich, dass viele gegenwärtige Ungleichheitsentwicklungen Folgen früherer Versuche der Verwirklichung von Gleichheit sind. Die Revolutionäre strebten eine Gemeinschaft der Gleichen an, zusammengesetzt aus sozial unabhängigen (und dadurch in ihrem Votum unbeeinflussbaren) Individuen.
Diese naive Idee der Gleichheit öffnete die Schleusen für die gesellschaftlichen Kräfte im neunzehnten Jahrhundert; der Kapitalismus ersetzte die Stände durch Klassen und desintegrierte die Bürgerschaft. Die Demokratie versuchte sich dieser gesellschaftlichen Kräfte durch die Erfindung des Wohlfahrtsstaates zu erwehren. Der Wohlfahrtsstaat war laut Rosanvallon ursprünglich kein Mechanismus der Umverteilung, er sollte politische Ebenbürtigkeit schaffen. Erst die Unfinanzierbarkeit dieses Projekts in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts reduzierte die Wohlfahrt zur Fürsorge. Chancengleichheit war das Anliegen, Separatismus und Isolationismus auseinanderstrebender sozialer Gemeinschaften das Ergebnis.
Rosanvallon beklagt das gegenwärtige Zeitalter des Separatismus: Menschen schotten sich voneinander ab, schaffen kleine isolierte Lebensräume, in welchen Gleichheit im Sinne der Ähnlichkeit der Interessen und Merkmale verwirklicht wird. An Stelle der Demokratie treten Identitätsgemeinschaften. Zur Singularität des Menschen gehört sein individueller Zuschnitt an Lebensführung, Neigungen und Überzeugungen. Doch was bedeutet es, wenn Menschen sich in gated communities und Identitätsgemeinschaften der Gleichgesinnten flüchten, statt im öffentlichen Raum die gegenseitig verpflichtenden Lebensformen auszuhandeln? Bedenklich sind also nicht allein die reichen Steuerflüchtlinge, die ihre Eigeninteressen dort ansiedeln, wo ihnen am meisten geboten oder am wenigsten abverlangt wird. Rosanvallon thematisiert auch die Frage, ob die sich selbst überlassene Gleichheitsidee nicht zur Abschottung und Absonderung innerhalb der Gesellschaft führt.
Für Rosanvallon bedeutet das demokratische Projekt vor allem die Gleichheit in der Ungleichheit: Die Idee des Bürgers meint jene Gleichrangigkeit, die den Umgang mit der unumgänglichen sozialen und individuellen Ungleichheit erst ermöglicht und ein Miteinander-Handeln und nicht nur Nebeneinander-Leben bewirkt. Rosanvallon schlägt daher vor, die gesetzgeberische Gestaltung von Ehe, Familie, Schule, das Vererben von Vermögen, Städtebaupolitik, Arbeits- und Wirtschaftspolitik sowie die Steuerpolitik als Stellschrauben zur Wiedergewinnung von "Beziehungsgleichheit" zu verstehen. Gleichheit soll nicht aus einer abstrakten Gerechtigkeitsidee abgeleitet werden, sondern sich den Kontexten anpassen und diese miteinander in Beziehung stellen. Das Projekt der Gesellschaft der Gleichen dient hierzu als "realistische Utopie", die Orientierung schafft.
Rosanvallons Modell lässt (wohl vorerst) die internationale Einbettung der nationalen Demokratien außer Acht. Mit seiner Idee des Bürgers ist die europäisch-administrative Utopie des anationalen Konsumenten unvereinbar, welche Gleichheit der Lebensverhältnisse verspricht, aber der Versuchung erliegt, Europäern vorzuschreiben, wie sie leben sollen, damit sie überall gleich leben können. Andererseits ist Europa die Fortsetzung der föderalistischen Idee, des intelligenten Umgangs mit politischer Einheit in der Vielfalt.
Es ist auffällig, dass Rosanvallon einer Auslegung der Menschenrechte misstraut, welche Individuen ungeachtet ihrer demokratischen Verwurzelung Rechte einräumt, als wären sie autonome Inseln in einem anonymen Meer von Einzelgängern. Menschenrechte sind der individuelle Schutz vor staatlicher Tyrannis, erst in Demokratien werden sie gesetzgeberisch in gesellschaftliches Leben verwandelt. Ein kosmopolitisches Regime von international agierenden Gerichten im Namen der Menschenrechte kann auch zur Aushöhlung der Demokratie führen. Andererseits konnte so manche Gesetzgebung erst durch höchstrichterlichen Druck parteipolitische Blockaden überwinden.
Man wird also abwarten dürfen, wie Rosanvallons in französisch-republikanischer Tradition geäußerte Forderung einer "Renationalisierung" der Demokratie mit dem Umstand der Internationalisierung von Politik und Gesellschaft umgehen wird: ob sie auf die demokratische Provinz hinausläuft oder dem Zeitgeist der transnationalen Marginalisierung des Nationalstaates Widerstand leisten möchte.
MARCUS LLANQUE
Pierre Rosanvallon: "Die Gesellschaft der Gleichen".
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2013. 334 S., geb., 33,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein epochales Werk.« DIE ZEIT