Gabriel Tarde war zu Lebzeiten neben Émile Durkheim die Hauptfigur der Soziologie in Frankreich. In seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung von 1890 entwirft er eine Soziologie, die die Erklärung jeglicher gesellschaftlichen Veränderung aus dem Begriff der »Nachahmung« gewinnt: »Gesellschaft ist Nachahmung!« Anstatt den Blick auf Individuen und Gruppen zu richten, konzentriert sich Tarde auf die Handlungen und Ideen, nach denen diese Individuen und Gruppen klassifiziert werden. An ihnen liest er die Variablen und Regularitäten ab, die das Muster des Sozialen bilden. Diese Gesetzmäßigkeiten und die fundamentale Rolle der Nachahmung für soziale Phänomene überhaupt untersucht Tarde anhand einer Fülle von konkreten Beispielen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Entstanden ist ein Meisterwerk der Soziologie, dessen Einfluß u.a. auf Gilles Deleuze, Bruno Latour, Peter Sloterdijk und die moderne Theorie der Meme von seiner ungebrochenen Aktualität zeugt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine Revision steht an, meint der Rezensent Martin Stempfhuber, und zwar des ganzen Fachs der Soziologie. Nach abseits der Disziplin stehenden Denkern wie Deleuze/Guattari bringt nun auch der abtrünnige Bourdieu-Schüler Bruno Latour den frühen Soziologen Gabriel Tarde wieder ins Spiel. Der hatte einst die Fehde um die Grundlegung der Soziologie gegen den Kollegen Emile Durkheim verloren. Gegen dessen vermeintliche "soziale Tatsachen" führte Tarde das Prinzip der "Nachahmung" als Basisfaktor des Gesellschaftlichen ins Feld. Von heute aus kann man sehen, so Stempfhuber, welche Vorzüge dieser Gegenentwurf hat. In der Nachahmung, wie Tarde sie denkt - nämlich ohne Akteur mit stark wirkender Intentionalität -, ist die Variation und also der Wiederholung die Differenz stets schon eingeschrieben. Da liegt ein wichtiger Unterschied zu den starr gedachten Oppositionen der Strukturalisten. Am Beispiel des Händeschüttelns führt Tarde das nach Ansicht des Rezensenten zwar zeitgebunden, aber sehr überzeugend vor. Anwendbar wäre das heute sehr wohl, so Stempfhuber, auf die Massenmedien, die weltweite Ähnlichkeiten ausprägen, bei deren Rezeption Differenzen andererseits niemals ausbleiben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2003Intelligenz ist, wenn man klaut
Alles nur Nachahmung: Gabriel de Tarde leitet die Zivilisation aus dem Herdentrieb ab
Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ist ein Kind der beiden letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. Rückblickend stehen dafür in Frankreich vor allem Emile Durkheim und seine Equipe. Doch es gab eine Reihe konkurrierender Programme, und Durkheim sah sich nicht zuletzt verstrickt in eine sich verschärfende Dauerkontroverse mit einem Autor, der schon etabliert war: mit Gabriel de Tarde (1843 bis 1904). Dieser war hoher Verwaltungsbeamter zunächst in seiner Vaterstadt Sarlat, später im Pariser Justizministerium, zugleich Kriminologe, Statistiker, Philosoph und Soziologe. Seit 1900 lehrte er am Collège de France, bereits 1890 hatte er seine soziologisch-programmatische Schrift über "Die Gesetze der Nachahmung" vorgelegt.
Dieses Buch liegt nun im Jahre 2003 erstmals in deutscher Übersetzung vor. Zu tun hat das damit, daß der Kampf um die Soziologie und ihre Grenzen in jüngster Zeit neu entflammt ist. Muß die geltende Geschichte des Faches umgeschrieben werden, ist der Lorbeer des "Klassischen" neu zu verteilen, kann der "Sieg" der Durkheimianer rückgängig gemacht werden? Kommt alle Ehre nun de Tarde zu - Tarde, dem intellektuellen Einzelgänger und Selbstdenker, der in den 1890er Jahren durchaus ein Erfolgsautor war, der literarische Neigungen hatte und der sein Publikum in der "besseren Gesellschaft" des Frankreichs seiner Zeit suchte und fand?
Brauch statt Gebrauch
"Die Gesellschaft ist Nachahmung" lautet der berühmteste Satz de Tardes. In der unendlichen Vielzahl der sozial aneinander anschließenden Akte des Imitierens (und des Imitierens des Imitierens) stellt die Gesellschaft sich her. Diese Idee, das soziale Geschehen auf imitativem (und keinem anderen) Wege zusammengeschlossen zu denken, stattete de Tarde nun mit einem Fundament aus, das über das Feld des Sozialen weit hinausreichte. Die physikalische Welt kennt, wie de Tarde es sieht, die Wiederholung als Schwingung, die organische Welt hat sie als Reproduktion und Vererbung, die soziale hat sie in Gestalt der Nachahmung. Dieser teils wissenschaftliche, teils metaphysische Unterbau bringt Soziologie in die respektable Nachbarschaft zu Physik und Biologie. Solche Anlehnung an andere, an reputationsstarke Disziplinen stattet die Nachahmung mit metasozialer Rückendeckung aus. De Tarde erschöpft sich nun aber keineswegs in der Anlehnung und Analogie. Die Differenz des Sozialen gegenüber dem Biologischen, die Befreiung der Nachahmung von der Vererbung macht er mit Nachdruck geltend. Sie verschafft dem Sozialen seine eigene Evolution, seinen eigenen Spielraum für Erfindungen oder Entdeckungen hier und für Nachahmung und Verbreitung dort.
Die Tardesche Soziologie ist um den Gegensatz von Erfindung und Nachahmung herum organisiert. Bedeutet das nicht einen zu engen Blick auf das weite Feld des Sozialen? Man kann die Frage verneinen, denn de Tardes Geschick, in den sozialen Verhältnissen imitative Handlungsmuster zu entdecken und sichtbar zu machen, ist beträchtlich, und eine Vielfalt von Sozialformen werden auf die Art zur Sprache gebracht.
Nachdrücklich etwa führt de Tarde den Blick auf die normativen Sachverhalte, auf Konformität und Abweichung, auf Verhaltensregelmäßigkeiten und soziale Kontrolle. Auch alle Verhältnisse von Belehrung und Lernen, zumal solche, die Vorbilder bieten, werden unter das Dach der Nachahmung gezogen. Der soziale Konflikt ist Nachahmung mit negativem Vorzeichen: Man tut das Gegenteil des Vorbilds und bindet sich negatorisch an es. Zugleich geraten die großen Imitationskomplexe häufig in Widerspruch zueinander, Neuerungen bringen sie in evolutionären Verdrängungswettbwerb. Bei de Tarde hat das den Titel des "logischen Zweikampfes".
Schließlich sind auch die sozialen Reichweiten der Nachahmung Thema des Buchs. Unter dem Titel der Mode verhandelt de Tarde das grenzüberschreitende Imitieren; hier sieht er starke Tendenzen zu einem Weltverkehr am Werk, den nationale Grenzen oder (wie zeitgenössisch unvermeidlich) Rassenschranken nicht aufhalten. Gebrochen werden solche Tendenzen aber immer wieder durch das, was im Deutschen "Brauch" heißt und in der ansonsten tadellosen Übersetzung von Jadja Wolf konstant-mißbräuchlich "Gebrauch" genannt wird. Gemeint ist damit die rückwärts orientierte Nachahmung, also das traditionale Kollektiv- und Kulturgut, das sich an die Vorväter bindet und darin ethnisch Eigenes gegenüber Fremdem in Geltung hält.
All das illustriert de Tarde auf den verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten, auf denen der Sprache und der Sprachen, der Religion und der Moral, der politischen und Rechtsverhältnisse. Natürlich sind die Ökonomie, der Markt und die Strukturierung der Bedürfnisse in de Tardes Blick. Große Aufmerksamkeit findet auch die Entwicklung der Kunst, und die Schichtungsverhältnisse kommen vor allem in dem Sinne zur Sprache, daß Nachahmung und Diffusion immer den Weg von oben nach unten nehmen.
Das, was die Imitationsbegrifflichkeit am Sozialen erschließt, ist also alles andere als eng und armselig. Allerdings besteht doch erheblicher Anlaß zu der Durkheimschen Frage, ob de Tarde den Nachahmungsbegriff nicht doch überfordert - dies zumal da, wo die soziale Gleichförmigkeit und Wiederholung machtbewirkt und erzwungen sind, und wo es mithin um die Unterbindung des Andershandelns geht. Es hat wohl mit de Tardes Präferenz für die höheren Soziallagen zu tun, daß ihm, was solche unfreiwillige Nachahmung angeht, kaum Bedenken kommen. Und daß sich die Einheit des Sozialen auf dem Wege der Imitation herstellt, mag man de Tarde erst recht nicht abnehmen, wenn man hört, daß er dabei eben doch bevorzugt die Konformität der Massen im Sinn hat: "Denn was die Menschen verbindet, ist das Dogma und die Macht."
Die Frage nun, die sich auf de Tarde hin für eine evolutionäre Soziologie mit Vorrang stellt, ist, wie man Erfindung und Nachahmung, Innovation und Ausbreitung zueinander ins Verhältnis setzt und dabei die Gewichte verteilt. Macht das zeitlich-soziale "Nach" an der Nachahmung einen Unterschied, oder macht es ihn eher nicht?
Hier nun gibt es gelegentlich Passagen in de Tardes Buch, die den innovativen Anfang klein schreiben, ihn eher zufällig anfallen lassen. Das soziologisch Wesentliche liegt dann auf der Seite der Ausbreitung, der Diffusion. Diese ist der sozial anspruchsvolle Vorgang; der Imitator erst macht die Erfindung bleibend. Auf die Intelligenz des Nachahmens kommt es an. Lernen also und die weiter imitierbare Aneignung und Übernahme erscheinen so als das Maßgebliche. Ausbreitung und generationsfeste Stabilisierung treten hinzu.
Großer Anfang, kleiner Anfang
Bezogen auf die Zähmung des Pferdes - statt seiner Ausrottung durch den menschlichen Jäger - sagt de Tarde aber eher halbherzig: "Die Idee der Zähmung ist also weit davon entfernt, sich aufzuzwingen. Es muß ein einzelner Zufall gewesen sein, durch den das Pferd zum Haustier wurde. Seine Zähmung hat sich schließlich durch Nachahmung ausgebreitet. Und was für diesen Vierfüßler gilt, stimmt zweifellos für alle Haustiere und Kulturpflanzen. Man stelle sich vor, was aus der Menschheit ohne diese Urerfindungen geworden wäre!" Dieser Ausruf (am Ende des Zitats) setzt den Akzent dann aber deutlich gegenläufig, er macht die Erfindung stark, die nun wie eine zurechenbare Handlung auftritt und der ein Erfinder zugehört. Und das führt auf die Sicht, die im Buch klar dominiert.
Danach ist die Erfindung, der punktuelle Anfang das Wesentliche. Die Innovation, sie ist das Unwahrscheinliche. Jenseits alles Erzwungenen ist sie kreative Neuschöpfung und Produkt von Erfindergeist oder sonst Ingeniösem. Und also sind es bei de Tarde nicht soziale Bedürfnisse und Notwendigkeiten, die die Neuerungen und Erfindungen herbeiführen. Vielmehr hängen sich die Bedürfnisse an die neuartigen Befriedigungen, die die Erfindungen im Gefolge haben. Die Imitation und Verbreitung solcher Neuerungen aber verstehen sich als sozialer Prozeß dann weitgehend von selbst. Sie geraten bei de Tarde teilweise in die Nähe des "Herdentriebs".
Auf diese Art aber lädt sich sich die Unterscheidung von Erfindung und Nachahmung mit einem evolutionsbezogenen Klassenunterschied auf: hier die Erfinder, die wenigen Kreativen, dort die Nachahmer, die Masse der Unproduktiven, die nur kopiert und wiederholt. Auch wenn das Buch diese Tendenz - und gar die Disposition ins Massenpsychologische - in geringerem Maße hat, als es ihm nachgesagt wird, so hat es sie doch. Und so ist man am Ende geneigt zu sagen: Der Theoretiker der Imitation neigt dazu, seinen Gegenstand zu deklassieren, er unterschätzt das sozial Anspruchsvolle der Nachahmung. Und daß der Autor sich selbst auf der vornehmeren Seite jenes Klassenunterschieds weiß, bedarf des Nachweises nicht.
HARTMANN TYRELL
Gabriel de Tarde: "Die Gesetze der Nachahmung". Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 416 S., geb., 35,90 [Euro].
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Alles nur Nachahmung: Gabriel de Tarde leitet die Zivilisation aus dem Herdentrieb ab
Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ist ein Kind der beiden letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. Rückblickend stehen dafür in Frankreich vor allem Emile Durkheim und seine Equipe. Doch es gab eine Reihe konkurrierender Programme, und Durkheim sah sich nicht zuletzt verstrickt in eine sich verschärfende Dauerkontroverse mit einem Autor, der schon etabliert war: mit Gabriel de Tarde (1843 bis 1904). Dieser war hoher Verwaltungsbeamter zunächst in seiner Vaterstadt Sarlat, später im Pariser Justizministerium, zugleich Kriminologe, Statistiker, Philosoph und Soziologe. Seit 1900 lehrte er am Collège de France, bereits 1890 hatte er seine soziologisch-programmatische Schrift über "Die Gesetze der Nachahmung" vorgelegt.
Dieses Buch liegt nun im Jahre 2003 erstmals in deutscher Übersetzung vor. Zu tun hat das damit, daß der Kampf um die Soziologie und ihre Grenzen in jüngster Zeit neu entflammt ist. Muß die geltende Geschichte des Faches umgeschrieben werden, ist der Lorbeer des "Klassischen" neu zu verteilen, kann der "Sieg" der Durkheimianer rückgängig gemacht werden? Kommt alle Ehre nun de Tarde zu - Tarde, dem intellektuellen Einzelgänger und Selbstdenker, der in den 1890er Jahren durchaus ein Erfolgsautor war, der literarische Neigungen hatte und der sein Publikum in der "besseren Gesellschaft" des Frankreichs seiner Zeit suchte und fand?
Brauch statt Gebrauch
"Die Gesellschaft ist Nachahmung" lautet der berühmteste Satz de Tardes. In der unendlichen Vielzahl der sozial aneinander anschließenden Akte des Imitierens (und des Imitierens des Imitierens) stellt die Gesellschaft sich her. Diese Idee, das soziale Geschehen auf imitativem (und keinem anderen) Wege zusammengeschlossen zu denken, stattete de Tarde nun mit einem Fundament aus, das über das Feld des Sozialen weit hinausreichte. Die physikalische Welt kennt, wie de Tarde es sieht, die Wiederholung als Schwingung, die organische Welt hat sie als Reproduktion und Vererbung, die soziale hat sie in Gestalt der Nachahmung. Dieser teils wissenschaftliche, teils metaphysische Unterbau bringt Soziologie in die respektable Nachbarschaft zu Physik und Biologie. Solche Anlehnung an andere, an reputationsstarke Disziplinen stattet die Nachahmung mit metasozialer Rückendeckung aus. De Tarde erschöpft sich nun aber keineswegs in der Anlehnung und Analogie. Die Differenz des Sozialen gegenüber dem Biologischen, die Befreiung der Nachahmung von der Vererbung macht er mit Nachdruck geltend. Sie verschafft dem Sozialen seine eigene Evolution, seinen eigenen Spielraum für Erfindungen oder Entdeckungen hier und für Nachahmung und Verbreitung dort.
Die Tardesche Soziologie ist um den Gegensatz von Erfindung und Nachahmung herum organisiert. Bedeutet das nicht einen zu engen Blick auf das weite Feld des Sozialen? Man kann die Frage verneinen, denn de Tardes Geschick, in den sozialen Verhältnissen imitative Handlungsmuster zu entdecken und sichtbar zu machen, ist beträchtlich, und eine Vielfalt von Sozialformen werden auf die Art zur Sprache gebracht.
Nachdrücklich etwa führt de Tarde den Blick auf die normativen Sachverhalte, auf Konformität und Abweichung, auf Verhaltensregelmäßigkeiten und soziale Kontrolle. Auch alle Verhältnisse von Belehrung und Lernen, zumal solche, die Vorbilder bieten, werden unter das Dach der Nachahmung gezogen. Der soziale Konflikt ist Nachahmung mit negativem Vorzeichen: Man tut das Gegenteil des Vorbilds und bindet sich negatorisch an es. Zugleich geraten die großen Imitationskomplexe häufig in Widerspruch zueinander, Neuerungen bringen sie in evolutionären Verdrängungswettbwerb. Bei de Tarde hat das den Titel des "logischen Zweikampfes".
Schließlich sind auch die sozialen Reichweiten der Nachahmung Thema des Buchs. Unter dem Titel der Mode verhandelt de Tarde das grenzüberschreitende Imitieren; hier sieht er starke Tendenzen zu einem Weltverkehr am Werk, den nationale Grenzen oder (wie zeitgenössisch unvermeidlich) Rassenschranken nicht aufhalten. Gebrochen werden solche Tendenzen aber immer wieder durch das, was im Deutschen "Brauch" heißt und in der ansonsten tadellosen Übersetzung von Jadja Wolf konstant-mißbräuchlich "Gebrauch" genannt wird. Gemeint ist damit die rückwärts orientierte Nachahmung, also das traditionale Kollektiv- und Kulturgut, das sich an die Vorväter bindet und darin ethnisch Eigenes gegenüber Fremdem in Geltung hält.
All das illustriert de Tarde auf den verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten, auf denen der Sprache und der Sprachen, der Religion und der Moral, der politischen und Rechtsverhältnisse. Natürlich sind die Ökonomie, der Markt und die Strukturierung der Bedürfnisse in de Tardes Blick. Große Aufmerksamkeit findet auch die Entwicklung der Kunst, und die Schichtungsverhältnisse kommen vor allem in dem Sinne zur Sprache, daß Nachahmung und Diffusion immer den Weg von oben nach unten nehmen.
Das, was die Imitationsbegrifflichkeit am Sozialen erschließt, ist also alles andere als eng und armselig. Allerdings besteht doch erheblicher Anlaß zu der Durkheimschen Frage, ob de Tarde den Nachahmungsbegriff nicht doch überfordert - dies zumal da, wo die soziale Gleichförmigkeit und Wiederholung machtbewirkt und erzwungen sind, und wo es mithin um die Unterbindung des Andershandelns geht. Es hat wohl mit de Tardes Präferenz für die höheren Soziallagen zu tun, daß ihm, was solche unfreiwillige Nachahmung angeht, kaum Bedenken kommen. Und daß sich die Einheit des Sozialen auf dem Wege der Imitation herstellt, mag man de Tarde erst recht nicht abnehmen, wenn man hört, daß er dabei eben doch bevorzugt die Konformität der Massen im Sinn hat: "Denn was die Menschen verbindet, ist das Dogma und die Macht."
Die Frage nun, die sich auf de Tarde hin für eine evolutionäre Soziologie mit Vorrang stellt, ist, wie man Erfindung und Nachahmung, Innovation und Ausbreitung zueinander ins Verhältnis setzt und dabei die Gewichte verteilt. Macht das zeitlich-soziale "Nach" an der Nachahmung einen Unterschied, oder macht es ihn eher nicht?
Hier nun gibt es gelegentlich Passagen in de Tardes Buch, die den innovativen Anfang klein schreiben, ihn eher zufällig anfallen lassen. Das soziologisch Wesentliche liegt dann auf der Seite der Ausbreitung, der Diffusion. Diese ist der sozial anspruchsvolle Vorgang; der Imitator erst macht die Erfindung bleibend. Auf die Intelligenz des Nachahmens kommt es an. Lernen also und die weiter imitierbare Aneignung und Übernahme erscheinen so als das Maßgebliche. Ausbreitung und generationsfeste Stabilisierung treten hinzu.
Großer Anfang, kleiner Anfang
Bezogen auf die Zähmung des Pferdes - statt seiner Ausrottung durch den menschlichen Jäger - sagt de Tarde aber eher halbherzig: "Die Idee der Zähmung ist also weit davon entfernt, sich aufzuzwingen. Es muß ein einzelner Zufall gewesen sein, durch den das Pferd zum Haustier wurde. Seine Zähmung hat sich schließlich durch Nachahmung ausgebreitet. Und was für diesen Vierfüßler gilt, stimmt zweifellos für alle Haustiere und Kulturpflanzen. Man stelle sich vor, was aus der Menschheit ohne diese Urerfindungen geworden wäre!" Dieser Ausruf (am Ende des Zitats) setzt den Akzent dann aber deutlich gegenläufig, er macht die Erfindung stark, die nun wie eine zurechenbare Handlung auftritt und der ein Erfinder zugehört. Und das führt auf die Sicht, die im Buch klar dominiert.
Danach ist die Erfindung, der punktuelle Anfang das Wesentliche. Die Innovation, sie ist das Unwahrscheinliche. Jenseits alles Erzwungenen ist sie kreative Neuschöpfung und Produkt von Erfindergeist oder sonst Ingeniösem. Und also sind es bei de Tarde nicht soziale Bedürfnisse und Notwendigkeiten, die die Neuerungen und Erfindungen herbeiführen. Vielmehr hängen sich die Bedürfnisse an die neuartigen Befriedigungen, die die Erfindungen im Gefolge haben. Die Imitation und Verbreitung solcher Neuerungen aber verstehen sich als sozialer Prozeß dann weitgehend von selbst. Sie geraten bei de Tarde teilweise in die Nähe des "Herdentriebs".
Auf diese Art aber lädt sich sich die Unterscheidung von Erfindung und Nachahmung mit einem evolutionsbezogenen Klassenunterschied auf: hier die Erfinder, die wenigen Kreativen, dort die Nachahmer, die Masse der Unproduktiven, die nur kopiert und wiederholt. Auch wenn das Buch diese Tendenz - und gar die Disposition ins Massenpsychologische - in geringerem Maße hat, als es ihm nachgesagt wird, so hat es sie doch. Und so ist man am Ende geneigt zu sagen: Der Theoretiker der Imitation neigt dazu, seinen Gegenstand zu deklassieren, er unterschätzt das sozial Anspruchsvolle der Nachahmung. Und daß der Autor sich selbst auf der vornehmeren Seite jenes Klassenunterschieds weiß, bedarf des Nachweises nicht.
HARTMANN TYRELL
Gabriel de Tarde: "Die Gesetze der Nachahmung". Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 416 S., geb., 35,90 [Euro].
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