Michel Wieviorka untersucht die veränderten Gewaltformen und deren Herausforderungen für die Politik.
Die Gewalt war bis in die 1980er Jahre noch nicht die zentrale Figur des Bösen. Man sprach von sozialen Beziehungen und somit von Konflikten und erfasste das Gemeinschaftsleben im Rahmen der Nationalstaaten. Heute ist die Gewalt an die Stelle des Konflikts getreten, und die kulturellen Identitäten erzeugen Spannungen und Ängste. Terrorismus und Krieg siegen über die friedlichen Verhandlungen und vertiefen täglich das weltweite Politikdefizit.
Die Gewalt entfaltet sich über diese Phänomene, sie stellt das Böse dar, und die große Frage lautet, ob es möglich ist, ihr das Gute entgegenzusetzen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Gewalt war bis in die 1980er Jahre noch nicht die zentrale Figur des Bösen. Man sprach von sozialen Beziehungen und somit von Konflikten und erfasste das Gemeinschaftsleben im Rahmen der Nationalstaaten. Heute ist die Gewalt an die Stelle des Konflikts getreten, und die kulturellen Identitäten erzeugen Spannungen und Ängste. Terrorismus und Krieg siegen über die friedlichen Verhandlungen und vertiefen täglich das weltweite Politikdefizit.
Die Gewalt entfaltet sich über diese Phänomene, sie stellt das Böse dar, und die große Frage lautet, ob es möglich ist, ihr das Gute entgegenzusetzen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2006In die Lücken schlagen
Michel Wieviorka sucht das Subjekt der neuen Formen von Gewalt
Die Gewalt, so eine der Gewissheiten der alten Bundesrepublik, war bislang beherrschbar. Sie war innenpolitisch weitgehend domestiziert durch Konfliktregulierung zwischen Kapital und Arbeit und außenpolitisch durch die klaren ideologischen Grenzziehungen des Kalten Krieges. Wo sie dennoch ausbrach, hatte der Staat für Ordnung zu sorgen. Diese Gewissheiten aber gibt es nicht mehr, argumentiert der französische Soziologe Michel Wieviorka in seinem Buch „Die Gewalt”, weil der Rückzug des Staates aus vielen Zuständigkeiten, das Verschwimmen konträrer politischer Positionen, die Zersplitterung der Lebensstile in der gegenwärtigen Moderne und die Deregulierungen durch die weltweite wirtschaftliche und mediale Globalisierung neue Anforderungen an das Individuum stellen. So entstünden neue Formen von Gewalt dort, wo sich Leerstellen auftun.
Diese Beschreibungen einer krisenhaften Zuspitzung in der Spätmoderne oder Postmoderne oder wie immer man unseren Standort benennen soll, sind nicht neu, aber sie dienen Wieviorka, der an der École des Hautes Études en Science Sociale in Paris lehrt, auch nur als Ausgangspunkt, um einen wissenschaftlichen Rückstand, ein Forschungsdesiderat zu markieren. Wieviorka moniert, mit Recht, dass wir mit dem alten soziologischen Handwerkszeug, das die Gewalt immer nur in Verbindung mit dem Staat thematisiert hat, nichts mehr anfangen können. Die Gewalt entsteht und entwickelt sich dort, wo der Staat ausfällt. Und genau diese Erkenntnis erfordere eine neue Gewalttheorie, in deren Mittelpunkt das Subjekt steht, schreibt Wieviorka.
Wenn man sich an die recht hilflosen Erklärungsversuche französischer Intellektueller erinnert, die die Gewaltausbrüche in und aus den Pariser Vororten wie André Glucksmann beispielsweise mit dem Nihilismus der aufbegehrenden Migrantenkinder begründeten, dann tut genaues Hinsehen und und vor allen Dingen genaues Unterscheiden wahrlich not. Zumal es Gewaltformen wie den Terrorismus und organisierte Attentate ja nicht erst seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert gibt. Die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols reicht weiter zurück - ohne dass diese Tatsache bisher hinreichend reflektiert worden wäre.
Auf dem Vormarsch seien heute - global gesehen - Gewaltformen, so Wieviorkas Ansatz, die mit den Schwierigkeiten verbunden seien, sich in unserer radikal im Wandel begriffenen Welt als Subjekt zu konstituieren. Dabei führt der Soziologe verschiedene Subjektbegriffe ein, wie „das frei flottierende Subjekt”, „das Hypersubjekt”, „das Nicht-Subjekt” oder das „Anti-Subjekt”, die jeweils gekennzeichnet seien durch Sinnverlust, Wiederaufladung mit neuem Sinn wie im religiösen Kontext oder auch durch Sinnverweigerung bei puren Exzessen.
Der Märtyrer bekriegt sich selbst
Dass diese Kategorien nur einen ersten Schritt zu einer zeitgemäßen Gewalttheorie bilden können und noch dazu schwer fassbar sind, da sie sich auch noch gegenseitig durchdringen, räumt Wieviorka selbst ein, tut aber auch leider zu wenig, um sie anschaulich mit Beispielen zu illustrieren. So muss man sich teilweise einen mühsamen Weg bahnen durch ein anspruchsvolles Definitionengeflecht, um dann doch zu der einen oder anderen Erkenntnisperle vorzudringen. So ist etwa der Gedanke interessant, dass der islamistische Märtyrer und seine religiös aufgeladene „Hypersubjektivität” der Moderne und dem modernen Individualismus, durch die er sich herausgefordert fühle, durchaus nicht fremd sei. Man kann Wieviorka so interpretieren, dass der Märtyrer durch seine Tat eine individuelle Enttäuschung markiert, weil dieselbe Moderne, die er und seine Gemeinschaft bekämpfen, diese Gemeinschaft bereits durchdrungen hat und sie damit - was ihre scheinbar ehernen religiösen und kulturellen Grundsätze angeht - virtuell geworden ist.
Nachdenkenswert ist auch die Vermutung des Soziologen, dass die Jahre der absoluten Ablehnung der Gewalt durch die Intellektuellen vielleicht hinter uns liegen, weil der Terrorismus eines Osama bin Laden weltweit nicht nur Entsetzen mobilisiere, sondern durchaus auch Sympathien und damit radikales Denken begünstige.
Wie „dem Bösen”, das uns heute in so unterschiedlichen Gewändern gegenübertritt, nun zu begegnen sei, darauf gibt Michel Wieviorka am Schluss des Buches so allgemeine Antworten, dass sie hier getrost ausgespart werden können. Sein Verdienst bleibt aber, das Subjekt in der gegenwärtigen Gewaltdebatte in den Vordergrund gestellt zu haben. Und zwar das Subjekt mit seinen Möglichkeiten der Entscheidungsfreiheit - jenseits von Gehorsamskultur und Fremdbestimmung, wie es noch Hannah Arendt auf Nazitäter wie Adolf Eichmann angewendet hatte. Es gehört zur Klugheit dieses Buches, Denker wie Arendt, Primo Levi oder Norbert Elias mit ihrem Nachdenken über menschliche Gewalt nicht ad acta zu legen, sondern ihre Gedanken und Theorien in einen historisch veränderten Kontext einzubetten und damit die notwendig gewordenen Korrekturen plausibel zu machen.
ANGELA GUTZEIT
MICHEL WIEVIORKA: Die Gewalt. Aus dem Französischen von Michael Bayer. Hamburger Edition, Hamburg 2006. 230 Seiten, 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Michel Wieviorka sucht das Subjekt der neuen Formen von Gewalt
Die Gewalt, so eine der Gewissheiten der alten Bundesrepublik, war bislang beherrschbar. Sie war innenpolitisch weitgehend domestiziert durch Konfliktregulierung zwischen Kapital und Arbeit und außenpolitisch durch die klaren ideologischen Grenzziehungen des Kalten Krieges. Wo sie dennoch ausbrach, hatte der Staat für Ordnung zu sorgen. Diese Gewissheiten aber gibt es nicht mehr, argumentiert der französische Soziologe Michel Wieviorka in seinem Buch „Die Gewalt”, weil der Rückzug des Staates aus vielen Zuständigkeiten, das Verschwimmen konträrer politischer Positionen, die Zersplitterung der Lebensstile in der gegenwärtigen Moderne und die Deregulierungen durch die weltweite wirtschaftliche und mediale Globalisierung neue Anforderungen an das Individuum stellen. So entstünden neue Formen von Gewalt dort, wo sich Leerstellen auftun.
Diese Beschreibungen einer krisenhaften Zuspitzung in der Spätmoderne oder Postmoderne oder wie immer man unseren Standort benennen soll, sind nicht neu, aber sie dienen Wieviorka, der an der École des Hautes Études en Science Sociale in Paris lehrt, auch nur als Ausgangspunkt, um einen wissenschaftlichen Rückstand, ein Forschungsdesiderat zu markieren. Wieviorka moniert, mit Recht, dass wir mit dem alten soziologischen Handwerkszeug, das die Gewalt immer nur in Verbindung mit dem Staat thematisiert hat, nichts mehr anfangen können. Die Gewalt entsteht und entwickelt sich dort, wo der Staat ausfällt. Und genau diese Erkenntnis erfordere eine neue Gewalttheorie, in deren Mittelpunkt das Subjekt steht, schreibt Wieviorka.
Wenn man sich an die recht hilflosen Erklärungsversuche französischer Intellektueller erinnert, die die Gewaltausbrüche in und aus den Pariser Vororten wie André Glucksmann beispielsweise mit dem Nihilismus der aufbegehrenden Migrantenkinder begründeten, dann tut genaues Hinsehen und und vor allen Dingen genaues Unterscheiden wahrlich not. Zumal es Gewaltformen wie den Terrorismus und organisierte Attentate ja nicht erst seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert gibt. Die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols reicht weiter zurück - ohne dass diese Tatsache bisher hinreichend reflektiert worden wäre.
Auf dem Vormarsch seien heute - global gesehen - Gewaltformen, so Wieviorkas Ansatz, die mit den Schwierigkeiten verbunden seien, sich in unserer radikal im Wandel begriffenen Welt als Subjekt zu konstituieren. Dabei führt der Soziologe verschiedene Subjektbegriffe ein, wie „das frei flottierende Subjekt”, „das Hypersubjekt”, „das Nicht-Subjekt” oder das „Anti-Subjekt”, die jeweils gekennzeichnet seien durch Sinnverlust, Wiederaufladung mit neuem Sinn wie im religiösen Kontext oder auch durch Sinnverweigerung bei puren Exzessen.
Der Märtyrer bekriegt sich selbst
Dass diese Kategorien nur einen ersten Schritt zu einer zeitgemäßen Gewalttheorie bilden können und noch dazu schwer fassbar sind, da sie sich auch noch gegenseitig durchdringen, räumt Wieviorka selbst ein, tut aber auch leider zu wenig, um sie anschaulich mit Beispielen zu illustrieren. So muss man sich teilweise einen mühsamen Weg bahnen durch ein anspruchsvolles Definitionengeflecht, um dann doch zu der einen oder anderen Erkenntnisperle vorzudringen. So ist etwa der Gedanke interessant, dass der islamistische Märtyrer und seine religiös aufgeladene „Hypersubjektivität” der Moderne und dem modernen Individualismus, durch die er sich herausgefordert fühle, durchaus nicht fremd sei. Man kann Wieviorka so interpretieren, dass der Märtyrer durch seine Tat eine individuelle Enttäuschung markiert, weil dieselbe Moderne, die er und seine Gemeinschaft bekämpfen, diese Gemeinschaft bereits durchdrungen hat und sie damit - was ihre scheinbar ehernen religiösen und kulturellen Grundsätze angeht - virtuell geworden ist.
Nachdenkenswert ist auch die Vermutung des Soziologen, dass die Jahre der absoluten Ablehnung der Gewalt durch die Intellektuellen vielleicht hinter uns liegen, weil der Terrorismus eines Osama bin Laden weltweit nicht nur Entsetzen mobilisiere, sondern durchaus auch Sympathien und damit radikales Denken begünstige.
Wie „dem Bösen”, das uns heute in so unterschiedlichen Gewändern gegenübertritt, nun zu begegnen sei, darauf gibt Michel Wieviorka am Schluss des Buches so allgemeine Antworten, dass sie hier getrost ausgespart werden können. Sein Verdienst bleibt aber, das Subjekt in der gegenwärtigen Gewaltdebatte in den Vordergrund gestellt zu haben. Und zwar das Subjekt mit seinen Möglichkeiten der Entscheidungsfreiheit - jenseits von Gehorsamskultur und Fremdbestimmung, wie es noch Hannah Arendt auf Nazitäter wie Adolf Eichmann angewendet hatte. Es gehört zur Klugheit dieses Buches, Denker wie Arendt, Primo Levi oder Norbert Elias mit ihrem Nachdenken über menschliche Gewalt nicht ad acta zu legen, sondern ihre Gedanken und Theorien in einen historisch veränderten Kontext einzubetten und damit die notwendig gewordenen Korrekturen plausibel zu machen.
ANGELA GUTZEIT
MICHEL WIEVIORKA: Die Gewalt. Aus dem Französischen von Michael Bayer. Hamburger Edition, Hamburg 2006. 230 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ausgesprochen überzeugend findet Martina Meister diese Studie, in der der französische Soziologe Michel Wieviorka versucht, Gewalt neu zu verstehen. Wieviorka bricht dabei mit den klassischen Theorien, die Gewalt allein als soziales Phänomen verstehen wollen, informiert Meister. Für ihn ist Gewalt vielmehr auch individualpsychologisch zu verstehen als "verminderte, verbotene oder nicht vorhandene Fähigkeit, sich als Subjekt zu konstituieren oder als solches zu funktionieren", wie Meister zitiert. Was der Rezensentin dabei besonders gut gefällt, ist, dass sich Wieviorka nicht in Widerspruch zu den großen Analysen von Hannah Arendt oder Primo Levi stellt. Er lässt sie gelten und ergänzt sie sinnvoll. Instruktiv findet Meister auch seine Überlegungen zum Zusammenhang von Konflikten und Gewalt. Hier versteht Wieviorka den Konflikt nicht als Vorstufe, sondern als Gegensatz: "Wo Konflikte ausgetragen werden, hat blinde Gewalt keinen Platz." Auch seine Ausführungen zum neuen Opferbewusstsein findet Meister sehr gelungen. Rundum überzeugt stört sich die Rezensentin allein an Wieviorkas ausgeprägten Soziologenjargon und an einer nicht immer ganz korrekten deutschen Übersetzung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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