Harriett Burden war als Gattin eines einflussreichen New Yorker Galeristen immer nur die Frau an der Seite eines berühmten Mannes. Als Witwe wagt sie nun ein raffiniertes Experiment: Sie versteckt sich und ihr Talent als Installationskünstlerin hinter dem angeblichen Werk dreier männlicher Künstler. Doch der Deal droht zu platzen, als einer der Männer ihr Rollenspiel durchkreuzt. Und schon ist man mittendrin in den Machenschaften des Kunstbetriebs, in einer Welt von Gier, Vorurteilen, Ruhm und Geld.
Ein mutiges, schillerndes Meisterwerk, das alle großen Themen Siri Hustvedts aus Literatur, Kunst, Psychologie und Naturwissenschaften versammelt.
Ein mutiges, schillerndes Meisterwerk, das alle großen Themen Siri Hustvedts aus Literatur, Kunst, Psychologie und Naturwissenschaften versammelt.
Brillant. Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2015Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?
Siri Hustvedts großer Roman "Die gleißende Welt" erzählt von einer New Yorker Künstlerin, die sich gegen die Zuschreibungen des Kunstbetriebs mit einem raffinierten Experiment zur Wehr setzt.
Den Namen von Harriet Burden, der Hauptfigur aus Siri Hustvedts neuem Roman, wird man sich merken. Der Grund dafür ist der folgende: Es gibt zwei Arten von guten Romanen. Solche, die durch ihre Sprache und die Geschichte bestechen, die den Leser mitreißen, einen Sog entwickeln und uns die Welt vergrößern. Und dann gibt es solche Romane, die alles das auch können, aber darüber hinaus einen Typus erschaffen, eine exemplarische Person. Nach Lektüre dieser Romane wird die Vorstellung, dass es vorher eine Welt gegeben haben soll, in der diese Menschen noch nicht lebten, fast abwegig. Tom Ripley, Patricia Highsmiths getriebener Mörder, ist so eine Person. Elizabeth Costello, J. M. Coetzees tierrechtsbewegte Schriftstellerin, eine weitere. Und von nun an gibt es einen neuen unvergesslichen Charakter: Harriet Burden.
Wer ist Harriet Burden? Harriet Burden ist Künstlerin, Bildhauerin im weitesten Sinne. Sie baut lebensgroße Puppen, manchmal sogar Räume dazu. Mit ihren Werken hat Burden lange Zeit wenig Erfolg. In der New Yorker Kunstszene ist sie trotzdem und eher unfreiwillig keine Unbekannte. Verheiratet ist sie nämlich mit einem eleganten Kunsthändler, Felix Lord, mit dem sie zwei Kinder hat, die inzwischen erwachsen sind. Lord liegt die Welt zu Füßen, bei Dinnerpartys hängen Gastgeber und Gäste an seinen Lippen. Seine Geschäfte laufen gut, er kann wie König Midas alles in Gold verwandeln - mit Ausnahme der Kunst seiner Frau. "Er konnte mir nicht helfen", verteidigt ihn Harriet Burden gegen die Anfeindungen ihres späteren Geliebten, eines Schriftstellers. Er lernt Harriet Burden nach dem Tod ihres Mannes kennen, eifersüchtig ist er trotzdem. Siri Hustvedt lässt den Schriftsteller schreiben: "Felix Lord und seine Knete, seine Kunst und sein Sexleben glühten noch wie eine vergessene Zigarette in einem dieser gottverdammten Kristallaschenbecher, die Harry aus ihrem früheren Leben auf der hochnäsigen Upper East Side um sich behielt."
Harriet Burden nimmt ihren Mann in Schutz. Ansonsten aber will sie Rache. Sie entwickelt einen Plan, der wie ein psychologisches Experiment beginnt. Ihr Labor ist die New Yorker Kunstszene, die Galeristen, Kritiker, Kunsthistoriker und Sammler, die sie hasst, weil sie sich von ihnen gedemütigt fühlt. Harriet Burden ist eine große, häufig wütende und unkontrollierte Frau, sie ist vor allem aber klug, geistreich und belesen. Sie kennt die Kunstgeschichte und auch das Schicksal vieler Künstlerinnen, denen nur aus einem Grund das Leben und Arbeiten schwergemacht wurde: weil sie Frauen waren. In ihr Tagebuch notiert Burden: "Artemisia Gentileschi, von der Nachwelt geringgeschätzt, ihr bestes Werk ihrem Vater zugeschrieben. Judith Leyster, zu ihrer Zeit bewundert, dann ausgelöscht. Ihr Werk Frans Hals zuerkannt. Camille Claudels Ansehen ganz von Rodins verschluckt. Dora Maars großer Fehler: Sie schlief mit Picasso, eine Tatsache, die ihre brillanten surrealistischen Fotos auslöscht."
Was tun? Burden beschließt, der Kunstwelt eine Falle zu stellen. Sie hört auf, ihre Arbeiten unter dem eigenen Namen auszustellen. Stattdessen engagiert sie drei männliche Künstler, die Burdens Arbeiten als die eigenen ausgeben sollen, bis sie den Schwindel aufdeckt. "Es werden drei sein, genau wie im Märchen." Die Künstler sind dabei so jung, dass sie Burdens Söhne sein könnten. Zweimal scheint alles gut zu laufen. Die jungen Männer scheinen die perfekten Köder für die Kunstwelt zu sein.
Die Autorin Siri Hustvedt ist mindestens in einer Hinsicht ein Alter Ego ihrer Romanfigur: Sie ist ebenso belesen wie die Künstlerin, und wie in ihrem Buch "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" gibt es auch hier Fußnoten. Niemand steigt dabei so elegant in den Fußnotenkeller hinab wie die amerikanische Erzählerin, deren neuester Roman einem Haus mit vielen Stockwerken, Zwischengeschossen, Treppenhäusern und Eingängen gleicht. In jedem Zimmer dieses Gebäudes verbergen sich weitere Geschichten, klassische, unbekannte, schöne oder traurige. Der Titel etwa "Die gleißende Welt" stammt von einem Buch aus dem siebzehnten Jahrhundert, einem utopischen Roman von Margaret Cavendish, der Duchess of Newcastle. Diese Herzogin trug manchmal Männerkleider, sie war eine Intellektuelle, eine, wie es bei Hustvedt heißt, "bartlose Überraschung". Dafür wurde sie verachtet. Der einflussreiche Samuel Pepys, dessen literarisches Tagebuch seinen Nachruhm bis heute begründet, fertigte sie als "verrückte, eingebildete, lächerliche Frau" ab. Harriet Burden erzählt davon in ihrem Tagebuch, jede Seite öffnet auch hier eine weitere Tür, zur Geschichte, Literatur, Kunst - oder zum Mythos. Denn Harriet Burden ist natürlich auch ein weiblicher Pygmalion, ein maßloser noch dazu. Statt einer Galatea schafft sie drei Kunstfiguren. Als Marionetten glaubt sie zunächst die männlichen Künstler loszuschicken, bis sie der New Yorker Kunstbetrieb zum Leben erweckt. Kann das gutgehen?
Die Spannung, die sich daraus ergibt, dass der Leser zum Zeugen eines Experiments mit offenem Ausgang wird, ist nur eine Stärke dieses klugen und bewegenden Romans. "Ich lebte in einem Thriller", schreibt Burden. Das Ende soll deshalb auch hier nicht verraten werden.
Zugleich hat Hustvedt mit der Geschichte von Harriet Burden aber auch eine Parabel geschaffen. Sie lebt von mehr als nur der Frage, ob Burdens Plan aufgeht. Die Künstlerin nämlich teilt - wie sich herausstellt - den Schmerz vieler Personen, denen sie im Verlauf des Buchs begegnet. Fast alle leiden daran, nicht das sein zu dürfen, was sie sich wünschen, nur eine Rolle zu erhalten, nur mit einer Stimme sprechen zu dürfen. Harriet Burdens Fall ist von Beginn an klar: Sie ist eine Frau, zu alt, zu groß, zu wuchtig und laut, um als Künstlerin ernst genommen zu werden, geschweige denn erfolgreich zu sein. Sie hasst die Person, zu der man sie machen will, die stille Ehefrau, die endlich aufhört, ein Atelier zu betreiben und alles besser zu wissen. Zu Beginn glaubt sie sich damit allein, im Verlauf ihres Experiments lernt sie mehr und mehr, dass es vielen anderen ebenso geht. Sie sind nicht das, wofür sie gehalten werden, sie dürfen nicht sein, wer sie sein wollen. Auch Felix Lord hat ein Geheimnis. "Ganze Völkerstämme", heißt es im Buch, "hausen in einer Person."
Wenn Glück ist, nicht nur eine Person sein zu dürfen, sondern viele, dann muss dieser Roman Siri Hustvedt zu einer sehr glücklichen Person gemacht haben. Sie erzählt die Geschichte nämlich nicht mit einer Stimme. Zu Wort kommt neben Harriet Burden unter anderen die Tochter, der Sohn, der Liebhaber, ein sehr sprachgewandter und ätzender New Yorker Kunstkritiker, die Künstler natürlich, die Burden anheuert; außerdem eine Galeristin und ein Galerist, Freunde, Bekannte. Herausgeber dieser Zeugnisse und Dokumente ist "Professor Hess", eine Person, deren Geschlecht wir nicht erfahren, nur den Beruf: Sie hat eine Professur für Ästhetik.
Professor Hess schreibt auch die Einleitung dieses Romans. Wer danach befürchtet, ein Buch, das eine fiktive Person herausgibt und in dem dann viele weitere ihre Version der Geschichte erzählen, könnte zu kompliziert, zu ausgedacht sein, muss nur eine einzige Seite weiterlesen. Für jeden Charakter findet Hustvedt eigene Stimmen - wütende und dunkle, arrogante, verlogene, bissige, wohlwollende, ratlose oder einfühlsame. Niemand wird bloßgestellt, auch wenn die Geschichte ein klares Ende nimmt und sich ganz und gar nicht in einem postmodernen Labyrinth auflöst.
Ein Höhepunkt sind im Übrigen die sehr lustigen Kunstkritiken. Das Magazin "Art Assembly" gerät ins Schwärmen, als Burden ihre Installation mit dem Titel "Die Erstickungsräume" unter einem Männernamen ausstellt. Der Applaus klingt so: "Die aufeinander folgenden realen Umgebungen können einem einen ganz schönen Schlag versetzen, der letztlich subversiver ist als der von Bourriaud verfochtene, gefällige Relationismus." Genau.
Wenn Glück also darin besteht, mit vielen Stimmen sprechen zu dürfen, dann teilt Hustvedt dieses Glück mit ihren Lesern. Von der ersten bis zur letzten Seite. Bis zu dem überraschenden Entschluss, wem sie das letzte Wort erteilt.
JULIA VOSS
Siri Hustvedt: "Die gleißende Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 496 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Siri Hustvedts großer Roman "Die gleißende Welt" erzählt von einer New Yorker Künstlerin, die sich gegen die Zuschreibungen des Kunstbetriebs mit einem raffinierten Experiment zur Wehr setzt.
Den Namen von Harriet Burden, der Hauptfigur aus Siri Hustvedts neuem Roman, wird man sich merken. Der Grund dafür ist der folgende: Es gibt zwei Arten von guten Romanen. Solche, die durch ihre Sprache und die Geschichte bestechen, die den Leser mitreißen, einen Sog entwickeln und uns die Welt vergrößern. Und dann gibt es solche Romane, die alles das auch können, aber darüber hinaus einen Typus erschaffen, eine exemplarische Person. Nach Lektüre dieser Romane wird die Vorstellung, dass es vorher eine Welt gegeben haben soll, in der diese Menschen noch nicht lebten, fast abwegig. Tom Ripley, Patricia Highsmiths getriebener Mörder, ist so eine Person. Elizabeth Costello, J. M. Coetzees tierrechtsbewegte Schriftstellerin, eine weitere. Und von nun an gibt es einen neuen unvergesslichen Charakter: Harriet Burden.
Wer ist Harriet Burden? Harriet Burden ist Künstlerin, Bildhauerin im weitesten Sinne. Sie baut lebensgroße Puppen, manchmal sogar Räume dazu. Mit ihren Werken hat Burden lange Zeit wenig Erfolg. In der New Yorker Kunstszene ist sie trotzdem und eher unfreiwillig keine Unbekannte. Verheiratet ist sie nämlich mit einem eleganten Kunsthändler, Felix Lord, mit dem sie zwei Kinder hat, die inzwischen erwachsen sind. Lord liegt die Welt zu Füßen, bei Dinnerpartys hängen Gastgeber und Gäste an seinen Lippen. Seine Geschäfte laufen gut, er kann wie König Midas alles in Gold verwandeln - mit Ausnahme der Kunst seiner Frau. "Er konnte mir nicht helfen", verteidigt ihn Harriet Burden gegen die Anfeindungen ihres späteren Geliebten, eines Schriftstellers. Er lernt Harriet Burden nach dem Tod ihres Mannes kennen, eifersüchtig ist er trotzdem. Siri Hustvedt lässt den Schriftsteller schreiben: "Felix Lord und seine Knete, seine Kunst und sein Sexleben glühten noch wie eine vergessene Zigarette in einem dieser gottverdammten Kristallaschenbecher, die Harry aus ihrem früheren Leben auf der hochnäsigen Upper East Side um sich behielt."
Harriet Burden nimmt ihren Mann in Schutz. Ansonsten aber will sie Rache. Sie entwickelt einen Plan, der wie ein psychologisches Experiment beginnt. Ihr Labor ist die New Yorker Kunstszene, die Galeristen, Kritiker, Kunsthistoriker und Sammler, die sie hasst, weil sie sich von ihnen gedemütigt fühlt. Harriet Burden ist eine große, häufig wütende und unkontrollierte Frau, sie ist vor allem aber klug, geistreich und belesen. Sie kennt die Kunstgeschichte und auch das Schicksal vieler Künstlerinnen, denen nur aus einem Grund das Leben und Arbeiten schwergemacht wurde: weil sie Frauen waren. In ihr Tagebuch notiert Burden: "Artemisia Gentileschi, von der Nachwelt geringgeschätzt, ihr bestes Werk ihrem Vater zugeschrieben. Judith Leyster, zu ihrer Zeit bewundert, dann ausgelöscht. Ihr Werk Frans Hals zuerkannt. Camille Claudels Ansehen ganz von Rodins verschluckt. Dora Maars großer Fehler: Sie schlief mit Picasso, eine Tatsache, die ihre brillanten surrealistischen Fotos auslöscht."
Was tun? Burden beschließt, der Kunstwelt eine Falle zu stellen. Sie hört auf, ihre Arbeiten unter dem eigenen Namen auszustellen. Stattdessen engagiert sie drei männliche Künstler, die Burdens Arbeiten als die eigenen ausgeben sollen, bis sie den Schwindel aufdeckt. "Es werden drei sein, genau wie im Märchen." Die Künstler sind dabei so jung, dass sie Burdens Söhne sein könnten. Zweimal scheint alles gut zu laufen. Die jungen Männer scheinen die perfekten Köder für die Kunstwelt zu sein.
Die Autorin Siri Hustvedt ist mindestens in einer Hinsicht ein Alter Ego ihrer Romanfigur: Sie ist ebenso belesen wie die Künstlerin, und wie in ihrem Buch "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" gibt es auch hier Fußnoten. Niemand steigt dabei so elegant in den Fußnotenkeller hinab wie die amerikanische Erzählerin, deren neuester Roman einem Haus mit vielen Stockwerken, Zwischengeschossen, Treppenhäusern und Eingängen gleicht. In jedem Zimmer dieses Gebäudes verbergen sich weitere Geschichten, klassische, unbekannte, schöne oder traurige. Der Titel etwa "Die gleißende Welt" stammt von einem Buch aus dem siebzehnten Jahrhundert, einem utopischen Roman von Margaret Cavendish, der Duchess of Newcastle. Diese Herzogin trug manchmal Männerkleider, sie war eine Intellektuelle, eine, wie es bei Hustvedt heißt, "bartlose Überraschung". Dafür wurde sie verachtet. Der einflussreiche Samuel Pepys, dessen literarisches Tagebuch seinen Nachruhm bis heute begründet, fertigte sie als "verrückte, eingebildete, lächerliche Frau" ab. Harriet Burden erzählt davon in ihrem Tagebuch, jede Seite öffnet auch hier eine weitere Tür, zur Geschichte, Literatur, Kunst - oder zum Mythos. Denn Harriet Burden ist natürlich auch ein weiblicher Pygmalion, ein maßloser noch dazu. Statt einer Galatea schafft sie drei Kunstfiguren. Als Marionetten glaubt sie zunächst die männlichen Künstler loszuschicken, bis sie der New Yorker Kunstbetrieb zum Leben erweckt. Kann das gutgehen?
Die Spannung, die sich daraus ergibt, dass der Leser zum Zeugen eines Experiments mit offenem Ausgang wird, ist nur eine Stärke dieses klugen und bewegenden Romans. "Ich lebte in einem Thriller", schreibt Burden. Das Ende soll deshalb auch hier nicht verraten werden.
Zugleich hat Hustvedt mit der Geschichte von Harriet Burden aber auch eine Parabel geschaffen. Sie lebt von mehr als nur der Frage, ob Burdens Plan aufgeht. Die Künstlerin nämlich teilt - wie sich herausstellt - den Schmerz vieler Personen, denen sie im Verlauf des Buchs begegnet. Fast alle leiden daran, nicht das sein zu dürfen, was sie sich wünschen, nur eine Rolle zu erhalten, nur mit einer Stimme sprechen zu dürfen. Harriet Burdens Fall ist von Beginn an klar: Sie ist eine Frau, zu alt, zu groß, zu wuchtig und laut, um als Künstlerin ernst genommen zu werden, geschweige denn erfolgreich zu sein. Sie hasst die Person, zu der man sie machen will, die stille Ehefrau, die endlich aufhört, ein Atelier zu betreiben und alles besser zu wissen. Zu Beginn glaubt sie sich damit allein, im Verlauf ihres Experiments lernt sie mehr und mehr, dass es vielen anderen ebenso geht. Sie sind nicht das, wofür sie gehalten werden, sie dürfen nicht sein, wer sie sein wollen. Auch Felix Lord hat ein Geheimnis. "Ganze Völkerstämme", heißt es im Buch, "hausen in einer Person."
Wenn Glück ist, nicht nur eine Person sein zu dürfen, sondern viele, dann muss dieser Roman Siri Hustvedt zu einer sehr glücklichen Person gemacht haben. Sie erzählt die Geschichte nämlich nicht mit einer Stimme. Zu Wort kommt neben Harriet Burden unter anderen die Tochter, der Sohn, der Liebhaber, ein sehr sprachgewandter und ätzender New Yorker Kunstkritiker, die Künstler natürlich, die Burden anheuert; außerdem eine Galeristin und ein Galerist, Freunde, Bekannte. Herausgeber dieser Zeugnisse und Dokumente ist "Professor Hess", eine Person, deren Geschlecht wir nicht erfahren, nur den Beruf: Sie hat eine Professur für Ästhetik.
Professor Hess schreibt auch die Einleitung dieses Romans. Wer danach befürchtet, ein Buch, das eine fiktive Person herausgibt und in dem dann viele weitere ihre Version der Geschichte erzählen, könnte zu kompliziert, zu ausgedacht sein, muss nur eine einzige Seite weiterlesen. Für jeden Charakter findet Hustvedt eigene Stimmen - wütende und dunkle, arrogante, verlogene, bissige, wohlwollende, ratlose oder einfühlsame. Niemand wird bloßgestellt, auch wenn die Geschichte ein klares Ende nimmt und sich ganz und gar nicht in einem postmodernen Labyrinth auflöst.
Ein Höhepunkt sind im Übrigen die sehr lustigen Kunstkritiken. Das Magazin "Art Assembly" gerät ins Schwärmen, als Burden ihre Installation mit dem Titel "Die Erstickungsräume" unter einem Männernamen ausstellt. Der Applaus klingt so: "Die aufeinander folgenden realen Umgebungen können einem einen ganz schönen Schlag versetzen, der letztlich subversiver ist als der von Bourriaud verfochtene, gefällige Relationismus." Genau.
Wenn Glück also darin besteht, mit vielen Stimmen sprechen zu dürfen, dann teilt Hustvedt dieses Glück mit ihren Lesern. Von der ersten bis zur letzten Seite. Bis zu dem überraschenden Entschluss, wem sie das letzte Wort erteilt.
JULIA VOSS
Siri Hustvedt: "Die gleißende Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015. 496 S., geb., 22,95 [Euro].
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