Darauf hat Henrik über vierzig Jahre gewartet: Sein Jugendfreund Konr d kündigt sich an. Nun kann die Frage beantwortet werden, die Henrik seit Jahrzehnten auf dem Herzen brennt: Welche Rolle spielte damals Krisztina, Henriks junge und schöne Frau? Warum verschwand Konrad nach jenem denkwürdigen Jagdausflug Hals über Kopf? Eine einzige Nacht haben die beiden Männer, um den Fragen nach Leidenschaft und Treue, Wahrheit und Lüge auf den Grund zu gehen.
"Sandor Marai hat einen grandiosen, einen quälenden Gespensterroman geschrieben, einen Totengesang der Überlebenden, denen die Wahrheit zum Fegefeuer geworden ist. Die Glut hat ihnen das Leben zur Asche ausgebrannt." (Thomas Wirtz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2000Ich traue nicht der Anarchie der Liebe
Ein Leben, wie nur die Weltgeschichte es beuteln konnte: Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai und seine überfällige Wiederentdeckung
Mancher Schriftsteller fand keinen Platz in der langen Reihe der Weltliteratur, weil er zwischen allen Stühlen durchgefallen war. Einige stellten sich dabei an wie eiferdumme Clowns, die ihren Sitz fürs Leben im letzten Augenblick wegstießen und auf dem Boden der Gegenwart hart landeten. Anderen aber zog der Weltgeist mit bösem Witz das Möbel unter dem Hintern weg, und unschuldig erlitten sie ihren freien Fall. Verständnislos auf die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit schauend, hatte der ungarische Schriftsteller Sándor Márai an einem Unglück nicht genug. So wurde ihm beides zuteil: Er erlitt die Vertreibung und vertrieb sich selbst, er war ein melancholischer Clown und das zufällige Opfer einer launischen Geschichte, er verdoppelte seinen Schmerz und teilte die Schuld. Am Ende hatte er die Lebenslehre verstanden: "Ich kaufe in meinem Leben keine Immobilien mehr, denn ich habe begriffen, daß ich mobil bin." Mehr als leichtes Gepäck durfte dieser Handlungsreisende des Bürgertums sich zeitlebens nicht zugestehen. Sein Sitz im Leben war der Reisewagen.
Schon die Unübersichtlichkeit seiner Biografie zeugt von dieser Unruhe. Geboren wurde Sándor Márai vor hundert Jahren im ungarischen Kaschau als Sohn eines Juristen. Im Jahr 1919 kam er in das Deutschland der Nachkriegszeit, ließ sich an den Universitäten von Leipzig, Frankfurt und Berlin einschreiben und wurde doch nie ein "ordentlicher" Student. Seine Alma Mater sollte das richtige Leben sein, das er irgendwo zwischen Leichenhalle und Bordell, zwischen Romanischem Café und dem Palais der Rothschilds anzutreffen hoffte. Durch Zufall landete er in der Redaktionsstube der "Frankfurter Zeitung", der wohl "einzigen echten Weltzeitung Deutschlands", und füllte einige Jahre lang ihr Feuilleton mit Wirklichkeitssplittern. Inzwischen verheiratet, floh er er vor der toll gewordenen Inflation 1923 nach Frankreich. In Paris wechselte er wöchentlich die verlausten Absteigen im Quartier Latin und zog schließlich in die runtergekommene Eleganz der rive droite, wo er Seidengardinen an die Fenster seiner Wohnung nagelte und sich von einem bemitleidenswerten Auto in den finanziellen Ruin fahren ließ. Zwischendurch reiste er wochenlang nach London und Damaskus, weil es dort auch irgendein Leben geben musste, von dem er noch nichts wusste.
Im Jahr 1928 kehrte er nach Budapest zurück und begann seine eigentliche literarische Arbeit. Die Phase der menschheitsdämmernden Lyrik war vorbei, dieser expressionistische Aufschrei der Heiserkeit. Márai hatte Else Lasker-Schüler kennen gelernt, und er hatte Ringelnatz gelauscht, der betrunkene Ansprachen an die Tiere des Zoos richtete. Auch Dramen schrieb Márai in dieser wortversessenen Zeit, die auf Experimentalbühnen der deutschen Provinz scheiterten und das Publikum mit Reue über den Kartenkauf nach Hause gehen ließen. Jetzt aber brach die Zeit der Romane an, vieler Romane. Fast zwanzig von ihnen wurden bis in die fünfziger Jahre auch ins Deutsche übersetzt, kein einziger Titel hat sich ins Gedächtnis eingeschrieben. "Die Nacht vor der Scheidung", "Achtung! Bissiger Hund!", "Ein Herr aus Venedig", "Verzauberung in Ithaka": Niemand mehr kennt diese Bücher, deren Titel sich so leicht verderblich wie das billige Knistern von Konfektionsware anhören. Aus der Literatur wurden sie in katholische Leihbüchereien fortgespült. Jetzt sind die ersten wieder zurückgekommen und mit ihnen die Entdeckung eines Tagebuchschreibers von europäischem Format.
Im Jahr 1944 marschieren die Deutschen in Budapest ein. Sándor Márais Wohnung wird zerstört, sechstausend Bücher seiner Bibliothek lösen sich im Regen zu unverdaulichem Brei auf. So "nimmt eine Lebensform ein Ende", und wieder hatte sich ein Besitz in Zellulose zurückverwandelt. Er flüchtet erneut ins Ausland und zieht sich vor der kommunistischen Eroberung immer weiter nach Westen zurück. Bis 1950 lebt er in der Schweiz und findet dann für zwei Jahre in Süditalien die wärmende Solidarität der Armut. "So wie Neapel, ist auch das bürgerliche Weltbild am Fuß eines Vulkans erbaut." Bevor er endgültig ausbricht und diesen verzweifelten Bürger versteinern lässt, gibt Márai den Kontinent auf - verloren hatte er ihn schon früher: "Wenn ich diesen Erdteil einmal verlasse, dann wird mir Europa sehr fehlen. Aber ich vermisse Europa auch schon hier in Europa." Márai siedelt nach New York über und sucht dort ein letztes Mal Anschluss an Europa, indem er eine Wohnung in der Nähe von "The Cloysters" nimmt, diesem Potpourri aus Architekturen, die Rockefeller wie einen period room in der freien Luft zusammentragen ließ. Dort sind die Wolkenkratzer nicht so hoch und Europa nicht so weit. Doch Márai hat den Kampf um die Tradition verloren. Er kapituliert und zieht sich für die letzten Jahrzehnte unter die geschichtslose Sonne Kaliforniens zurück. Am 15. Januar 1989 erschießt er sich mit einer Pistole in San Diego, deren Benutzung er zuvor bei einem Seminar der örtlichen Polizei vorschriftsmäßig erlernte.
Monarchie, Diktatur, Demokratie: Zwischen der Reibung dieser politischen Systeme ging sein ganzer materieller Besitz verloren. Was aber für Márai schwerer wog, war das Verschwinden einer historischen Zeit. Aufgewachsen war er unter dem eindämmernden Horizont eines Bürgertums, das die Welt mit seiner Kultur befrieden wollte. Noch war dieses Licht der Aufklärung nicht untergangen, noch versprach die Tradition ihre Langsamkeit, in der sich Formen behutsam wandelten und das einmal Gelernte immer nützlich blieb. Die Landkarte des bürgerlichen Geistes schien bis zum Stillstand vermessen, man fand sich in ihrem Maßstab zurecht, alle Grenzen waren abgeschritten.
Sándor Márai litt unter dieser ruhigen Vergangenheit und ihrem Versprechen von persönlichem Glück, denn er war zu spät gekommen. Lediglich einen langen bürgerlichen Schatten durfte er werfen, von der tief stehenden Sonne für einen Moment vor ihrem Untergang beschienen. Je verklärter die wenigen sichtbaren Kulturreste wirkten, desto aufgeregter jagte Márai ihnen hinterher. Die "Bekenntnisse eines Bürgers", die Autobiografie des Vierunddreißigjährigen und sein wohl bestes Buch, liefern das erschütternde Protokoll dieser Atemlosigkeit. Denn aus dem Jäger ist ein innerlich Gejagter geworden, aus den Händen hat er alles verloren und nur die Neurose zurückbehalten. Seine Untreue gegen Frauen und das Vagabundieren zwischen anonymen Wohnungen zeugen von einer ziellosen Sensibilität, einem Suchen ohne Finderlohn. Da ist nichts mehr von der überlegenen Sehnsucht eines Don Juan, sondern nur der Jammer eines erotisch Verkaterten, der am Morgen seinen Anblick im fremden Spiegel nicht ertragen kann.
Und doch weicht er diesen Niederlagen nicht aus. Die "Bekenntnisse" sind von einer Wahrhaftigkeit, die das Leiden bis zum Kippmoment unerträglicher Intensität vorantreibt. Erst dort, am Boden eines scheinbar zerstörten Lebens, beginnt der Aufstieg. "Alles ist verlorengegangen, alles. Die Sprache, die Heimat, der Sinn der Arbeit, die Jugend. Alles ist nur mehr verpestete, in Verwesung übergehende Erinnerung. Ich bin endlich frei!" Noch in diesem biografischen Phönix-Modell, das die Geburt des Schriftstellers an seine bürgerliche Vernichtung bindet, bleibt Márai im Bannkreis des Verlorenen, bleibt er der bürgerliche Autor, der nur als Außenseiter dazugehören kann. Was von der Weltgeschichte davongetragen wurde, rettet er als Erinnerungsbild in die Literatur. "Ich beobachte seltsame Variationen des Heimwehs an mir selber, ich sehne mich nicht nach einem ,Vaterland', sondern nach einem Wortbild."
Man muss die "Bekenntnisse" lesen, diese Grabstätte einer Familie und einer Idee, um zu ermessen, wie dieses literarische "Wortbild" mit einem bürgerlichen "Weltbild" zusammenhängt. Denn im ersten Teil schreitet Márai noch einmal die "verborgenen Landesgrenzen des versunkenen Reichs der Familie" ab, mit einer epischen Ausführlichkeit, die trennender Grenzstein und bewahrender Grabstein zugleich ist.
Die Vorfahren seiner Eltern waren sächsischer Herkunft, im siebzehnten Jahrhundert nach Ungarn eingewandert, bald geadelt und dem gesprochenen "Zipserdeutsch" treu. Wen Márai durch Erzählung oder Besuch von ihnen noch gekannt hat, den zeichnet er in einem Porträt nach: den Musiker, der sich erschoss, weil sein Talent nur für die Militärkapelle reichte; der Jurist, der aus seiner Laufbahn ausstieg und Fleischer wurde; der Offizier, der irgendwann im Ausland verschwand und als "Lüstling des Nikotins" wiederkehrte. Sie alle sind exzessive Charaktere, Mitglieder eines prallen Panoptikums, die groß nur in ihrem Scheitern waren. Und sie alle verkörpern den Bürger als verzerrtes Abbild, sind Trümmerhaufen von Biografien, die nichts als ihren Untergang ordnungsgemäß betrieben. Márai hegt für sie große Sympathie und hat ihre vorbildliche Selbstzerstörung für das eigene Leben nicht vergessen.
Bis in die Familie hinein scheint diese historische Abenddämmerung. Derart fein ist die Gesellschaft in ihren Ständen unterschieden, dass noch die Ehepartner von ihrem Dünkel gegeneinander nicht lassen können und das soziale Pulverfass auf den Mittagstisch stellen. Und während das Wohnzimmer bei Márais täglich gereinigt wird, die Mutter hysterisch die Bazillen zwischen ihrem Plüsch wimmeln sieht, drängt aus der Küche unglaublicher Dunst in die Wohnung. Dort kochen, schlafen und waschen sich die Dienstmädchen, dort ist das Elend nur eine Tür von der verzweifelten Sterilität getrennt. Die "Bekenntnisse" sind grandios in der Schilderung solcher Widersprüche. Sie wahren die literarische Form, weil die umgebende Welt aus den Fugen geraten ist, sie sind konservativ, weil nichts mehr zu bewahren ist. Am Tag, als der Erste Weltkrieg ausbricht, zerstört ein Sturm den Wald ihres Ausflugsorts. Nicht einmal die Natur ist zu retten.
Der Krieg selbst taucht in Márais Erinnerungen nur als Lücke auf. Er ist ein Abgrund, in den nicht hineingeschaut wird. Als der Student 1919 in Leipzig wieder auftaucht, sind er und sein Stil nicht mehr dieselben. Aus dem Archivar des Verfalls einer Familie ist ein junger Neurotiker geworden, "mit der Panik des Untergangs in den Nerven" und ohne Geld in den Taschen. Zwanzig Anzüge mit Samtkragen hat er von zu Hause mitgebracht, die er bald gegen englische Zigaretten eintauscht. Als Besitz ist ihm nur die exzentrische Geste geblieben, das absurde Detail eines Baudelaire. Er trägt alles ins Pfandhaus, bis ihm nur noch ein Knochenkruzifix, ein Negerfetisch und sein Kaktus bleiben. Mit ihnen wechselt er die Zimmer häufiger als die Wäsche und hält sich im teuren Kaffeehaus auf, weil ihm das Geld für das billige Brennholz ausgegangen ist. Er richtet sich im ungemütlichen Widerspruch ein. Wer keine Heimat mehr hat, lässt sich von dort auch nicht mehr vertreiben.
Márai gründet die Zeitschrift "Endymion", die schon nach der ersten Nummer an Auszehrung eingeht. Er schreibt für die Satirezeitschrift "Der Drache" von Hans Reimann, wie ein Ethnograf alle sächsischen Sitten und Gebräuche anstaunend und keine verstehend. Vor allem jedoch jagt er dem Leben hinterher, dessen Rockschöße immer in einem anderen Stadtviertel, von anderen Leuten zu anderer Zeit gesichtet wurden. Er ist besessen von der "Schwärmerei, mit der ich das Wunder des Seins feierte", ein rasender Liebhaber der Tatsachen, der sie trotz unermüdlicher Aufmerksamkeit stets versäumt. Mitten in der Nacht bricht er aus seinem Zimmer auf, weil irgendwo irgendwem irgendwas geschehen könnte, endlos streunt er auf den Straßen umher, schreibt alles auf kleine Zettel und stopft diese Ereignisse in seine Taschen, wo sie am Morgen zu Abfall zerfallen sind.
Seine Unrast wird journalistisch gebändigt, als er für die "Frankfurter Zeitung" zu arbeiten beginnt. Die Redaktion sitzt in der Eschersheimer Landstraße, "in einem baufälligen alten Haus, das von der Straße gesehen wie eine Mischung aus einem Jagdschloß und einer Dampfmühle wirkte". Von dort beobachtet sie die Welt und die Nebensätze der Mitarbeiter, deren Korrektheit auch ihre Wahrheit verbürgte. Márai schrieb alles auf, "was mir das Leben zufällig vor die Füße warf", ein unglücklicher Lumpensammler, der mit jeder gefundenen Zeile, mit jedem Lumpenstück viele weitere versäumt hatte.
Und der Lebenswirbel beschleunigte sich. In Berlin kamen die erotischen Eskapaden hinzu, weil die Bürger sich in der Inflationspest enthemmten. Die Stadt taumelt in die Betten, ihre Anständigkeit verliert sich unter Daunen. Inmitten dieses Karnevals der entblößten Tugenden lernt Márai Lola kennen, die wie er aus Kaschau stammt. Beide heiraten, doch Vernunft gehört nicht zur ersten Haushaltsausstattung. Ihr Vermögen widmen sie einem "Schuhschrank aus Hartholz", in dem sich ihre drei Paare ohne Platzangst verlieren. Beim nächsten Wohnungswechsel lassen sie ihn zurück. In Paris, wohin beide aus der Inflation gestolpert sind, steigert sich diese Kopflosigkeit. Márai verliert alles, je mehr er es im journalistischen Schreiben festhalten will. Sein Leben selbst scheint eine Inflationsware und vom Wertverlust angesteckt. Bevor er es restlos aus den Händen verliert, gelingt ihm der rettende Sprung. Im Jahr 1928 kehrt er nach Ungarn zurück, in den Taschen genug Leben, um davon literarisch zehren zu können.
Es beginnen Sándor Márais erfolgreichste Jahre, denn in der kleinen randständigen Heimat von Land und Sprache gelingen ihm europäische Romane: Er, der vorher hinter jeder Straßenecke das Leben suchte, findet nun am Schreibtisch sein Publikum. Zu diesen Romanen gehört "Die Glut", 1942 in Ungarn veröffentlicht, 1950 schon einmal unter dem Titel "Die Kerzen brennen ab" ins Deutsche übertragen und jetzt - das ist sicher - der Beginn einer anhaltenden Márai-Wiederentdeckung. Was an diesem einen Tag der Handlung, dem 14. August 1940, geschieht, ist ein Kammerspiel der Selbstzerstörung, ein Tag des letzten Gerichts. Einundvierzig Jahre sind vergangen, nachdem sich Konrád einer scheinbar unzertrennlichen Freundschaft durch Flucht entzog. Zurück bleibt Henrik, jetzt ein fünfundsiebzigjähriger General, der sich nach dem Tod seiner Frau Krizstina vor mehr als drei Jahrzehnten in das Schlafzimmer seines Schlosses verbannt hatte. An diesem Abend nimmt das Warten ein Ende. Nach dem jahrelangen Absterben kann nur noch der Tod kommen.
Auch wenn das Buch schmal ist, beeindruckt es mit seinem lange verzögerten Atem. Erst nach und nach kommt eine Tat ans Kerzenlicht, die niemals ihre Aufklärung gefunden hat. Damals entdeckte der General das Verhältnis zwischen Konrád und seiner Frau, und er erlebte den unendlich gedehnten Augenblick, als der Freund während einer Jagd die Waffe auf ihn richtete. Obwohl sich kein Schuss löste und Konrád an das andere Ende der Welt floh, hat dieser Augenblick für sie alle nicht aufgehört. Denn ihm fehlt das abschließende Warum, eine Antwort auf ihre gemeinsam getragene Schuld. So bleiben sie alle wie Verbrecher an die eine Tat gekettet, verlorene Freunde, die den Untergang ohne Ende gelebt haben. Ihre Aussprache an diesem Abend stellt noch einmal die alten Fragen, doch jede Antwort hat sich erübrigt. Nach so langer Zeit ist sie nicht mehr wichtig geworden.
Sándor Márai hat einen grandiosen, einen quälenden Gespensterroman geschrieben, einen Totengesang der Überlebenden, denen die Wahrheit zum Fegefeuer geworden ist. Die Glut hat ihnen das Leben zur Asche ausgebrannt. So haben sie das Mitsterben vergessen und Schuld auf sich geladen: "Wer jemanden überlebt, ist immer ein Verräter." In Márais Roman glimmt die Erzählwelt Kakaniens noch einmal auf, der Glaube an die soldatische Uniform, die Rituale der Freundschaft, die Liebe.
Noch einmal erscheint der Mensch als eine ganze Person, als Geheimnisträger eines Lebens, dem die soziologische Analyse niemals beikommen wird. Diese Person ist Márais Glaubensbekenntnis und sein Einverständnis mit der historischen Verspätung. In den Tagebüchern von 1947 schreibt er: "Der Mensch ist keine neutralisierbare Substanz, und selbst wenn man ihn auch in was immer für eine Wurstspritze hineinpreßt, bleibt seine Substanz explosiv, und eines Tages wird er dem großen System persönlich antworten. Dies ist die letzte Hoffnung." Die Leichenstarre der österreichischen Monarchie hat auch ein Joseph Roth abgetastet, doch Márai ist in seiner Trauer kälter und weniger sentimental. Die Weinerlichkeit des "Radetzkymarsch" attackiert er mit seiner geradezu metaphysischen Hartnäckigkeit: Der Sinn des Lebens, diese verlachte Clownsfigur der Moderne, erlebt bei Márai ihren ernsthaften Schlussauftritt. Ohne Häme darf sie noch einmal von Leidenschaft und den großen "alteuropäischen" Begriffen reden. Márai hat in Kauf genommen, selbst zu einem Gespenst zu werden. Als er vor den Kommunisten aus seiner ungarischen Heimat flieht, verliert er über Nacht und für Jahrzehnte auch sein Publikum. Sein Bruch mit der Gegenwart ist unumkehrbar, der Aufenthalt seines Exils nicht von dieser Zeit: "Der Emigrant, der ans ,Nachhausegehen' denkt, ist kein wirklicher Emigrant. Man kann nach Hause gehen, aber nur wie Ulysses: um zu sterben."
Man muss Márais trotzige Trauer um das Individuum kennen, um seinen Ekel gegen die Moderne zu verstehen. Die Tagebücher sind ungerecht, weil sie am Glauben festhalten: Joyce' "Finnegans Wake" ist "geisteskrankes Gekreisch", das Werk des vormals verehrten Kafka ein "nervöses Zungeherausstrecken", abstrakte Malerei eine Komposition "farbiger Eiterflecken". Márai tritt aus der Zeit aus. Seine Nachbarschaft ist von nun an die Weltliteratur der Vormoderne. Mit ihr unterhält er sich im Tagebuch, als die Welt ihn vergessen hat.
Seit den sechziger Jahren ist Sándor Márai in der literarischen Öffentlichkeit nicht mehr gesehen worden, und auch keine deutsche Edition seiner Tagebücher hat diese Lücke schließen wollen. Als er wieder auftaucht, gehört er zu den letzten Überlebenden seiner Generation. Auszüge aus seinen letzten Tagebuchheften zwischen 1985 und 1989, die jetzt erschienen sind, geben ein erschütterndes Protokoll seines Todes. Binnen weniger Monate stirbt seine Frau Lola an Krebs, kurz darauf folgt ihr völlig überraschend der gemeinsame Sohn. Márai bleibt gerade noch genug Lebenszeit, um seine beginnende Wiederentdeckung zu ahnen. Ungarn hebt mit der politischen Wende die Verbannung seiner Bücher auf. Márai empfindet Genugtuung über seinen Wiedereintritt in die Erinnerung, doch seine Gespensterzeit ist abgelaufen: "Die Einsamkeit um mich herum ist dicht wie Winternebel, man ertastet sie. Der Todesgeruch entströmt schon den Kleidern." Eine Woche vor seinem Freitod schließt er auch das Tagebuch ab. Der Augenblick der ausbleibenden Antwort hat ein Ende gefunden: "Ich erwarte die Abberufung, ich dränge nicht, aber ich zögere auch nicht. Es ist soweit."
THOMAS WIRTZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Leben, wie nur die Weltgeschichte es beuteln konnte: Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai und seine überfällige Wiederentdeckung
Mancher Schriftsteller fand keinen Platz in der langen Reihe der Weltliteratur, weil er zwischen allen Stühlen durchgefallen war. Einige stellten sich dabei an wie eiferdumme Clowns, die ihren Sitz fürs Leben im letzten Augenblick wegstießen und auf dem Boden der Gegenwart hart landeten. Anderen aber zog der Weltgeist mit bösem Witz das Möbel unter dem Hintern weg, und unschuldig erlitten sie ihren freien Fall. Verständnislos auf die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit schauend, hatte der ungarische Schriftsteller Sándor Márai an einem Unglück nicht genug. So wurde ihm beides zuteil: Er erlitt die Vertreibung und vertrieb sich selbst, er war ein melancholischer Clown und das zufällige Opfer einer launischen Geschichte, er verdoppelte seinen Schmerz und teilte die Schuld. Am Ende hatte er die Lebenslehre verstanden: "Ich kaufe in meinem Leben keine Immobilien mehr, denn ich habe begriffen, daß ich mobil bin." Mehr als leichtes Gepäck durfte dieser Handlungsreisende des Bürgertums sich zeitlebens nicht zugestehen. Sein Sitz im Leben war der Reisewagen.
Schon die Unübersichtlichkeit seiner Biografie zeugt von dieser Unruhe. Geboren wurde Sándor Márai vor hundert Jahren im ungarischen Kaschau als Sohn eines Juristen. Im Jahr 1919 kam er in das Deutschland der Nachkriegszeit, ließ sich an den Universitäten von Leipzig, Frankfurt und Berlin einschreiben und wurde doch nie ein "ordentlicher" Student. Seine Alma Mater sollte das richtige Leben sein, das er irgendwo zwischen Leichenhalle und Bordell, zwischen Romanischem Café und dem Palais der Rothschilds anzutreffen hoffte. Durch Zufall landete er in der Redaktionsstube der "Frankfurter Zeitung", der wohl "einzigen echten Weltzeitung Deutschlands", und füllte einige Jahre lang ihr Feuilleton mit Wirklichkeitssplittern. Inzwischen verheiratet, floh er er vor der toll gewordenen Inflation 1923 nach Frankreich. In Paris wechselte er wöchentlich die verlausten Absteigen im Quartier Latin und zog schließlich in die runtergekommene Eleganz der rive droite, wo er Seidengardinen an die Fenster seiner Wohnung nagelte und sich von einem bemitleidenswerten Auto in den finanziellen Ruin fahren ließ. Zwischendurch reiste er wochenlang nach London und Damaskus, weil es dort auch irgendein Leben geben musste, von dem er noch nichts wusste.
Im Jahr 1928 kehrte er nach Budapest zurück und begann seine eigentliche literarische Arbeit. Die Phase der menschheitsdämmernden Lyrik war vorbei, dieser expressionistische Aufschrei der Heiserkeit. Márai hatte Else Lasker-Schüler kennen gelernt, und er hatte Ringelnatz gelauscht, der betrunkene Ansprachen an die Tiere des Zoos richtete. Auch Dramen schrieb Márai in dieser wortversessenen Zeit, die auf Experimentalbühnen der deutschen Provinz scheiterten und das Publikum mit Reue über den Kartenkauf nach Hause gehen ließen. Jetzt aber brach die Zeit der Romane an, vieler Romane. Fast zwanzig von ihnen wurden bis in die fünfziger Jahre auch ins Deutsche übersetzt, kein einziger Titel hat sich ins Gedächtnis eingeschrieben. "Die Nacht vor der Scheidung", "Achtung! Bissiger Hund!", "Ein Herr aus Venedig", "Verzauberung in Ithaka": Niemand mehr kennt diese Bücher, deren Titel sich so leicht verderblich wie das billige Knistern von Konfektionsware anhören. Aus der Literatur wurden sie in katholische Leihbüchereien fortgespült. Jetzt sind die ersten wieder zurückgekommen und mit ihnen die Entdeckung eines Tagebuchschreibers von europäischem Format.
Im Jahr 1944 marschieren die Deutschen in Budapest ein. Sándor Márais Wohnung wird zerstört, sechstausend Bücher seiner Bibliothek lösen sich im Regen zu unverdaulichem Brei auf. So "nimmt eine Lebensform ein Ende", und wieder hatte sich ein Besitz in Zellulose zurückverwandelt. Er flüchtet erneut ins Ausland und zieht sich vor der kommunistischen Eroberung immer weiter nach Westen zurück. Bis 1950 lebt er in der Schweiz und findet dann für zwei Jahre in Süditalien die wärmende Solidarität der Armut. "So wie Neapel, ist auch das bürgerliche Weltbild am Fuß eines Vulkans erbaut." Bevor er endgültig ausbricht und diesen verzweifelten Bürger versteinern lässt, gibt Márai den Kontinent auf - verloren hatte er ihn schon früher: "Wenn ich diesen Erdteil einmal verlasse, dann wird mir Europa sehr fehlen. Aber ich vermisse Europa auch schon hier in Europa." Márai siedelt nach New York über und sucht dort ein letztes Mal Anschluss an Europa, indem er eine Wohnung in der Nähe von "The Cloysters" nimmt, diesem Potpourri aus Architekturen, die Rockefeller wie einen period room in der freien Luft zusammentragen ließ. Dort sind die Wolkenkratzer nicht so hoch und Europa nicht so weit. Doch Márai hat den Kampf um die Tradition verloren. Er kapituliert und zieht sich für die letzten Jahrzehnte unter die geschichtslose Sonne Kaliforniens zurück. Am 15. Januar 1989 erschießt er sich mit einer Pistole in San Diego, deren Benutzung er zuvor bei einem Seminar der örtlichen Polizei vorschriftsmäßig erlernte.
Monarchie, Diktatur, Demokratie: Zwischen der Reibung dieser politischen Systeme ging sein ganzer materieller Besitz verloren. Was aber für Márai schwerer wog, war das Verschwinden einer historischen Zeit. Aufgewachsen war er unter dem eindämmernden Horizont eines Bürgertums, das die Welt mit seiner Kultur befrieden wollte. Noch war dieses Licht der Aufklärung nicht untergangen, noch versprach die Tradition ihre Langsamkeit, in der sich Formen behutsam wandelten und das einmal Gelernte immer nützlich blieb. Die Landkarte des bürgerlichen Geistes schien bis zum Stillstand vermessen, man fand sich in ihrem Maßstab zurecht, alle Grenzen waren abgeschritten.
Sándor Márai litt unter dieser ruhigen Vergangenheit und ihrem Versprechen von persönlichem Glück, denn er war zu spät gekommen. Lediglich einen langen bürgerlichen Schatten durfte er werfen, von der tief stehenden Sonne für einen Moment vor ihrem Untergang beschienen. Je verklärter die wenigen sichtbaren Kulturreste wirkten, desto aufgeregter jagte Márai ihnen hinterher. Die "Bekenntnisse eines Bürgers", die Autobiografie des Vierunddreißigjährigen und sein wohl bestes Buch, liefern das erschütternde Protokoll dieser Atemlosigkeit. Denn aus dem Jäger ist ein innerlich Gejagter geworden, aus den Händen hat er alles verloren und nur die Neurose zurückbehalten. Seine Untreue gegen Frauen und das Vagabundieren zwischen anonymen Wohnungen zeugen von einer ziellosen Sensibilität, einem Suchen ohne Finderlohn. Da ist nichts mehr von der überlegenen Sehnsucht eines Don Juan, sondern nur der Jammer eines erotisch Verkaterten, der am Morgen seinen Anblick im fremden Spiegel nicht ertragen kann.
Und doch weicht er diesen Niederlagen nicht aus. Die "Bekenntnisse" sind von einer Wahrhaftigkeit, die das Leiden bis zum Kippmoment unerträglicher Intensität vorantreibt. Erst dort, am Boden eines scheinbar zerstörten Lebens, beginnt der Aufstieg. "Alles ist verlorengegangen, alles. Die Sprache, die Heimat, der Sinn der Arbeit, die Jugend. Alles ist nur mehr verpestete, in Verwesung übergehende Erinnerung. Ich bin endlich frei!" Noch in diesem biografischen Phönix-Modell, das die Geburt des Schriftstellers an seine bürgerliche Vernichtung bindet, bleibt Márai im Bannkreis des Verlorenen, bleibt er der bürgerliche Autor, der nur als Außenseiter dazugehören kann. Was von der Weltgeschichte davongetragen wurde, rettet er als Erinnerungsbild in die Literatur. "Ich beobachte seltsame Variationen des Heimwehs an mir selber, ich sehne mich nicht nach einem ,Vaterland', sondern nach einem Wortbild."
Man muss die "Bekenntnisse" lesen, diese Grabstätte einer Familie und einer Idee, um zu ermessen, wie dieses literarische "Wortbild" mit einem bürgerlichen "Weltbild" zusammenhängt. Denn im ersten Teil schreitet Márai noch einmal die "verborgenen Landesgrenzen des versunkenen Reichs der Familie" ab, mit einer epischen Ausführlichkeit, die trennender Grenzstein und bewahrender Grabstein zugleich ist.
Die Vorfahren seiner Eltern waren sächsischer Herkunft, im siebzehnten Jahrhundert nach Ungarn eingewandert, bald geadelt und dem gesprochenen "Zipserdeutsch" treu. Wen Márai durch Erzählung oder Besuch von ihnen noch gekannt hat, den zeichnet er in einem Porträt nach: den Musiker, der sich erschoss, weil sein Talent nur für die Militärkapelle reichte; der Jurist, der aus seiner Laufbahn ausstieg und Fleischer wurde; der Offizier, der irgendwann im Ausland verschwand und als "Lüstling des Nikotins" wiederkehrte. Sie alle sind exzessive Charaktere, Mitglieder eines prallen Panoptikums, die groß nur in ihrem Scheitern waren. Und sie alle verkörpern den Bürger als verzerrtes Abbild, sind Trümmerhaufen von Biografien, die nichts als ihren Untergang ordnungsgemäß betrieben. Márai hegt für sie große Sympathie und hat ihre vorbildliche Selbstzerstörung für das eigene Leben nicht vergessen.
Bis in die Familie hinein scheint diese historische Abenddämmerung. Derart fein ist die Gesellschaft in ihren Ständen unterschieden, dass noch die Ehepartner von ihrem Dünkel gegeneinander nicht lassen können und das soziale Pulverfass auf den Mittagstisch stellen. Und während das Wohnzimmer bei Márais täglich gereinigt wird, die Mutter hysterisch die Bazillen zwischen ihrem Plüsch wimmeln sieht, drängt aus der Küche unglaublicher Dunst in die Wohnung. Dort kochen, schlafen und waschen sich die Dienstmädchen, dort ist das Elend nur eine Tür von der verzweifelten Sterilität getrennt. Die "Bekenntnisse" sind grandios in der Schilderung solcher Widersprüche. Sie wahren die literarische Form, weil die umgebende Welt aus den Fugen geraten ist, sie sind konservativ, weil nichts mehr zu bewahren ist. Am Tag, als der Erste Weltkrieg ausbricht, zerstört ein Sturm den Wald ihres Ausflugsorts. Nicht einmal die Natur ist zu retten.
Der Krieg selbst taucht in Márais Erinnerungen nur als Lücke auf. Er ist ein Abgrund, in den nicht hineingeschaut wird. Als der Student 1919 in Leipzig wieder auftaucht, sind er und sein Stil nicht mehr dieselben. Aus dem Archivar des Verfalls einer Familie ist ein junger Neurotiker geworden, "mit der Panik des Untergangs in den Nerven" und ohne Geld in den Taschen. Zwanzig Anzüge mit Samtkragen hat er von zu Hause mitgebracht, die er bald gegen englische Zigaretten eintauscht. Als Besitz ist ihm nur die exzentrische Geste geblieben, das absurde Detail eines Baudelaire. Er trägt alles ins Pfandhaus, bis ihm nur noch ein Knochenkruzifix, ein Negerfetisch und sein Kaktus bleiben. Mit ihnen wechselt er die Zimmer häufiger als die Wäsche und hält sich im teuren Kaffeehaus auf, weil ihm das Geld für das billige Brennholz ausgegangen ist. Er richtet sich im ungemütlichen Widerspruch ein. Wer keine Heimat mehr hat, lässt sich von dort auch nicht mehr vertreiben.
Márai gründet die Zeitschrift "Endymion", die schon nach der ersten Nummer an Auszehrung eingeht. Er schreibt für die Satirezeitschrift "Der Drache" von Hans Reimann, wie ein Ethnograf alle sächsischen Sitten und Gebräuche anstaunend und keine verstehend. Vor allem jedoch jagt er dem Leben hinterher, dessen Rockschöße immer in einem anderen Stadtviertel, von anderen Leuten zu anderer Zeit gesichtet wurden. Er ist besessen von der "Schwärmerei, mit der ich das Wunder des Seins feierte", ein rasender Liebhaber der Tatsachen, der sie trotz unermüdlicher Aufmerksamkeit stets versäumt. Mitten in der Nacht bricht er aus seinem Zimmer auf, weil irgendwo irgendwem irgendwas geschehen könnte, endlos streunt er auf den Straßen umher, schreibt alles auf kleine Zettel und stopft diese Ereignisse in seine Taschen, wo sie am Morgen zu Abfall zerfallen sind.
Seine Unrast wird journalistisch gebändigt, als er für die "Frankfurter Zeitung" zu arbeiten beginnt. Die Redaktion sitzt in der Eschersheimer Landstraße, "in einem baufälligen alten Haus, das von der Straße gesehen wie eine Mischung aus einem Jagdschloß und einer Dampfmühle wirkte". Von dort beobachtet sie die Welt und die Nebensätze der Mitarbeiter, deren Korrektheit auch ihre Wahrheit verbürgte. Márai schrieb alles auf, "was mir das Leben zufällig vor die Füße warf", ein unglücklicher Lumpensammler, der mit jeder gefundenen Zeile, mit jedem Lumpenstück viele weitere versäumt hatte.
Und der Lebenswirbel beschleunigte sich. In Berlin kamen die erotischen Eskapaden hinzu, weil die Bürger sich in der Inflationspest enthemmten. Die Stadt taumelt in die Betten, ihre Anständigkeit verliert sich unter Daunen. Inmitten dieses Karnevals der entblößten Tugenden lernt Márai Lola kennen, die wie er aus Kaschau stammt. Beide heiraten, doch Vernunft gehört nicht zur ersten Haushaltsausstattung. Ihr Vermögen widmen sie einem "Schuhschrank aus Hartholz", in dem sich ihre drei Paare ohne Platzangst verlieren. Beim nächsten Wohnungswechsel lassen sie ihn zurück. In Paris, wohin beide aus der Inflation gestolpert sind, steigert sich diese Kopflosigkeit. Márai verliert alles, je mehr er es im journalistischen Schreiben festhalten will. Sein Leben selbst scheint eine Inflationsware und vom Wertverlust angesteckt. Bevor er es restlos aus den Händen verliert, gelingt ihm der rettende Sprung. Im Jahr 1928 kehrt er nach Ungarn zurück, in den Taschen genug Leben, um davon literarisch zehren zu können.
Es beginnen Sándor Márais erfolgreichste Jahre, denn in der kleinen randständigen Heimat von Land und Sprache gelingen ihm europäische Romane: Er, der vorher hinter jeder Straßenecke das Leben suchte, findet nun am Schreibtisch sein Publikum. Zu diesen Romanen gehört "Die Glut", 1942 in Ungarn veröffentlicht, 1950 schon einmal unter dem Titel "Die Kerzen brennen ab" ins Deutsche übertragen und jetzt - das ist sicher - der Beginn einer anhaltenden Márai-Wiederentdeckung. Was an diesem einen Tag der Handlung, dem 14. August 1940, geschieht, ist ein Kammerspiel der Selbstzerstörung, ein Tag des letzten Gerichts. Einundvierzig Jahre sind vergangen, nachdem sich Konrád einer scheinbar unzertrennlichen Freundschaft durch Flucht entzog. Zurück bleibt Henrik, jetzt ein fünfundsiebzigjähriger General, der sich nach dem Tod seiner Frau Krizstina vor mehr als drei Jahrzehnten in das Schlafzimmer seines Schlosses verbannt hatte. An diesem Abend nimmt das Warten ein Ende. Nach dem jahrelangen Absterben kann nur noch der Tod kommen.
Auch wenn das Buch schmal ist, beeindruckt es mit seinem lange verzögerten Atem. Erst nach und nach kommt eine Tat ans Kerzenlicht, die niemals ihre Aufklärung gefunden hat. Damals entdeckte der General das Verhältnis zwischen Konrád und seiner Frau, und er erlebte den unendlich gedehnten Augenblick, als der Freund während einer Jagd die Waffe auf ihn richtete. Obwohl sich kein Schuss löste und Konrád an das andere Ende der Welt floh, hat dieser Augenblick für sie alle nicht aufgehört. Denn ihm fehlt das abschließende Warum, eine Antwort auf ihre gemeinsam getragene Schuld. So bleiben sie alle wie Verbrecher an die eine Tat gekettet, verlorene Freunde, die den Untergang ohne Ende gelebt haben. Ihre Aussprache an diesem Abend stellt noch einmal die alten Fragen, doch jede Antwort hat sich erübrigt. Nach so langer Zeit ist sie nicht mehr wichtig geworden.
Sándor Márai hat einen grandiosen, einen quälenden Gespensterroman geschrieben, einen Totengesang der Überlebenden, denen die Wahrheit zum Fegefeuer geworden ist. Die Glut hat ihnen das Leben zur Asche ausgebrannt. So haben sie das Mitsterben vergessen und Schuld auf sich geladen: "Wer jemanden überlebt, ist immer ein Verräter." In Márais Roman glimmt die Erzählwelt Kakaniens noch einmal auf, der Glaube an die soldatische Uniform, die Rituale der Freundschaft, die Liebe.
Noch einmal erscheint der Mensch als eine ganze Person, als Geheimnisträger eines Lebens, dem die soziologische Analyse niemals beikommen wird. Diese Person ist Márais Glaubensbekenntnis und sein Einverständnis mit der historischen Verspätung. In den Tagebüchern von 1947 schreibt er: "Der Mensch ist keine neutralisierbare Substanz, und selbst wenn man ihn auch in was immer für eine Wurstspritze hineinpreßt, bleibt seine Substanz explosiv, und eines Tages wird er dem großen System persönlich antworten. Dies ist die letzte Hoffnung." Die Leichenstarre der österreichischen Monarchie hat auch ein Joseph Roth abgetastet, doch Márai ist in seiner Trauer kälter und weniger sentimental. Die Weinerlichkeit des "Radetzkymarsch" attackiert er mit seiner geradezu metaphysischen Hartnäckigkeit: Der Sinn des Lebens, diese verlachte Clownsfigur der Moderne, erlebt bei Márai ihren ernsthaften Schlussauftritt. Ohne Häme darf sie noch einmal von Leidenschaft und den großen "alteuropäischen" Begriffen reden. Márai hat in Kauf genommen, selbst zu einem Gespenst zu werden. Als er vor den Kommunisten aus seiner ungarischen Heimat flieht, verliert er über Nacht und für Jahrzehnte auch sein Publikum. Sein Bruch mit der Gegenwart ist unumkehrbar, der Aufenthalt seines Exils nicht von dieser Zeit: "Der Emigrant, der ans ,Nachhausegehen' denkt, ist kein wirklicher Emigrant. Man kann nach Hause gehen, aber nur wie Ulysses: um zu sterben."
Man muss Márais trotzige Trauer um das Individuum kennen, um seinen Ekel gegen die Moderne zu verstehen. Die Tagebücher sind ungerecht, weil sie am Glauben festhalten: Joyce' "Finnegans Wake" ist "geisteskrankes Gekreisch", das Werk des vormals verehrten Kafka ein "nervöses Zungeherausstrecken", abstrakte Malerei eine Komposition "farbiger Eiterflecken". Márai tritt aus der Zeit aus. Seine Nachbarschaft ist von nun an die Weltliteratur der Vormoderne. Mit ihr unterhält er sich im Tagebuch, als die Welt ihn vergessen hat.
Seit den sechziger Jahren ist Sándor Márai in der literarischen Öffentlichkeit nicht mehr gesehen worden, und auch keine deutsche Edition seiner Tagebücher hat diese Lücke schließen wollen. Als er wieder auftaucht, gehört er zu den letzten Überlebenden seiner Generation. Auszüge aus seinen letzten Tagebuchheften zwischen 1985 und 1989, die jetzt erschienen sind, geben ein erschütterndes Protokoll seines Todes. Binnen weniger Monate stirbt seine Frau Lola an Krebs, kurz darauf folgt ihr völlig überraschend der gemeinsame Sohn. Márai bleibt gerade noch genug Lebenszeit, um seine beginnende Wiederentdeckung zu ahnen. Ungarn hebt mit der politischen Wende die Verbannung seiner Bücher auf. Márai empfindet Genugtuung über seinen Wiedereintritt in die Erinnerung, doch seine Gespensterzeit ist abgelaufen: "Die Einsamkeit um mich herum ist dicht wie Winternebel, man ertastet sie. Der Todesgeruch entströmt schon den Kleidern." Eine Woche vor seinem Freitod schließt er auch das Tagebuch ab. Der Augenblick der ausbleibenden Antwort hat ein Ende gefunden: "Ich erwarte die Abberufung, ich dränge nicht, aber ich zögere auch nicht. Es ist soweit."
THOMAS WIRTZ
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