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Produktdetails
  • edition suhrkamp
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 19mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 180g
  • ISBN-13: 9783518119730
  • Artikelnr.: 24364333
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.1998

Tränen lügen nicht
Harald Strohm folgt seinen Gefühlen und findet die geheime Geschichte des Nationalsozialismus

"Die - neben dem Marxismus - mächtigste und folgenschwerste gnostische ,Bewegung' des zwanzigsten Jahrhunderts war der Nationalsozialismus." Dieser provozierende Satz ist die Grundthese von Harald Strohms Buch. Der Verfasser möchte zur Klärung der historischen Wurzeln der Nazi-Ideologie beitragen - besonders im Hinblick auf Alfred Rosenbergs "Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts" als Religion des Blutes und der Rasse und auf Adolf Hitlers Weltanschauung, wie sie aus mündlichen Quellen und aus dem Zeugnis von "Mein Kampf" zu rekonstruieren ist.

Strohm versteht seine Untersuchung als eine Hilfe zur "Vergangenheitsbewältigung", und zwar in doppelter Hinsicht: als eine "Mythologie" (Teil I des Bandes), die das gefährliche und weit verzweigte gnostische "Wurzelwerk im Untergrund des Abendlandes" aufdecken soll, und als eine "Psychologie" (Teil II), welche die gnostischen Mechanismen analysiert, die der seelischen Verfassung Hitlers zugrunde lagen. Denn die "Autismuskapsel konturenlosen Selbst- und Welthasses", in der der sogenannte "Führer" seit seiner Kindheit eingeschlossen gewesen sein soll, ist nach Strohm für einen Gnostiker geradezu charakteristisch: "Hitlers Angst war psychotisch-brutal - wie die der einstigen Manichäer. Solcher Angst hilflos ausgeliefert, begegnete Hitler, ein Jüngling noch von nicht einmal achtzehn Jahren, dem neugnostischen Mythos."

Psychologie und Geistesgeschichte sind die zwei Hauptbestandteile des Buches. In die Art und Weise, wie es geschrieben wurde, gibt der Verfasser einen offenen, leicht besorgniserregenden Einblick: "Während seiner Niederschrift achtete ich auf die Reaktionen meines Körpers und meiner Gefühle. Wo sich Dumpfheit, Verwirrung und Verzweiflung einstellten, wo meine Augen stier und meine Gesichtsmuskeln hart wurden - setzte ich den Rotstift an. Gefühle gelten nach herrschendem Vorurteil als unsachlich: wissenschaftliche Diskurse hätten sich davon freizuhalten. Bei beiden hier behandelten Themen, Gnosis und Nationalsozialismus, wäre solche Nüchternheit zynisch und das pure Gegenteil von sachgerecht. Dabei besteht, gewiß, die Gefahr, daß die verhandelte Sache primär eine Privatangelegenheit bleibt und der Autor seine eigenen psychischen Defekte ins Kollektive projiziert. Inwieweit dies im folgenden Text der Fall ist, müssen andere beurteilen. Ich selbst erlebte meine Gefühle und Körperreaktionen (zum Beispiel Tränen) als zuverlässige und sachorientierte Wegweiser."

Der Autor setzt viel Vertrauen in diese Art "phänomenologisch-existentialistischer" Methode, bei der er "sich hineinzudenken versucht", um philosophische Lehren "zu spüren zu bekommen". So konstruiert er eine fast allumfassende gnostische Genealogie, die von den Bogomilen und den Katharern über die mittelalterliche Alchimie, Mystik und Kabbala bis zu Helena Blavatsky, Rudolf Steiner und Ron L. Hubbard reicht und sich verzweigt in die Tübinger Rosenkreutzer, Teilhard de Chardin, Aleister Crowley, Fichte, Hegel, Schelling, Scheler, Jaspers, General Ludendorff, Lanz von Liebenfels, Hitler und Rosenberg. Es sind dies nur einige Beispiele dafür, wie "die subjektivierende Autismus-Software des Manichäismus und insgesamt der orientalischen Lichtreligionen das Abendland infizierte. Vor allem Descartes und Fichte übersetzten dann in der Neuzeit die codierte Software in die Sprache der Subjektivitätsphilosophie."

Das "Neu-Atlantis" Francis Bacons erweist sich verwandt mit der mythischen Thule von Rudolf von Sebottendorff, die Sperma-Gnosis zeigt Ähnlichkeit mit der FKK-Bewegung, der geschärfte Blick des Autors enthüllt eine "phänomenologische Verwandtschaft von Manichäismus und Calvinismus", und Wolfram von Eschenbachs Parzival wird zum Zeugnis eines Dualismus persischer und hunnischer Provenienz. Daß die germanistische Forschung dieses alte Märchen längst erledigt hat, interessiert Strohm nicht besonders. Denn die Wissenschaft der Etymologie hat den Beweis parat, wie früh die iranische Gnosis ihre unseligen Einflüsse über die germanische Welt auszuüben begann. "Ich meine unser Wort Pfirsich. Pfirsich leitet sich lautgesetzlich regelmäßig aus lat. persica = ,die Persische' (Frucht) her und ist, da die entsprechenden lautlichen Veränderungen um 700 nach Christus abgeschlossen waren, also bereits vor 700 in die deutsche Volkssprache entlehnt worden." Die zweite Lautverschiebung "belegt zwar keinen direkt manichäischen Import, beweist doch sehr frühe Kanäle nach Iran". Manichäische Pfirsichhändler auf der Seidenstraße! Das Zauberwort der "Gnosis" hilft Strohm, vorher undenkbare Brücken zu schlagen und unerwartet reizvolle, geistreiche und überraschende Perspektiven zu eröffnen.

Ob diese ideologiekritische Gymnastik etwas mit Geistesgeschichte im modernen Sinne zu tun hat, bleibt freilich eine offene Frage. Als befremdlich wird das Buch vor allem derjenige empfinden, der davon überzeugt ist, daß das Studium der Vergangenheit eher in der fleißigen Herausarbeitung von Differenzen und historischen Eigentümlichkeiten besteht als in der pauschalen Anwendung universalgeschichtlicher Schematismen, und auch der Leser, der mehr auf die Quellenkritik vertraut als auf Gefühle.

Selbst bei der Analyse der Nazi-Ideologie lassen Strohms Argumente zu wünschen übrig. Weder im vorzüglichen "Personen-und Sachverzeichnis" der Standardausgabe von Hitlers "Mein Kampf" noch im viel weniger gewissenhaft hergestellten Register von Rosenbergs "Mythus" wird zum Beispiel die historische Gnosis erwähnt. Im Gegenteil schreibt Rosenberg "der germanisch-nordischen Seele" der alten Inder einen gesunden "Monismus" zu und sah bestimmt die dualistische Lehre von Gnostikern wie Basilides, Valentin, Marcion als einen Ausdruck der entarteten Seele "syrisch-afrikanischer Wüstensöhne" und ähnlicher "Rassenmischlinge" an. Und selbst wenn Hitler ein eifriger Leser der rassistischen "Ostara"-Hefte von Jörg Lanz von Liebenfels war - was haben die Verrücktheiten des Begründers eines "Ordens des Neuen Tempels" mit der historischen Lehre eines Basilides überhaupt zu tun?

Strohm fühlt sich als Arzt und will mit seinem Buch ein Heilmittel für unsere Zeit anbieten. Seine Therapie besteht in der Bekämpfung von Assoziationen durch Gegenassoziationen und von Schematismen durch Gegenschematismen. Der Einsatz ist tatsächlich kapital. Aber wird eine solche massive homöopathische Therapie funktionieren? Wenn nicht, wird uns immerhin das probate Arzneimittel der wissenschaftlichen, analytischen Geschichtsforschung zur Verfügung bleiben. Es fordert viel Arbeit, große Geduld und sorgfältige Dosierung, hat aber keine Risiken und wirkt in der Regel tief und definitiv. LORIS STURLESE

Harald Strohm: "Die Gnosis und der Nationalsozialismus". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 293 S., br., 22,80 DM.

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