Wenn ein Leben nur in der Lüge möglich ist
In dem Moment, als auf der Grand Trunk Road Schüsse zu hören sind, beginnt Nargis' Leben zu zerbrechen. Ihr Ehemann gelangt versehentlich ins Kreuzfeuer und stirbt, bevor sie ihm die Wahrheit über ihre Vergangenheit beichten kann. Schon seit Längerem fürchtet sie, dass diese bald ans Licht kommen wird: Ein Unbekannter verkündet regelmäßig Geheimnisse der Anwohner vom Minarett der örtlichen Moscheen und versetzt damit Muslime und Christen gleichermaßen in Angst. Als die Lautsprecher die verbotene Liaison ihres Nachbarn mit der Tochter des muslimischen Geistlichen aufdecken, sind die Einschläge so nah, dass Nargis handeln muss ...
In der für ihn typischen leuchtenden Prosa erzählt Nadeem Aslam eine Geschichte über Fanatismus, Widerstandsvermögen und die Lügen, die manchmal nötig sind, um zu überleben. Ein mutiger, zeitgemäßer und schmerzlich schöner Roman, in dem sich Pakistans Vergangenheit und Gegenwart spiegeln.
In dem Moment, als auf der Grand Trunk Road Schüsse zu hören sind, beginnt Nargis' Leben zu zerbrechen. Ihr Ehemann gelangt versehentlich ins Kreuzfeuer und stirbt, bevor sie ihm die Wahrheit über ihre Vergangenheit beichten kann. Schon seit Längerem fürchtet sie, dass diese bald ans Licht kommen wird: Ein Unbekannter verkündet regelmäßig Geheimnisse der Anwohner vom Minarett der örtlichen Moscheen und versetzt damit Muslime und Christen gleichermaßen in Angst. Als die Lautsprecher die verbotene Liaison ihres Nachbarn mit der Tochter des muslimischen Geistlichen aufdecken, sind die Einschläge so nah, dass Nargis handeln muss ...
In der für ihn typischen leuchtenden Prosa erzählt Nadeem Aslam eine Geschichte über Fanatismus, Widerstandsvermögen und die Lügen, die manchmal nötig sind, um zu überleben. Ein mutiger, zeitgemäßer und schmerzlich schöner Roman, in dem sich Pakistans Vergangenheit und Gegenwart spiegeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2017In den Nischen der Liebe
Nadeem Aslams Roman "Die Goldene Legende"
Es ist eine unbarmherzige Welt, die Nadeem Aslams Leser betreten. Seinen fünften Roman, "Die Goldene Legende", widmet der in Großbritannien lebende Autor seiner Heimat Pakistan. Zuletzt war dort sein Debüt, "Der Garten des Blinden", angesiedelt. In der Stadt Zamana spitzt sich im neuen Buch der Konflikt zwischen Christen und Muslimen zu, weil Unbekannte die Geheimnisse aller Stadtbewohner vom Minarett der örtlichen Moschee aus verkünden. Während fanatische Islamisten erstarken und so das Leben für Andersdenkende immer gefährlicher wird, trauern Nargis, Helen und Imran um den Verlust von Angehörigen. In einer Welt, in der alles politisch ist, sind auch deren Tode äußeren Ereignissen geschuldet.
Aslam gelingt es in "Die Goldene Legende", die jüngere Geschichte und die Gegenwart der Region einzufangen und geschickt mit der Handlung zu verweben. Am Beispiel der vom indischen Militär unterdrückten Region Kaschmir lässt er den Leser etwa mühelos nachvollziehen, wie sich islamistische Gruppierungen dort als Widerstandskämpfer etablieren konnten. In Pakistan hat ihnen die korrupte Regierung wenig entgegenzusetzen: Die religiösen Fanatiker schüchtern Richter ein, und die CIA besticht und bedroht ihrerseits die Angehörigen der Opfer von Straftaten amerikanischer Staatsbürger.
Als Vierzehnjähriger musste Aslam aufgrund oppositioneller Aktivitäten seines Vaters aus Pakistan fliehen. In einer Szene erzählt er, wie Polizisten, die selbst schlimmste Verbrechen begangen haben, Helens Vater, einen vermeintlichen Gotteslästerer, töten, damit "ihnen ihre vielen Sünden mit dieser einen Tat genommen" werden. Solche Pervertierung der islamischen Religion steht im Kontrast zur tiefempfundenen Glaubensausübung der Protagonisten, die, wenngleich nicht unfehlbar, in der gewalttätigen Umgebung mit ihrer Menschlichkeit hervorstechen. Die kühne und loyale Nargis gibt sich seit ihrer Studienzeit als Muslima aus und bereut nach dem Tod ihres Mannes, ihm nie die Wahrheit über ihre christliche Vergangenheit erzählt zu haben. Während Christen in Pakistan von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft als unrein und minderwertig behandelt werden, zieht sie Helen, die hochbegabte Tochter ihrer christlichen Dienstboten, wie ihr eigenes Kind auf. Helen verliebt sich später in den muslimischen Kaschmiri Imran, der angesichts der Brutalität der rebellischen Islamisten den Widerstandskampf in seiner Heimat aufgegeben hat.
Neben familiären und romantischen Beziehungen eint die Protagonisten ein gemeinsames Ideal: religiöser Frieden. Aber nicht nur fanatische Islamisten stehen diesem Ideal im Weg. Ein Major der amerikanischen Armee vernichtet aus Rache Nargis' Buch "Auf dass sie sich kennenlernen". Dieses Buch war Zeugnis von "Kontakten zwischen den Kulturen" und gewissermaßen die ideelle Grundlage ihres interreligiösen Zusammenlebens. Im Laufe der Handlung nähen Nargis, Helen und Imran die zerrissenen Seiten in mühevoller Arbeit und mit goldenem Faden wieder zusammen.
Aber auch einige Nebenfiguren bieten Hoffnungsschimmer. Eine Muslima, deren Mann an einer der gewaltsamen Demonstrationen gegen die dänischen Mohammed-Karikaturen teilnimmt, lässt Aslam etwa schimpfen: "Irgendein Narr im Westen malt Bildchen, und sie strömen auf die Straße, als wär's das Ende der Welt. Ihre Gefühle sind verletzt? Dass ich nicht lache. Warum sind ihre Gefühle nie verletzt angesichts der Grausamkeiten und Schande im eigenen Land?" Solche Stimmen muslimischer Vernunft sind es, die Aslam gerade westliche Leser hören lassen möchte.
Die von den Golfstaaten geförderten Extremisten entlarvt er als scheinheilige und manipulative politische Akteure: Während sich ein Islamist und Christenhasser über einen Anschlag auf ein Sufi-Mausoleum, das Menschen verschiedenster Religionen heilig ist, freut und die Täter im Freundeskreis als "die wahren Helden des Islams" bezeichnet, lässt er offiziell verlauten, die Amerikaner hätten den Anschlag verübt.
Nur im Miteinander finden Nadeem Aslams Protagonisten Trost, sie suchen nach "Nischen der Liebe". Eine Affäre von Helens Vater mit der Witwe eines Islamisten wird deshalb trotz oder gerade wegen der gesellschaftlichen Ächtung einer solchen Beziehung als durchweg positiv bewertet. Gerade die sexuellen Bedürfnisse der weiblichen muslimischen Figuren werden als absolut natürlich dargestellt. Das Verlangen nacheinander nennt Aslams Erzähler "das Einfachste auf der Welt".
So eine Stimme mag leise erscheinen neben dem Gebrüll der Fanatiker. Dass aber die Lautesten nicht immer auch in der Mehrheit sind, ist die Botschaft von Aslams Roman: Einfache Menschen wollten in Ruhe gelassen werden und auch andere in Ruhe lassen.
Umso wichtiger, dass wir seiner Stimmen zuhören und nicht dem Geschrei der Extremisten.
CINDY RIECHAU.
Nadeem Aslam: "Die Goldene Legende". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. DVA, München 2017. 416 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nadeem Aslams Roman "Die Goldene Legende"
Es ist eine unbarmherzige Welt, die Nadeem Aslams Leser betreten. Seinen fünften Roman, "Die Goldene Legende", widmet der in Großbritannien lebende Autor seiner Heimat Pakistan. Zuletzt war dort sein Debüt, "Der Garten des Blinden", angesiedelt. In der Stadt Zamana spitzt sich im neuen Buch der Konflikt zwischen Christen und Muslimen zu, weil Unbekannte die Geheimnisse aller Stadtbewohner vom Minarett der örtlichen Moschee aus verkünden. Während fanatische Islamisten erstarken und so das Leben für Andersdenkende immer gefährlicher wird, trauern Nargis, Helen und Imran um den Verlust von Angehörigen. In einer Welt, in der alles politisch ist, sind auch deren Tode äußeren Ereignissen geschuldet.
Aslam gelingt es in "Die Goldene Legende", die jüngere Geschichte und die Gegenwart der Region einzufangen und geschickt mit der Handlung zu verweben. Am Beispiel der vom indischen Militär unterdrückten Region Kaschmir lässt er den Leser etwa mühelos nachvollziehen, wie sich islamistische Gruppierungen dort als Widerstandskämpfer etablieren konnten. In Pakistan hat ihnen die korrupte Regierung wenig entgegenzusetzen: Die religiösen Fanatiker schüchtern Richter ein, und die CIA besticht und bedroht ihrerseits die Angehörigen der Opfer von Straftaten amerikanischer Staatsbürger.
Als Vierzehnjähriger musste Aslam aufgrund oppositioneller Aktivitäten seines Vaters aus Pakistan fliehen. In einer Szene erzählt er, wie Polizisten, die selbst schlimmste Verbrechen begangen haben, Helens Vater, einen vermeintlichen Gotteslästerer, töten, damit "ihnen ihre vielen Sünden mit dieser einen Tat genommen" werden. Solche Pervertierung der islamischen Religion steht im Kontrast zur tiefempfundenen Glaubensausübung der Protagonisten, die, wenngleich nicht unfehlbar, in der gewalttätigen Umgebung mit ihrer Menschlichkeit hervorstechen. Die kühne und loyale Nargis gibt sich seit ihrer Studienzeit als Muslima aus und bereut nach dem Tod ihres Mannes, ihm nie die Wahrheit über ihre christliche Vergangenheit erzählt zu haben. Während Christen in Pakistan von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft als unrein und minderwertig behandelt werden, zieht sie Helen, die hochbegabte Tochter ihrer christlichen Dienstboten, wie ihr eigenes Kind auf. Helen verliebt sich später in den muslimischen Kaschmiri Imran, der angesichts der Brutalität der rebellischen Islamisten den Widerstandskampf in seiner Heimat aufgegeben hat.
Neben familiären und romantischen Beziehungen eint die Protagonisten ein gemeinsames Ideal: religiöser Frieden. Aber nicht nur fanatische Islamisten stehen diesem Ideal im Weg. Ein Major der amerikanischen Armee vernichtet aus Rache Nargis' Buch "Auf dass sie sich kennenlernen". Dieses Buch war Zeugnis von "Kontakten zwischen den Kulturen" und gewissermaßen die ideelle Grundlage ihres interreligiösen Zusammenlebens. Im Laufe der Handlung nähen Nargis, Helen und Imran die zerrissenen Seiten in mühevoller Arbeit und mit goldenem Faden wieder zusammen.
Aber auch einige Nebenfiguren bieten Hoffnungsschimmer. Eine Muslima, deren Mann an einer der gewaltsamen Demonstrationen gegen die dänischen Mohammed-Karikaturen teilnimmt, lässt Aslam etwa schimpfen: "Irgendein Narr im Westen malt Bildchen, und sie strömen auf die Straße, als wär's das Ende der Welt. Ihre Gefühle sind verletzt? Dass ich nicht lache. Warum sind ihre Gefühle nie verletzt angesichts der Grausamkeiten und Schande im eigenen Land?" Solche Stimmen muslimischer Vernunft sind es, die Aslam gerade westliche Leser hören lassen möchte.
Die von den Golfstaaten geförderten Extremisten entlarvt er als scheinheilige und manipulative politische Akteure: Während sich ein Islamist und Christenhasser über einen Anschlag auf ein Sufi-Mausoleum, das Menschen verschiedenster Religionen heilig ist, freut und die Täter im Freundeskreis als "die wahren Helden des Islams" bezeichnet, lässt er offiziell verlauten, die Amerikaner hätten den Anschlag verübt.
Nur im Miteinander finden Nadeem Aslams Protagonisten Trost, sie suchen nach "Nischen der Liebe". Eine Affäre von Helens Vater mit der Witwe eines Islamisten wird deshalb trotz oder gerade wegen der gesellschaftlichen Ächtung einer solchen Beziehung als durchweg positiv bewertet. Gerade die sexuellen Bedürfnisse der weiblichen muslimischen Figuren werden als absolut natürlich dargestellt. Das Verlangen nacheinander nennt Aslams Erzähler "das Einfachste auf der Welt".
So eine Stimme mag leise erscheinen neben dem Gebrüll der Fanatiker. Dass aber die Lautesten nicht immer auch in der Mehrheit sind, ist die Botschaft von Aslams Roman: Einfache Menschen wollten in Ruhe gelassen werden und auch andere in Ruhe lassen.
Umso wichtiger, dass wir seiner Stimmen zuhören und nicht dem Geschrei der Extremisten.
CINDY RIECHAU.
Nadeem Aslam: "Die Goldene Legende". Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. DVA, München 2017. 416 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»So eine Stimme mag leise erscheinen neben dem Gebrüll der Fanatiker. ... Umso wichtiger, dass wir seiner Stimme zuhören und nicht dem Geschrei der Extremisten.« FAZ Frankfurter Allgemeine, Cindy Riechau