Sie sind zu dritt, und in dieser abgeschiedenen Villa hinter hohen Bäumen sind sie die Königinnen: die Gouvernanten. Auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Jungen geben sie wenig, lieber lassen sie sich melancholisch durch die hellen Tage treiben. Manchmal zieht es sie zum goldenen Tor, das ihr Reich be grenzt, wo sich, wild vor Verlangen, die Männerdrängeln. Erhört werden sie alle nicht, denn hier stellen die Gouvernanten die Regeln auf. Verliert sich aber ein Fremder in den Garten, gehen sie wie im Rausch auf die Jagd, richten den Ahnungslosen unerbittlich zu, mit Küssen und mit Bissen. Und all das vor den Augen des Nachbarn, der die angebeteten Frauen mit seinem Fernrohr auf Schritt und Tritt verfolgt... Mit Eleganz und dunkler Sinnlichkeit - und durchaus mit subtiler Komik - erzählt Anne Serre in diesem fantastischen Märchen von der Macht der Blicke und von weiblichem Begehren.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Einmal lesen ist nicht genug, so der restlos beglückte Rezensent Eberhard Rathgeb über Anne Serres Buch, das erstmals im Jahr 1992 erschienen war und nun endlich auf Deutsch vorliegt. Eine Geschichte wird darin nicht wirklich erzählt, erfahren wir, aber es geht um drei Gouvernanten, die von einem Ehepaar angestellt sind und auf deren wilde kleine Jungen aufpassen. Auch die Gouvernanten sind wild, fährt Rathgeb fort, sie ziehen sich gerne aus und toben durchs Gras, und wenn sich ein Mann, der ihnen gefällt, in ihre Nähe verirrt, kennen sie kein Halten mehr, ob er nun will oder nicht. Der Rezensent fühlt sich von Beginn an umfangen von einer romantischen Stimmung, in der sich das befremdliche Geschehen in einen weichen Zauberzustand auflöst. Es geht um das Aufblühen weiblicher Sexualität, so Rathgeb, Ahnungen sind da wichtiger als abschließende Erklärungen und eben deshalb ist diese Prosa für ihn so lebendig und gefühlsnah. Ganz besonders empfiehlt der Rezensent das Buch Paaren zur gemeinsamen Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.09.2023Die
Aufwallungen
Eine große Entdeckung: Anne Serres
Meistererzählung „Die Gouvernanten“
VON MEIKE FESSMANN
Drei junge Frauen sind die Heldinnen dieses Romans. Alles hüpft, alles springt, die Welt scheint mitzuschwingen, wenn ihre gelben Leder-Stiefeletten die Erde berühren. „Gouvernanten“ werden sie genannt, gelegentlich auch „drei Grazien“. Sie könnten einem Gemälde von Botticelli entsprungen sein oder einem von Raffael, vielleicht aber auch der Fantasie eines Marquis de Sade. Oder stehen sie doch näher bei Proust? Auch wenn man vieles zu kennen meint, steht dieser Roman merkwürdig fremd in der Landschaft der Gegenwartsliteratur. Im französischen Original wurde er bereits 1992 publiziert. Dem Spürsinn des Berenberg-Verlags und der Übersetzerin Patricia Klobusiczky ist es zu verdanken, dass „Die Gouvernanten“ nun wie ein Ufo vom anderen Stern mitten in der deutschen Gegenwart des Jahres 2023 landen.
Die 1960 in Bordeaux geborene Schriftstellerin Anne Serre steht bis heute auf dem Standpunkt, dass es der Reiz guter Literatur sei, dass man niemals genau wisse, wer spricht. Man kann darin ein Echo des berühmten Foucault’schen Aperçus über Autorschaft erkennen – „Wen kümmert’s, wer spricht?“ –, aber auch eine vergnügte Rhetorik des Spiels. Eine gewisse Ausgelassenheit schwebt über ihrem Stil, der sich den Künsten der Formalisierung und des Minimalismus verdankt.
Das Setting ist reduziert, ein Haus mit den Dimensionen einer Villa, ein Park drum herum, ein Haus gegenüber und ein schwungvoll gezeichneter Landstrich mit wenigen Straßen. Und natürlich die Bäume! Und das Gartentor! Freunde der Brevitas könnten sich an die Erzählungen Reinhard Lettaus erinnert fühlen, die mit Kutschen, Fürsten, Sommergewittern aufwarteten, nicht etwa um die Aristokratie zu verteidigen, sondern um ein formalisiertes Spielfeld zu schaffen, auf dem sich die literarischen Effekte an kleinen Details entzünden. Aber selbstverständlich auch an die contes philosophiques in der Tradition Voltaires, an Montaigne, Tschechow oder Maupassant. Anne Serre hat vierzehn Romane und zwei Kurzgeschichtenbände publiziert. Sie ist eine leidenschaftliche Leserin. Ihre Erinnerungen seien von Lektüren durchdrungen, schildert sie in Gesprächen. Irgendwann gebe es keinen substanziellen Unterschied mehr. Aus der Verbindung der beiden Materialien forme sie Literatur. In ihrem Erzählungsband „Im Herzen eines goldenen Sommers“ beginnt jede der äußerst kurzen Erzählungen mit dem ersten Satz eines Werks ihrer „persönlichen Bibliothek“, etwa von Raymond Carver, Claude Simon, Witold Gombrowicz, Broch, Rilke, Robert Walser, Lewis Carroll, Daphne du Maurier, Dylan Thomas oder Marie NDiaye. Für „Au cœur d’un été tout en or“ erhielt sie 2020 den Prix Goncourt de la Nouvelle. Vergangenes Jahr erschien der Band mit dreiunddreißig Erzählungen auf Deutsch, ebenfalls in der Übersetzung von Patricia Klobusiczky bei Berenberg.
Éléonore, Inès und Laura, wie die Gouvernanten heißen, haben eine Neigung zur Trägheit. Sie lassen sich treiben, träumen vor sich hin. So richtig in Fahrt kommen sie, sobald ein Fest ansteht. Tagelang gehen die Vorbereitungen. Dieses Mal steht gleich ein doppeltes Ereignis ins Haus. Das jährliche Fest fällt mit der Rückkehr der Familie Austeur zusammen, die mit ihren Kindern und Kindermädchen am Meer war. Ein Fest bedeutet „Pracht, Üppigkeit, überbordender Einfallsreichtum. (...) Es wird Gebrüll und Getobe geben, man wird durch die Alleen tollen, Arme recken und kreiseln und wirbeln. Man darf sich mit Stöcken bewaffnen und damit sowohl die Luft peitschen als auch das Gras. Man darf die Pferde ausspannen, an ihre Hälse geklammert durch den Park stürmen und das Laub zerteilen, bis man erschöpft zu ihren Füßen sinkt, in ihren warmen Atem gebettet.“
Der Roman, ursprünglich eine Erzählung, die Anne Serre ausgebaut hat, ist belebt von einem großen Schwung. Die einzelnen Kapitel sind wie Szenerien gebaut. Es gibt so etwas wie eine Dramaturgie, die allerdings eher einem Bilderreigen als einer fortschreitenden Handlung gleicht. Die Belebung des Hauses durch das Fest ist eine der Szenerien. Wie sich das Haus durch die Rückkehr des Hausherrn verändert, eine andere. Er sorgt für „Ordnung“ und bildet in gewisser Weise auch die Mitte des Haushalts. Aus dieser Position wird er verdrängt, als Laura ein Kind zur Welt bringt. Es zieht sofort alle Energien auf sich, die Gouvernanten sind hingerissen, die Kindermädchen auch. Dann aber wird es umstandslos in die Gruppe der Jungs integriert, in der es keine besondere Rolle mehr spielt. Die Inszenierung des weiblichen Begehrens huldigt hemmungslos der Lebensfreude. Mal legen sich die Gouvernanten auf einem Spaziergang mitten in die Landschaft, schieben ihre Kleider nach oben, öffnen ihre Mieder und lassen Libellen und Schmetterlinge um ihre Vulva tanzen. Mal kommen sie Männern am Gartentor entgegen, die vor lauter Begehren weinen und brüllen, und bieten ihnen eine Pobacke, eine Brust, Mund oder Hände an.
Manchmal schnappen sie sich einen „Fremden“ und zehren ihn förmlich auf mit ihrer Hingabe. Nach den Debatten um „Me Too“ mag das befremdlich klingen. Doch der erotische Überschwang dieser Prosa hat eine befreiende Wirkung. Nicht nur, weil die Gouvernanten offensichtlich die Zeremonien-Meisterinnen sind (was auch ein banales, männliches Sadomaso-Klischee sein kann), sondern vor allem, weil dieser Roman auf jeder Seite demonstriert, dass er der Sprachlust entspringt.
Neben Kafka und Robert Walser, die sich als Einflüsse erkennen lassen, ist es insbesondere Samuel Beckett, den Anne Serre in einer der „Mikroerzählungen“ aus „Im Herzen des goldenen Sommers“ sogar einen „nahen Verwandten“ nennt.
Anders als Annie Ernaux, deren Schreibweise ebenfalls auf Reduktion beruht, sucht Anne Serre nicht nach sozial kodierten Erinnerungsbildern. Sie nimmt jedes Bild, das sie kriegen kann, egal, ob es ihrer Erinnerung, ihrer Fantasie, ihren Träumen oder Büchern und Filmen entstammt. Samuel Beckett hat einmal von „imaginativer Arbeit“ gesprochen, die an die Stelle des Romanschreibens getreten sei. „Die Gouvernanten“ sollen von Joe Talbot mit Lily-Rose Depp in einer der Hauptrollen verfilmt werden. Man kann gespannt sein, ob es der Hollywood-Produktion gelingt, etwas von der gestischen Leichtigkeit dieser Traum- und Bilderwelt einzufangen. Sie habe am Anfang nur die drei Silhouetten der Gouvernanten vor sich gesehen, hat Anne Serre in einem Interview erzählt. Wenn man erfährt, dass sie mit zwei Schwestern in einer katholischen Familie aufgewachsen ist, als Tochter eines Lehrers für Latein und Altgriechisch, und dass sie manchmal sonntags oder in den Ferien durchs leere Schulgebäude tollten, bekommt man eine Vorstellung davon, wie diese Erfahrung prägte.
Die Mutter starb noch während der Kindheit, die Schwestern versuchten, den depressiven Vater aufzuheitern. Sie lasen und schrieben wohl alle drei. Auch die Schwestern sind inzwischen gestorben, die jüngere bereits 2007, die ältere 2018. In der Erzählung „Wir messen all diesen Dingen große Bedeutung zu“ träumen zwei Schwestern manchmal sogar den gleichen Traum. Sie wissen, dass man ihn „zu Ende bringen“ muss, sonst „bleibt einem den ganzen Tag etwas im Körper stecken, etwas Spitzes, Schweres, Sperriges, das zu inneren Verletzungen führt“. Nach vollendetem Traum, selbst wenn darin ein Schiff sinke, „ist man erquickt und energiegeladen, als hätte man richtig gut gearbeitet, einen schwer zu schreibenden Text fertiggestellt, überall gründlich aufgeräumt oder ein streikendes Auto repariert, das nun die Alleen entlanggleitet“.
Man könnte „Die Gouvernanten“ als eine Art Antidot zur autofiktionalen Literatur lesen, deren jahrelange Dominanz uns allmählich nach Fantasie gieren lässt. Und doch meint man selbst in dieser verspielten Prosa bei jedem Wort zu spüren, dass gewisse Vorlieben zunächst den Körper und dann den Stil prägen. Anne Serre ist eine veritable Entdeckung.
Im Original ist der Roman 1992
erschienen, heute steht er
angenehm quer zur Gegenwart
Serre ist in einer katholischen
Familie aufgewachsen, als
Tochter eines Lateinlehrers
Anne Serre:
Die Gouvernanten. Roman.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Berenberg Verlag, Berlin 2023.
92 Seiten, 22 Euro.
In einer Erzählung nennt sie Samuel Beckett „einen nahen Verwandten“: die französische Schriftstellerin Anne Serre.
Foto: afp
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Aufwallungen
Eine große Entdeckung: Anne Serres
Meistererzählung „Die Gouvernanten“
VON MEIKE FESSMANN
Drei junge Frauen sind die Heldinnen dieses Romans. Alles hüpft, alles springt, die Welt scheint mitzuschwingen, wenn ihre gelben Leder-Stiefeletten die Erde berühren. „Gouvernanten“ werden sie genannt, gelegentlich auch „drei Grazien“. Sie könnten einem Gemälde von Botticelli entsprungen sein oder einem von Raffael, vielleicht aber auch der Fantasie eines Marquis de Sade. Oder stehen sie doch näher bei Proust? Auch wenn man vieles zu kennen meint, steht dieser Roman merkwürdig fremd in der Landschaft der Gegenwartsliteratur. Im französischen Original wurde er bereits 1992 publiziert. Dem Spürsinn des Berenberg-Verlags und der Übersetzerin Patricia Klobusiczky ist es zu verdanken, dass „Die Gouvernanten“ nun wie ein Ufo vom anderen Stern mitten in der deutschen Gegenwart des Jahres 2023 landen.
Die 1960 in Bordeaux geborene Schriftstellerin Anne Serre steht bis heute auf dem Standpunkt, dass es der Reiz guter Literatur sei, dass man niemals genau wisse, wer spricht. Man kann darin ein Echo des berühmten Foucault’schen Aperçus über Autorschaft erkennen – „Wen kümmert’s, wer spricht?“ –, aber auch eine vergnügte Rhetorik des Spiels. Eine gewisse Ausgelassenheit schwebt über ihrem Stil, der sich den Künsten der Formalisierung und des Minimalismus verdankt.
Das Setting ist reduziert, ein Haus mit den Dimensionen einer Villa, ein Park drum herum, ein Haus gegenüber und ein schwungvoll gezeichneter Landstrich mit wenigen Straßen. Und natürlich die Bäume! Und das Gartentor! Freunde der Brevitas könnten sich an die Erzählungen Reinhard Lettaus erinnert fühlen, die mit Kutschen, Fürsten, Sommergewittern aufwarteten, nicht etwa um die Aristokratie zu verteidigen, sondern um ein formalisiertes Spielfeld zu schaffen, auf dem sich die literarischen Effekte an kleinen Details entzünden. Aber selbstverständlich auch an die contes philosophiques in der Tradition Voltaires, an Montaigne, Tschechow oder Maupassant. Anne Serre hat vierzehn Romane und zwei Kurzgeschichtenbände publiziert. Sie ist eine leidenschaftliche Leserin. Ihre Erinnerungen seien von Lektüren durchdrungen, schildert sie in Gesprächen. Irgendwann gebe es keinen substanziellen Unterschied mehr. Aus der Verbindung der beiden Materialien forme sie Literatur. In ihrem Erzählungsband „Im Herzen eines goldenen Sommers“ beginnt jede der äußerst kurzen Erzählungen mit dem ersten Satz eines Werks ihrer „persönlichen Bibliothek“, etwa von Raymond Carver, Claude Simon, Witold Gombrowicz, Broch, Rilke, Robert Walser, Lewis Carroll, Daphne du Maurier, Dylan Thomas oder Marie NDiaye. Für „Au cœur d’un été tout en or“ erhielt sie 2020 den Prix Goncourt de la Nouvelle. Vergangenes Jahr erschien der Band mit dreiunddreißig Erzählungen auf Deutsch, ebenfalls in der Übersetzung von Patricia Klobusiczky bei Berenberg.
Éléonore, Inès und Laura, wie die Gouvernanten heißen, haben eine Neigung zur Trägheit. Sie lassen sich treiben, träumen vor sich hin. So richtig in Fahrt kommen sie, sobald ein Fest ansteht. Tagelang gehen die Vorbereitungen. Dieses Mal steht gleich ein doppeltes Ereignis ins Haus. Das jährliche Fest fällt mit der Rückkehr der Familie Austeur zusammen, die mit ihren Kindern und Kindermädchen am Meer war. Ein Fest bedeutet „Pracht, Üppigkeit, überbordender Einfallsreichtum. (...) Es wird Gebrüll und Getobe geben, man wird durch die Alleen tollen, Arme recken und kreiseln und wirbeln. Man darf sich mit Stöcken bewaffnen und damit sowohl die Luft peitschen als auch das Gras. Man darf die Pferde ausspannen, an ihre Hälse geklammert durch den Park stürmen und das Laub zerteilen, bis man erschöpft zu ihren Füßen sinkt, in ihren warmen Atem gebettet.“
Der Roman, ursprünglich eine Erzählung, die Anne Serre ausgebaut hat, ist belebt von einem großen Schwung. Die einzelnen Kapitel sind wie Szenerien gebaut. Es gibt so etwas wie eine Dramaturgie, die allerdings eher einem Bilderreigen als einer fortschreitenden Handlung gleicht. Die Belebung des Hauses durch das Fest ist eine der Szenerien. Wie sich das Haus durch die Rückkehr des Hausherrn verändert, eine andere. Er sorgt für „Ordnung“ und bildet in gewisser Weise auch die Mitte des Haushalts. Aus dieser Position wird er verdrängt, als Laura ein Kind zur Welt bringt. Es zieht sofort alle Energien auf sich, die Gouvernanten sind hingerissen, die Kindermädchen auch. Dann aber wird es umstandslos in die Gruppe der Jungs integriert, in der es keine besondere Rolle mehr spielt. Die Inszenierung des weiblichen Begehrens huldigt hemmungslos der Lebensfreude. Mal legen sich die Gouvernanten auf einem Spaziergang mitten in die Landschaft, schieben ihre Kleider nach oben, öffnen ihre Mieder und lassen Libellen und Schmetterlinge um ihre Vulva tanzen. Mal kommen sie Männern am Gartentor entgegen, die vor lauter Begehren weinen und brüllen, und bieten ihnen eine Pobacke, eine Brust, Mund oder Hände an.
Manchmal schnappen sie sich einen „Fremden“ und zehren ihn förmlich auf mit ihrer Hingabe. Nach den Debatten um „Me Too“ mag das befremdlich klingen. Doch der erotische Überschwang dieser Prosa hat eine befreiende Wirkung. Nicht nur, weil die Gouvernanten offensichtlich die Zeremonien-Meisterinnen sind (was auch ein banales, männliches Sadomaso-Klischee sein kann), sondern vor allem, weil dieser Roman auf jeder Seite demonstriert, dass er der Sprachlust entspringt.
Neben Kafka und Robert Walser, die sich als Einflüsse erkennen lassen, ist es insbesondere Samuel Beckett, den Anne Serre in einer der „Mikroerzählungen“ aus „Im Herzen des goldenen Sommers“ sogar einen „nahen Verwandten“ nennt.
Anders als Annie Ernaux, deren Schreibweise ebenfalls auf Reduktion beruht, sucht Anne Serre nicht nach sozial kodierten Erinnerungsbildern. Sie nimmt jedes Bild, das sie kriegen kann, egal, ob es ihrer Erinnerung, ihrer Fantasie, ihren Träumen oder Büchern und Filmen entstammt. Samuel Beckett hat einmal von „imaginativer Arbeit“ gesprochen, die an die Stelle des Romanschreibens getreten sei. „Die Gouvernanten“ sollen von Joe Talbot mit Lily-Rose Depp in einer der Hauptrollen verfilmt werden. Man kann gespannt sein, ob es der Hollywood-Produktion gelingt, etwas von der gestischen Leichtigkeit dieser Traum- und Bilderwelt einzufangen. Sie habe am Anfang nur die drei Silhouetten der Gouvernanten vor sich gesehen, hat Anne Serre in einem Interview erzählt. Wenn man erfährt, dass sie mit zwei Schwestern in einer katholischen Familie aufgewachsen ist, als Tochter eines Lehrers für Latein und Altgriechisch, und dass sie manchmal sonntags oder in den Ferien durchs leere Schulgebäude tollten, bekommt man eine Vorstellung davon, wie diese Erfahrung prägte.
Die Mutter starb noch während der Kindheit, die Schwestern versuchten, den depressiven Vater aufzuheitern. Sie lasen und schrieben wohl alle drei. Auch die Schwestern sind inzwischen gestorben, die jüngere bereits 2007, die ältere 2018. In der Erzählung „Wir messen all diesen Dingen große Bedeutung zu“ träumen zwei Schwestern manchmal sogar den gleichen Traum. Sie wissen, dass man ihn „zu Ende bringen“ muss, sonst „bleibt einem den ganzen Tag etwas im Körper stecken, etwas Spitzes, Schweres, Sperriges, das zu inneren Verletzungen führt“. Nach vollendetem Traum, selbst wenn darin ein Schiff sinke, „ist man erquickt und energiegeladen, als hätte man richtig gut gearbeitet, einen schwer zu schreibenden Text fertiggestellt, überall gründlich aufgeräumt oder ein streikendes Auto repariert, das nun die Alleen entlanggleitet“.
Man könnte „Die Gouvernanten“ als eine Art Antidot zur autofiktionalen Literatur lesen, deren jahrelange Dominanz uns allmählich nach Fantasie gieren lässt. Und doch meint man selbst in dieser verspielten Prosa bei jedem Wort zu spüren, dass gewisse Vorlieben zunächst den Körper und dann den Stil prägen. Anne Serre ist eine veritable Entdeckung.
Im Original ist der Roman 1992
erschienen, heute steht er
angenehm quer zur Gegenwart
Serre ist in einer katholischen
Familie aufgewachsen, als
Tochter eines Lateinlehrers
Anne Serre:
Die Gouvernanten. Roman.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Berenberg Verlag, Berlin 2023.
92 Seiten, 22 Euro.
In einer Erzählung nennt sie Samuel Beckett „einen nahen Verwandten“: die französische Schriftstellerin Anne Serre.
Foto: afp
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zum BUCH: »Hin und wieder huscht - oft ganz leise - ein einzigartiges Wesen vorbei: ein wirklich origineller Roman. Nennen wir sie die Anglerfische der Literatur, nach diesen einsamen, verrückt aussehenden Fischen, die in den tiefsten Meeresgräben lauern. Die Merkwürdigkeit solcher Geschichten beschränkt sich nicht auf die Ebene der Struktur; sie entspringt der Autorin, ihrer Art, die Welt wahrzunehmen, und sickert in die Sätze ein. Spröde und feurig, sehr schräg und sehr großartig - Die Gouvernanten sind eine Arie, und zwar eine perfekt vorgetragene.« The New York Time