Der Erzähler dieser packenden, knappen Geschichten erinnert sich an die erste Stelle als Lehrer, die er 1961 an dem Fluß der Grande Beune, in einem Dorf in Frankreichs Südwesten antrat. Er begegnet zwei Frauen, der älteren Hélène und der jungen Yvonne. Von Yvonne träumt er Tag und Nacht, ihr stellt er nach.Pierre Michon, einer der Meister der französischen Gegenwartsliteratur, hat »Die Grande Beune« in einer unerhört sinnlichen und kunstvollen Sprache geschrieben. Bereits das Motto Andrej Platonovs schlägt den Ton an: »Die Erde schlief nackt und gepeinigt wie eine Mutter, der die Decke herabgeglitten war.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2011Verrückt nach der Tabakverkäuferin
In seiner französischen Heimat zählt er seit langem zu den ganz Großen. Jetzt ist Pierre Michon auch bei uns zu entdecken: Dank seiner klassischen Erzählung "Die Grande Beune".
Von Jochen Schimmang
Ab und zu kommen aus Frankreich Bücher zu uns, die daran erinnern, dass in diesem großen Land die vielen ländlichen Regionen gegenüber Paris und den urbanen Agglomerationen rein von der Masse her noch immer die Oberhand haben. Das sind gewissermaßen Nachrichten aus la France profonde. Emmanuelle Paganos faszinierender Roman "Der Tag war blau" über die Schulbusfahrerin Adèle war vor drei Jahren so ein Titel. Der spielte allerdings in der Jetztzeit. Richtiggehend archaisch wird es aber, wenn uns Pierre Michon eine Geschichte aus der Dordogne erzählt, die im Jahre 1961 angesiedelt ist.
Pierre Michon hätten wir in Deutschland natürlich schon in den neunziger Jahren kennenlernen können, als bei Manholt die Romane "Das Leben des Joseph Roulin" und "Herr und Diener" erschienen, der erstere ein Blick auf van Gogh mit den Augen seines Briefträgers (und Modells) in Arles, der zweite ein Goya-Porträt. Aber erst der 2008 bei Suhrkamp erschienene Romanessay "Rimbaud der Sohn" fand bei Kritik und Leserschaft einige Aufmerksamkeit. Allen drei Romanen gemeinsam ist, dass sie einen Blick auf eine Figur der Kunst- respektive der Literaturgeschichte werfen. Keiner dieser Blicke ist hagiographisch; zumal das Rimbaud-Buch verweigert sich dem üblichen Geniekult. Es verwandelt stattdessen Rimbaud endgültig in die Romanfigur, als die der Kurzzeitdichter und spätere Waffenhändler eigentlich schon immer rezipiert wird.
Inzwischen ist Michon, der in Frankreich längst als einer der bedeutendsten Autoren gilt, auch im deutschsprachigen Raum durch die Herren Hamm, Handke, Kolleritsch und Krüger geadelt worden, die ihm 2010 den Petrarca-Preis zugesprochen haben. Und mit "Die Grande Beune", im Original bereits 1996 erschienen, lernen wir nun einen anderen Michon als den bisher übersetzten kennen.
Die Grande Beune, oft auch nur Beune genannt, ist ein nicht besonders langer Fluss im französischen Südwesten, der in die Vézère mündet. 1961 tritt der Ich-Erzähler, dessen Name nie genannt wird, dort im Dorf Castelnau seine erste Stelle als Lehrer an, im zarten Alter von zwanzig Jahren. Schon die Ankunft wird in einer Art und Weise beschrieben, die deutlich macht, dass er in einer geschlossenen Welt ankommt. Gleich im zweiten Satz gibt es einen Verweis auf die Danteschen Höllenkreise, und dann: "Ich kam in der Nacht an, ziemlich verloren, mitten im Aufgalopp eines Septemberregens, der im Scheinwerferlicht vor den schlagenden Scheibenwischern hochsprang, vom Dorf sah ich nichts, der Regen war schwarz." Der Erzähler mietet sich im einzigen Gasthof des Dorfes ein, Chez Hélène, "auf dem Kamm der Felswand, an deren Fuß die Beune, genannt die Große, fließt . . ."
Man sieht, alles ist hier elementar, das Wetter bleibt schlecht, die Beleuchtung düster. Die Gäste im Schankraum sind Fischer, dem jungen Mann erscheinen sie aber durchaus als Ritter und Räuber. Die Wirtin Hélène ist die Mutter des kühnsten von ihnen. Folgerichtig erwartet der junge Mann auch Monster als Schüler, stellt aber fest, dass es einfach nur Kinder sind, "die vor allem und jedem Angst hatten und grundlos lachten . . . Wenn sie nachdenken, wenn sie weinen, scharren Kinder mit den Füßen: Unter den Tischen sah ich die Spuren dieses so eifrigen wie traurigen Tanzes. Ja, das rührte mich; denn mit meinen zwanzig Jahren war ich selber noch nicht so viel darüber hinaus; aber ich entfernte mich, gehörte nicht mehr dazu."
Das ist Michons Kunst: Er taucht tief in eine Atmosphäre ein, die man durchaus düster und schwer nennen könnte, aber er tappt nicht in die Falle. Immer wieder schafft anteilnehmende, nicht überhebliche Ironie eine Distanz, die verhindert, dass diese nicht einmal hundert Seiten allzu wuchtig werden. Besonders dann, als die zentrale Figur ins Blickfeld tritt: die Tabakverkäuferin, die ihre Zigaretten und Zeitungen in einem Laden am Marktplatz des Dorfes verkauft. Die ist zwar zehn bis fünfzehn Jahre älter als der junge Lehrer und hat einen Sohn, der bei ihm in die Schule geht, aber er ist ihr sofort verfallen: "Ich glaube nicht an langsam sich enthüllende Schönheiten, wenn man sie unbedingt erfinden muss, mich packen nur Erscheinungen. Diese hier jagte mir sofort ganz unanständige Gedanken ins Blut. Sie war gelinde gesagt ein Prachtweib. Sie war groß und weiß, Milch. Voll, üppig wie die Huris im Paradies, ausladend, aber eingeschnürt, mit korsettierter Taille, und wenn der Blick der Tiere durchaus von ihrem eigenen Körper spricht, dann war sie ein Tier . . ." Im Gegensatz zu vielen anderen, selbst großen Autoren findet Michon von Anfang an die Sprache, die der entfesselten Sexualität angemessen ist, jenseits von Blümchenmetaphern einerseits, aber auch von einer Obszönität andererseits, die sich der tabuisierten Wörter einfach nur mechanisch aus dem Register bedient. Und Katja Massury ist in ihrer Übersetzung auf der gleichen Höhe geblieben.
Dabei, um das gleich klarzustellen, passiert zwischen dem frischgebackenen Lehrer und der Tabakwarenhändlerin Yvonne de facto rein gar nichts, im Kopf des jungen Mannes (und nicht nur da) dagegen sehr viel. Auch das schwankt zwischen tiefem Ernst und der Burleske. Einige Begegnungen mit der Schönen im Wald treiben ihn geradezu ins Fieber, und er ist sicher, dass sie von den Wonnen, die er sich danach selbst verschafft, "die heftigsten, die mich je durchfahren haben", wohl weiß.
Dass es zu mehr nicht kommt, liegt einfach daran, dass Yvonne einen Liebhaber hat, von dessen Existenz der Erzähler schon früh eine Ahnung bekommt, nachdem eines Tages ein Fremder im Tabakladen aufgetaucht ist, der mit ihr auf eine ganz besondere Weise gesprochen hat. Er kann sich trösten mit seiner Freundin aus Périgueux, "von der ich wohl erzählen muss", einer Studentin namens Mado, die ihn zuweilen in ihrem Renault Dauphine besuchen kommt, in dem sie nicht nur Ausflüge etwa zu den prähistorischen Höhlen, in der Nähe machen, sondern es auch ebenso fleißig wie routiniert treiben.
Bei einem dieser Ausflüge zu einer Höhlenführung erkennt der junge Lehrer in dem Führer jenen Mann wieder, den er schon bei Yvonne im Laden gesehen hat und der sie zum Erröten gebracht hat. Die Sache wird vollends klar, als Jeanjean, so der Name des Mannes (im Gegensatz zu Jean dem Fischer, dem Sohn der Wirtin Hélène), den beiden nach der Führung durch die Höhle den Kirchturm von Castelnau zeigt, keine zwei Kilometer entfernt: " . . . man solle sich nicht durch die Straße täuschen lassen, sie vermittle durch den großen Umweg einen falschen Eindruck und es gebe durch den Wald hindurch tausend Abkürzungen." Daher also war Yvonne dort so häufig zu sehen.
Michons Erzählung ist auch eine übers Erwachsenwerden, über den Eintritt in eine Welt, in der die Dinge geregelt sind und nicht antastbar erscheinen. Die Frauen tratschen in der Küche des Gasthofs über die Männer, die Männer gehen auf Jagd und Fischfang, Jeanjeans Rechte an Yvonne sind unantastbar, und die Kinder scharren beim Nachdenken mit den Füßen. Dass der junge Lehrer Yvonnes Sohn Bernard in der Klasse schlecht behandelt und ihm ungerechte Noten gibt, nützt ihm nichts: Die Tabakhändlerin kommt nicht zu ihm, um sich zu beschweren.
Am Ende sitzt der Erzähler wieder in der Gaststube, bei einem ähnlichen Wetter wie in der Nacht seiner Ankunft. Jean der Fischer kommt mit zwei Kumpanen herein; man hat mehrere besonders prächtige Karpfen gefangen, den "schuppenlosen Lederkarpfen, der glatt ist wie Wasser, schillernd und völlig nackt. Er glitzerte, und im seichten Licht wechselten seine Farben vor dem Antikrot. Die Fische landeten einer nach dem anderen mit einem dumpfen Schlag auf der Theke." Hélène nimmt sie einen nach dem anderen aus, die Fischer trinken aus und gehen raus in die Nacht und den Nebel, im Haus Yvonnes "lag Bernard mit offenen Augen über dem hellen Nebel in seinem vollkommenen Zimmer. Und endlich schliefen wir alle, die Beune floss weiter." Damit endet das, und dann, um nicht aus dem Traum zu erwachen, möchte man sofort von vorn zu lesen beginnen.
Pierre Michon: "Die Grande Beune". Erzählung.
Aus dem Französischen von Katja Massury und mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 103 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seiner französischen Heimat zählt er seit langem zu den ganz Großen. Jetzt ist Pierre Michon auch bei uns zu entdecken: Dank seiner klassischen Erzählung "Die Grande Beune".
Von Jochen Schimmang
Ab und zu kommen aus Frankreich Bücher zu uns, die daran erinnern, dass in diesem großen Land die vielen ländlichen Regionen gegenüber Paris und den urbanen Agglomerationen rein von der Masse her noch immer die Oberhand haben. Das sind gewissermaßen Nachrichten aus la France profonde. Emmanuelle Paganos faszinierender Roman "Der Tag war blau" über die Schulbusfahrerin Adèle war vor drei Jahren so ein Titel. Der spielte allerdings in der Jetztzeit. Richtiggehend archaisch wird es aber, wenn uns Pierre Michon eine Geschichte aus der Dordogne erzählt, die im Jahre 1961 angesiedelt ist.
Pierre Michon hätten wir in Deutschland natürlich schon in den neunziger Jahren kennenlernen können, als bei Manholt die Romane "Das Leben des Joseph Roulin" und "Herr und Diener" erschienen, der erstere ein Blick auf van Gogh mit den Augen seines Briefträgers (und Modells) in Arles, der zweite ein Goya-Porträt. Aber erst der 2008 bei Suhrkamp erschienene Romanessay "Rimbaud der Sohn" fand bei Kritik und Leserschaft einige Aufmerksamkeit. Allen drei Romanen gemeinsam ist, dass sie einen Blick auf eine Figur der Kunst- respektive der Literaturgeschichte werfen. Keiner dieser Blicke ist hagiographisch; zumal das Rimbaud-Buch verweigert sich dem üblichen Geniekult. Es verwandelt stattdessen Rimbaud endgültig in die Romanfigur, als die der Kurzzeitdichter und spätere Waffenhändler eigentlich schon immer rezipiert wird.
Inzwischen ist Michon, der in Frankreich längst als einer der bedeutendsten Autoren gilt, auch im deutschsprachigen Raum durch die Herren Hamm, Handke, Kolleritsch und Krüger geadelt worden, die ihm 2010 den Petrarca-Preis zugesprochen haben. Und mit "Die Grande Beune", im Original bereits 1996 erschienen, lernen wir nun einen anderen Michon als den bisher übersetzten kennen.
Die Grande Beune, oft auch nur Beune genannt, ist ein nicht besonders langer Fluss im französischen Südwesten, der in die Vézère mündet. 1961 tritt der Ich-Erzähler, dessen Name nie genannt wird, dort im Dorf Castelnau seine erste Stelle als Lehrer an, im zarten Alter von zwanzig Jahren. Schon die Ankunft wird in einer Art und Weise beschrieben, die deutlich macht, dass er in einer geschlossenen Welt ankommt. Gleich im zweiten Satz gibt es einen Verweis auf die Danteschen Höllenkreise, und dann: "Ich kam in der Nacht an, ziemlich verloren, mitten im Aufgalopp eines Septemberregens, der im Scheinwerferlicht vor den schlagenden Scheibenwischern hochsprang, vom Dorf sah ich nichts, der Regen war schwarz." Der Erzähler mietet sich im einzigen Gasthof des Dorfes ein, Chez Hélène, "auf dem Kamm der Felswand, an deren Fuß die Beune, genannt die Große, fließt . . ."
Man sieht, alles ist hier elementar, das Wetter bleibt schlecht, die Beleuchtung düster. Die Gäste im Schankraum sind Fischer, dem jungen Mann erscheinen sie aber durchaus als Ritter und Räuber. Die Wirtin Hélène ist die Mutter des kühnsten von ihnen. Folgerichtig erwartet der junge Mann auch Monster als Schüler, stellt aber fest, dass es einfach nur Kinder sind, "die vor allem und jedem Angst hatten und grundlos lachten . . . Wenn sie nachdenken, wenn sie weinen, scharren Kinder mit den Füßen: Unter den Tischen sah ich die Spuren dieses so eifrigen wie traurigen Tanzes. Ja, das rührte mich; denn mit meinen zwanzig Jahren war ich selber noch nicht so viel darüber hinaus; aber ich entfernte mich, gehörte nicht mehr dazu."
Das ist Michons Kunst: Er taucht tief in eine Atmosphäre ein, die man durchaus düster und schwer nennen könnte, aber er tappt nicht in die Falle. Immer wieder schafft anteilnehmende, nicht überhebliche Ironie eine Distanz, die verhindert, dass diese nicht einmal hundert Seiten allzu wuchtig werden. Besonders dann, als die zentrale Figur ins Blickfeld tritt: die Tabakverkäuferin, die ihre Zigaretten und Zeitungen in einem Laden am Marktplatz des Dorfes verkauft. Die ist zwar zehn bis fünfzehn Jahre älter als der junge Lehrer und hat einen Sohn, der bei ihm in die Schule geht, aber er ist ihr sofort verfallen: "Ich glaube nicht an langsam sich enthüllende Schönheiten, wenn man sie unbedingt erfinden muss, mich packen nur Erscheinungen. Diese hier jagte mir sofort ganz unanständige Gedanken ins Blut. Sie war gelinde gesagt ein Prachtweib. Sie war groß und weiß, Milch. Voll, üppig wie die Huris im Paradies, ausladend, aber eingeschnürt, mit korsettierter Taille, und wenn der Blick der Tiere durchaus von ihrem eigenen Körper spricht, dann war sie ein Tier . . ." Im Gegensatz zu vielen anderen, selbst großen Autoren findet Michon von Anfang an die Sprache, die der entfesselten Sexualität angemessen ist, jenseits von Blümchenmetaphern einerseits, aber auch von einer Obszönität andererseits, die sich der tabuisierten Wörter einfach nur mechanisch aus dem Register bedient. Und Katja Massury ist in ihrer Übersetzung auf der gleichen Höhe geblieben.
Dabei, um das gleich klarzustellen, passiert zwischen dem frischgebackenen Lehrer und der Tabakwarenhändlerin Yvonne de facto rein gar nichts, im Kopf des jungen Mannes (und nicht nur da) dagegen sehr viel. Auch das schwankt zwischen tiefem Ernst und der Burleske. Einige Begegnungen mit der Schönen im Wald treiben ihn geradezu ins Fieber, und er ist sicher, dass sie von den Wonnen, die er sich danach selbst verschafft, "die heftigsten, die mich je durchfahren haben", wohl weiß.
Dass es zu mehr nicht kommt, liegt einfach daran, dass Yvonne einen Liebhaber hat, von dessen Existenz der Erzähler schon früh eine Ahnung bekommt, nachdem eines Tages ein Fremder im Tabakladen aufgetaucht ist, der mit ihr auf eine ganz besondere Weise gesprochen hat. Er kann sich trösten mit seiner Freundin aus Périgueux, "von der ich wohl erzählen muss", einer Studentin namens Mado, die ihn zuweilen in ihrem Renault Dauphine besuchen kommt, in dem sie nicht nur Ausflüge etwa zu den prähistorischen Höhlen, in der Nähe machen, sondern es auch ebenso fleißig wie routiniert treiben.
Bei einem dieser Ausflüge zu einer Höhlenführung erkennt der junge Lehrer in dem Führer jenen Mann wieder, den er schon bei Yvonne im Laden gesehen hat und der sie zum Erröten gebracht hat. Die Sache wird vollends klar, als Jeanjean, so der Name des Mannes (im Gegensatz zu Jean dem Fischer, dem Sohn der Wirtin Hélène), den beiden nach der Führung durch die Höhle den Kirchturm von Castelnau zeigt, keine zwei Kilometer entfernt: " . . . man solle sich nicht durch die Straße täuschen lassen, sie vermittle durch den großen Umweg einen falschen Eindruck und es gebe durch den Wald hindurch tausend Abkürzungen." Daher also war Yvonne dort so häufig zu sehen.
Michons Erzählung ist auch eine übers Erwachsenwerden, über den Eintritt in eine Welt, in der die Dinge geregelt sind und nicht antastbar erscheinen. Die Frauen tratschen in der Küche des Gasthofs über die Männer, die Männer gehen auf Jagd und Fischfang, Jeanjeans Rechte an Yvonne sind unantastbar, und die Kinder scharren beim Nachdenken mit den Füßen. Dass der junge Lehrer Yvonnes Sohn Bernard in der Klasse schlecht behandelt und ihm ungerechte Noten gibt, nützt ihm nichts: Die Tabakhändlerin kommt nicht zu ihm, um sich zu beschweren.
Am Ende sitzt der Erzähler wieder in der Gaststube, bei einem ähnlichen Wetter wie in der Nacht seiner Ankunft. Jean der Fischer kommt mit zwei Kumpanen herein; man hat mehrere besonders prächtige Karpfen gefangen, den "schuppenlosen Lederkarpfen, der glatt ist wie Wasser, schillernd und völlig nackt. Er glitzerte, und im seichten Licht wechselten seine Farben vor dem Antikrot. Die Fische landeten einer nach dem anderen mit einem dumpfen Schlag auf der Theke." Hélène nimmt sie einen nach dem anderen aus, die Fischer trinken aus und gehen raus in die Nacht und den Nebel, im Haus Yvonnes "lag Bernard mit offenen Augen über dem hellen Nebel in seinem vollkommenen Zimmer. Und endlich schliefen wir alle, die Beune floss weiter." Damit endet das, und dann, um nicht aus dem Traum zu erwachen, möchte man sofort von vorn zu lesen beginnen.
Pierre Michon: "Die Grande Beune". Erzählung.
Aus dem Französischen von Katja Massury und mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 103 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2011In den leeren Höhlen der Wilderer
In seinem Erzählkunststück „Die Grande Beune“ inszeniert Pierre Michon, der Antipode der Pariser Großstadtliteratur, ein erotisches Drama auf dem Lande
Im Anfang keimt das Ende. Der in sein Leben zurückblickende Erzähler beteuert, dass ihn nur wenige Höllenkreise vom endgültigen Sturz in den Abgrund trennten, als er damals in jenem Flecken unweit von Périgueux eintraf. Doch so nah er sich an die Vergangenheit heranschreibt, so fern rückt der mit schrillen Martyriums- und Golgathametaphern angekündigte Höllensturz. Nichts, kein Unglück, nicht der geringste Zwischenfall unterbricht das Gleichmaß seiner regenverhängten Tage in Castelnau.
Der Zwanzigjährige tritt seine erste Stelle als Dorflehrer an. Tagsüber lehrt er seine Schüler Satzbildung, Rechtschreibung, das Konjugieren; die Abende verbringt er in der Gaststube seines Hotels in Gesellschaft der örtlichen Fischwilderer, deren Revier die Grande Beune ist, der Fluss unterhalb der Schlucht, an der das Dorf liegt. Seine einzige Abwechslung sind Gänge zum Tabakladen und widerwillig erinnerte Besuche seiner Freundin, die der alten Wirtin offenbar willkommener ist als ihm selbst. Ein räumliches Modell seines Erzählens installiert der Erzähler im vorletzten Kapitel. Das Paar besichtigt eine der Kalksteinhöhlen der Region. Doch die mit dem Stichwort Lascaux geweckte Erwartung geht fehl. Sie finden nichts, keine altsteinzeitlichen Malereien; die Höhle ist leer, so leer wie die Geschichte auf der Ereignisebene.
Der Leser freilich hat das Vakuum nicht wahrgenommen, denn mit dem Augenblick, wo Yvonne, die Verkäuferin im Tabakladen, ins Blickfeld des Erzählers gerückt ist, hat sich der Leser in einen atemlosen Zuschauer des Dramas verwandelt, das sein Opfer mit der Gewalt einer Naturkatastrophe heimzusuchen scheint. Augenblicklich verwandelt sich der Mann der Aufklärung und des Wissens in einen hungrigen Wolf, dessen obsessives sexuelles Begehren allen Theorien über die kulturelle Zähmung der Triebe hohnspricht. Schlagartig kommt es zur totalen Verinnerlichung des Erzählschauplatzes. Vor die lichte Gartenwelt des Périgord, die Idylle im Südwesten Frankreichs, schiebt sich das Interieur der entfesselten männlichen Libido. Ochsenblutrot ist die Höhle der örtlichen „Sibylle von Cumae“ gestrichen, die Hotelgaststube mit dem ausgestopften Fuchs an der Wand.
Mit Hilfe der Ansichtspostkarten im Tabakwarenladen weitet sich die Wolfsschluchtlandschaft um die nahe Höhlenwelt von Lascaux, zu deren Malereien ein einsamer Wolf gehört und ein Frauentyp mit enormem Hinterteil namens Venus. Ihr lebendiges Ebenbild ist Yvonne, die sich umgehend in die mythische „Venus Kallipygos“ verwandelt, die mit dem schönen Hintern. Den Zustand des Fiebernden zwischen Delirium und Martyrium bildet der Erzähler geographisch ab, in der Lage Castelnaus zwischen den Dörfern Les Martres und Saint-Amand-le-Petit, die das Martyrium und die himmlische Liebe im Namen führen.
Die umliegenden Wälder, in denen Yvonne auf dem Weg zu ihrem Geliebten regelmäßig verschwindet, werden zu „tartarischen“ Jagdgründen des zum Verzicht verdammten Wilderers. Die Unerreichbarkeit seiner Beute macht ihn zum Voyeur. Phantasierend bemächtigt er sich in wahnhaft aufgeladenen Bildern des weiblichen Körpers, den er schindet und wie der Jäger seine Beute zerlegt.
Um eines Augenblicks illusionärer Nähe willen verschont er zuletzt auch den kleinen Sohn der Geliebten nicht, an dem er sich zuletzt in einer hässlichen kleinen Szene rächt. Auf knappen, im Original 67 Seiten erzählt Michon die Geschichte einer Passion, deren einzige Quelle und alleiniger Garant der Erzähler ist. So bleibt offen, ob die Geschichte „wahr“ ist oder der Lust des Erzählers am donnernden Orgelton entspringt.
Wie Julien Gracq (1910-2007) gehört der eine Generation jüngere, 1945 auf dem Land, im Zentralmassiv geborene Pierre Michon zu den großen Antipoden der Pariser Großstadtliteratur. Leider wird die Freude an seinem Erzählkunststück durch die stellenweise unzuverlässige Übersetzung beeinträchtigt.
SIBYLLE CRAMER
PIERRE MICHON: Die Grande Beune. Aus dem Französischen von Katja Massury. Mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 103 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Erzählkunststück „Die Grande Beune“ inszeniert Pierre Michon, der Antipode der Pariser Großstadtliteratur, ein erotisches Drama auf dem Lande
Im Anfang keimt das Ende. Der in sein Leben zurückblickende Erzähler beteuert, dass ihn nur wenige Höllenkreise vom endgültigen Sturz in den Abgrund trennten, als er damals in jenem Flecken unweit von Périgueux eintraf. Doch so nah er sich an die Vergangenheit heranschreibt, so fern rückt der mit schrillen Martyriums- und Golgathametaphern angekündigte Höllensturz. Nichts, kein Unglück, nicht der geringste Zwischenfall unterbricht das Gleichmaß seiner regenverhängten Tage in Castelnau.
Der Zwanzigjährige tritt seine erste Stelle als Dorflehrer an. Tagsüber lehrt er seine Schüler Satzbildung, Rechtschreibung, das Konjugieren; die Abende verbringt er in der Gaststube seines Hotels in Gesellschaft der örtlichen Fischwilderer, deren Revier die Grande Beune ist, der Fluss unterhalb der Schlucht, an der das Dorf liegt. Seine einzige Abwechslung sind Gänge zum Tabakladen und widerwillig erinnerte Besuche seiner Freundin, die der alten Wirtin offenbar willkommener ist als ihm selbst. Ein räumliches Modell seines Erzählens installiert der Erzähler im vorletzten Kapitel. Das Paar besichtigt eine der Kalksteinhöhlen der Region. Doch die mit dem Stichwort Lascaux geweckte Erwartung geht fehl. Sie finden nichts, keine altsteinzeitlichen Malereien; die Höhle ist leer, so leer wie die Geschichte auf der Ereignisebene.
Der Leser freilich hat das Vakuum nicht wahrgenommen, denn mit dem Augenblick, wo Yvonne, die Verkäuferin im Tabakladen, ins Blickfeld des Erzählers gerückt ist, hat sich der Leser in einen atemlosen Zuschauer des Dramas verwandelt, das sein Opfer mit der Gewalt einer Naturkatastrophe heimzusuchen scheint. Augenblicklich verwandelt sich der Mann der Aufklärung und des Wissens in einen hungrigen Wolf, dessen obsessives sexuelles Begehren allen Theorien über die kulturelle Zähmung der Triebe hohnspricht. Schlagartig kommt es zur totalen Verinnerlichung des Erzählschauplatzes. Vor die lichte Gartenwelt des Périgord, die Idylle im Südwesten Frankreichs, schiebt sich das Interieur der entfesselten männlichen Libido. Ochsenblutrot ist die Höhle der örtlichen „Sibylle von Cumae“ gestrichen, die Hotelgaststube mit dem ausgestopften Fuchs an der Wand.
Mit Hilfe der Ansichtspostkarten im Tabakwarenladen weitet sich die Wolfsschluchtlandschaft um die nahe Höhlenwelt von Lascaux, zu deren Malereien ein einsamer Wolf gehört und ein Frauentyp mit enormem Hinterteil namens Venus. Ihr lebendiges Ebenbild ist Yvonne, die sich umgehend in die mythische „Venus Kallipygos“ verwandelt, die mit dem schönen Hintern. Den Zustand des Fiebernden zwischen Delirium und Martyrium bildet der Erzähler geographisch ab, in der Lage Castelnaus zwischen den Dörfern Les Martres und Saint-Amand-le-Petit, die das Martyrium und die himmlische Liebe im Namen führen.
Die umliegenden Wälder, in denen Yvonne auf dem Weg zu ihrem Geliebten regelmäßig verschwindet, werden zu „tartarischen“ Jagdgründen des zum Verzicht verdammten Wilderers. Die Unerreichbarkeit seiner Beute macht ihn zum Voyeur. Phantasierend bemächtigt er sich in wahnhaft aufgeladenen Bildern des weiblichen Körpers, den er schindet und wie der Jäger seine Beute zerlegt.
Um eines Augenblicks illusionärer Nähe willen verschont er zuletzt auch den kleinen Sohn der Geliebten nicht, an dem er sich zuletzt in einer hässlichen kleinen Szene rächt. Auf knappen, im Original 67 Seiten erzählt Michon die Geschichte einer Passion, deren einzige Quelle und alleiniger Garant der Erzähler ist. So bleibt offen, ob die Geschichte „wahr“ ist oder der Lust des Erzählers am donnernden Orgelton entspringt.
Wie Julien Gracq (1910-2007) gehört der eine Generation jüngere, 1945 auf dem Land, im Zentralmassiv geborene Pierre Michon zu den großen Antipoden der Pariser Großstadtliteratur. Leider wird die Freude an seinem Erzählkunststück durch die stellenweise unzuverlässige Übersetzung beeinträchtigt.
SIBYLLE CRAMER
PIERRE MICHON: Die Grande Beune. Aus dem Französischen von Katja Massury. Mit einem Nachwort von Jürg Laederach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 103 Seiten, 12,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als einen der "bedeutendsten Einzelgänger" der heutigen französischen Literatur schätzt Hans-Peter Kunisch Pierre Michon, seinen Stil nennt er "wunderbar konzentriertes Prosa-Französisch". Es geht um einen jungen Lehrer in der Provinz, dessen erotischen Fantasien von den beiden Schönheiten des Dorfes beflügelt werden: der Wirtin Helene und Yvonne, der Verkäuferin des Tabakladens. Kunisch sieht hier das Geschlechterverhältnis ebenso klassisch wie archaisch dargestellt und versichert, dass es Michon darum geht, "neues Feuer zu entfachen". Was ihm, auch dank seiner Intelligenz zu gelingen scheint. Explizit lobt Kunisch auch das schöne Deutsch der Übersetzerin Katja Massury.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[Die Grande Beune] ist kurz, würzig, manchmal obszön - aber nicht vulgär, trotz aller Fleischeslust, die etwas Archaisches, Urwüchsiges und damit auch Unschuldiges hat. Die Grenzübertretung (wenn auch nur im Kopf) ist das Thema dieses Wunderbuchs aus Erotik und Geist von Pierre Michon, dem für mich besten französischen Schriftsteller der Gegenwart.« Peter Urban-Halle Deutschlandfunk Kultur 20110706