Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise können wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Diese vom theoretischen Mainstream bislang sträflich vernachlässigten, aber in praktische Hinsicht außerordentlich relevanten Fragen stehen im Zentrum der großangelegten Theorie der Gerechtigkeit, wie sie die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum in "Grenzen der Gerechtigkeit" entwickelt. Nussbaum weist nach, daß insbesondere die einflußreiche Idee des Gesellschaftsvertrags in der von John Rawls ausgearbeiteten Fassung sich in bezug auf diese Problemlagen als unzulänglich erweist, da sie auf einem Vertrag unter Gleichen beruht und somit Gerechtigkeitsfragen unter Ungleichen nicht angemessen behandeln kann. In sowohl kritischer als auch konstruktiver Absicht lotet Nussbaumdie Grenzen klassischer Gerechtigkeitstheorien aus, unterzieht politische Prinzipien einer gründlichen Revision und läßt eingefahrene Konzepte der sozialen Kooperation, der Würde und der transnationalen Gerechtigkeit in neuem Licht glänzen. Mittels ihres berühmten Fähigkeitenansatzes entwirft sie eine veritable Utopie globaler Gerechtigkeit, die aber stets Maß nimmt an denjenigen, für die sie gelten soll.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2010Gelingen kann das Leben nur gemeinsam
Arbeit an den Lücken einer Vertragstheorie der Gerechtigkeit: Martha C. Nussbaum lenkt den Blick auf Bedürfnisse, die uns aneinander binden.
Auch die beste Theorie hat ihre Grenzen. Die Theorie sozialer Gerechtigkeit unter Gleichen, die John Rawls in der klassischen Tradition des Gesellschaftsvertrages entwickelt hat, ist die einflussreichste Gerechtigkeitstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts. Und die überzeugendste. Doch trotz aller Präzision bleiben bei Rawls drängende Fragen offen. Oder genauer: Gerade wegen ihres hohen Abstraktionsgrades, wegen der Tendenz, komplexe Realitäten theoretisch zu vereinfachen und politische Prinzipien mittels verfahrensgerechter Strukturen zu ermitteln - darum bleiben in der Konzeption des 2002 verstorbenen Philosophen einige große Probleme ungelöst.
Weil Menschen mit schweren Behinderungen in den Strukturen gegenwärtiger Vertragstheorien von der Festlegung grundlegender politischer Prinzipien ausgeschlossen sind, bleibt ihr Bürgerstatus prekär, ihr Anspruch auf umfassende Gleichbehandlung gefährdet. In Erklärungsnöte gerät der klassische Kontraktualismus auch, wenn es um Fragen globaler Gerechtigkeit geht, um Freiheit und Gleichheit in einer Welt transnationaler Verflechtungen, die die Grenzen des Nationalstaats überschreiten. Und schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Umgang mit den Interessen nichtmenschlicher Spezies.
Diese drei Gerechtigkeitsprobleme greift Martha Nussbaum in ihrem Buch über die "Grenzen der Gerechtigkeit" auf, das in diesen Tagen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung erscheint. Anders als der Ökonom und Sozialtheoretiker Amartya Sen, dessen gleichfalls von Rawls inspiriertes Buch "The Idea of Justice" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2009) ebenfalls zur Frankfurter Buchmesse auf hiesige Ladentische kommt, lässt Martha Nussbaum den liberalen Kontraktualismus aber nicht einfach hinter sich und entwirft Skizzen eines wertgesättigten materialen Gerechtigkeitsbegriffs. Geduldig und präzise lotet die an der University of Chicago Law School lehrende Philosophin die Grenzen der von John Rawls schrittweise erarbeiteten Gerechtigkeitstheorie aus und hinterfragt Konzeptionen, die Rawls selbst wesentlich fortentwickelt hat - etwa in seinem späten Werk "Das Recht der Völker". All das in einer konzisen Gedankenführung und sprachlichen Klarheit, die dieses umfangreiche Buch zu einem philosophischen Lesevergnügen machen.
Martha Nussbaum zeigt, dass es bei Rawls zu theorieimmanenten Spannungen kommt, die sich aus der Verbindung der Lehre des Gesellschaftsvertrags mit einer kantianischen Konzeption der Person und der Gegenseitigkeit der Kooperationsverhältnisse ergeben, die die Vertragsparteien eingehen. Bei Rawls sind die Individuen, die im hypothetischen Urzustand hinter einem "Schleier des Nichtwissens" normative Grundstrukturen ihres Zusammenlebens festlegen, stets selbstbestimmte, vernünftige Bürger, "freie und gleiche und lebenslang uneingeschränkt kooperationsfähige Gesellschaftsmitglieder". Bewusst blende Rawls dabei die menschliche Erfahrung schwerer körperlicher oder geistiger Bedürftigkeit, zeitweiliger oder dauerhafter Abhängigkeit aus. Die Inklusion von Bürgerinnen und Bürgern mit atypischen Beeinträchtigungen verschiebe er auf die Ebene späterer Gesetzgebung.
Für Nussbaum ist das nicht akzeptabel: "Nur dann, wenn die Parteien im Urzustand nicht wissen, welche körperlichen Beeinträchtigungen sie haben oder nicht haben könnten, werden sie Prinzipien festlegen, die Menschen mit solchen Beeinträchtigungen gegenüber wirklich fair sind." Auf der Theorieebene verkompliziert das die Dinge erheblich: Hinter dem "Schleier des Nichtwissens" können sich die Parteien nicht mehr einfach am Schlechtestgestellten orientieren, denn Besser- und Schlechterstellung in der Gesellschaft lassen sich nicht mehr anhand von Grundgütern wie Einkommen und Vermögen ermitteln. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann bei gleichem Einkommen und Vermögen deutlich schlechter gestellt sein als eine Person, die sich "normal" fortbewegen kann und keine Hilfen zum Ausgleich ihrer eingeschränkten Mobilität benötigt.
Darum empfiehlt Nussbaum den "Fähigkeitenansatz" (capability approach), der von ihr im Feld der Philosophie, von Amartya Sen im Bereich der Ökonomie entwickelt wurde. Anders als Sen schlägt Nussbaum einen klar umrissenen, wenngleich erweiterbaren Katalog von Fähigkeiten vor. Ihr geht es nicht um eine vergleichende Messung der Lebensqualität, sondern um "die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten". Diese Ansprüche sind nicht gegeneinander aufrechenbar, jeder Fähigkeit ist ein Schwellenwert zugemessen. Nussbaums Liste umfasst unter anderem "die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben" und "die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören". Von zentraler Bedeutung ist "die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben".
Im Mittelpunkt der Überlegungen steht immer wieder die Menschenwürde. Sie ist der Prüfstein für die Angemessenheit dessen, was dem einzelnen zur Verwirklichung seiner Fähigkeiten zukommt. Ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht - darin sind für die Aristotelikerin Nussbaum "Bedürfnis und Fähigkeit, Vernunft und Animalität eng miteinander verwoben". Die menschliche Würde ist "die Würde eines bedürftigen und verkörperten Wesens", eines auf Gesellschaft und soziale Beziehungen hin angelegten Wesens, von dessen Fähigkeiten die Forderung ausgeht, "dass sie entwickelt werden sollten, dass das Leben ein gedeihendes und kein verkümmertes Leben sein soll".
Gelingendes Leben umfasst für Nussbaum den gleichen Zugang zu Bildung und Information, zustimmend weist sie darauf hin, dass die Verfassungsgerichte Indiens und Südafrikas aus der Menschenwürde solche Ansprüche ableiten. Es umfasst auch die Einbeziehung, die Befähigung von Menschen mit Behinderungen. Hinter Nussbaums "Fähigkeitenansatz" steht eine Konzeption der Kooperation, "die davon ausgeht, dass die Bindungen zwischen den Menschen sich ebenso dem Altruismus wie dem gegenseitigen Vorteil verdanken".
Sich für das Wohl anderer einzusetzen sei also nicht mehr nur eine Sache individueller Konzeptionen des Guten, wie bei Rawls, sondern vielmehr Teil einer gemeinsamen öffentlichen Konzeption der Person - einer Person, die nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil eine Übereinkunft mit anderen trifft, sondern weil sie sich nicht vorstellen kann, ein gutes Leben zu führen, ohne ihre Zwecke und ihr Leben mit anderen zu teilen. Einer Person, die ein Wesen mit Bedürfnissen ist und die vom Säuglingsalter bis zum Lebensende vielfältige Formen der Angewiesenheit erlebt, dauerhaft oder vorübergehend, als leichte Einschränkung oder schwere Behinderung.
Bedürfnisse haben aber auch die, die für andere sorgen - darum ist es für Nussbaum eine politische Aufgabe, "durch gute öffentliche Strukturen und eine anständige öffentliche Kultur" jene Menschen zu unterstützen, die auf sie angewiesene ältere oder behinderte Menschen versorgen. Für pflegende Familienmitglieder - zumeist Frauen - müsse es eine echte Entscheidung sein, einen auf Fürsorge angewiesenen Menschen zu pflegen, nicht eine aufgezwungene Belastung, die der Gleichgültigkeit der Gesellschaft geschuldet ist.
Die vielfältigen praktischen Schwierigkeiten ihrer Forderung verkennt Martha Nussbaum an dieser Stelle nicht, und auch bei den anderen Problemfeldern ihres Buches unterschätzt sie kaum die Komplexität der Realitäten jenseits der Theorie. Aber gegen Resignation angesichts immenser Herausforderungen hilft eben nur ein Denken, das Grenzen überschreitet.
ALEXANDRA KEMMERER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arbeit an den Lücken einer Vertragstheorie der Gerechtigkeit: Martha C. Nussbaum lenkt den Blick auf Bedürfnisse, die uns aneinander binden.
Auch die beste Theorie hat ihre Grenzen. Die Theorie sozialer Gerechtigkeit unter Gleichen, die John Rawls in der klassischen Tradition des Gesellschaftsvertrages entwickelt hat, ist die einflussreichste Gerechtigkeitstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts. Und die überzeugendste. Doch trotz aller Präzision bleiben bei Rawls drängende Fragen offen. Oder genauer: Gerade wegen ihres hohen Abstraktionsgrades, wegen der Tendenz, komplexe Realitäten theoretisch zu vereinfachen und politische Prinzipien mittels verfahrensgerechter Strukturen zu ermitteln - darum bleiben in der Konzeption des 2002 verstorbenen Philosophen einige große Probleme ungelöst.
Weil Menschen mit schweren Behinderungen in den Strukturen gegenwärtiger Vertragstheorien von der Festlegung grundlegender politischer Prinzipien ausgeschlossen sind, bleibt ihr Bürgerstatus prekär, ihr Anspruch auf umfassende Gleichbehandlung gefährdet. In Erklärungsnöte gerät der klassische Kontraktualismus auch, wenn es um Fragen globaler Gerechtigkeit geht, um Freiheit und Gleichheit in einer Welt transnationaler Verflechtungen, die die Grenzen des Nationalstaats überschreiten. Und schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Umgang mit den Interessen nichtmenschlicher Spezies.
Diese drei Gerechtigkeitsprobleme greift Martha Nussbaum in ihrem Buch über die "Grenzen der Gerechtigkeit" auf, das in diesen Tagen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung erscheint. Anders als der Ökonom und Sozialtheoretiker Amartya Sen, dessen gleichfalls von Rawls inspiriertes Buch "The Idea of Justice" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2009) ebenfalls zur Frankfurter Buchmesse auf hiesige Ladentische kommt, lässt Martha Nussbaum den liberalen Kontraktualismus aber nicht einfach hinter sich und entwirft Skizzen eines wertgesättigten materialen Gerechtigkeitsbegriffs. Geduldig und präzise lotet die an der University of Chicago Law School lehrende Philosophin die Grenzen der von John Rawls schrittweise erarbeiteten Gerechtigkeitstheorie aus und hinterfragt Konzeptionen, die Rawls selbst wesentlich fortentwickelt hat - etwa in seinem späten Werk "Das Recht der Völker". All das in einer konzisen Gedankenführung und sprachlichen Klarheit, die dieses umfangreiche Buch zu einem philosophischen Lesevergnügen machen.
Martha Nussbaum zeigt, dass es bei Rawls zu theorieimmanenten Spannungen kommt, die sich aus der Verbindung der Lehre des Gesellschaftsvertrags mit einer kantianischen Konzeption der Person und der Gegenseitigkeit der Kooperationsverhältnisse ergeben, die die Vertragsparteien eingehen. Bei Rawls sind die Individuen, die im hypothetischen Urzustand hinter einem "Schleier des Nichtwissens" normative Grundstrukturen ihres Zusammenlebens festlegen, stets selbstbestimmte, vernünftige Bürger, "freie und gleiche und lebenslang uneingeschränkt kooperationsfähige Gesellschaftsmitglieder". Bewusst blende Rawls dabei die menschliche Erfahrung schwerer körperlicher oder geistiger Bedürftigkeit, zeitweiliger oder dauerhafter Abhängigkeit aus. Die Inklusion von Bürgerinnen und Bürgern mit atypischen Beeinträchtigungen verschiebe er auf die Ebene späterer Gesetzgebung.
Für Nussbaum ist das nicht akzeptabel: "Nur dann, wenn die Parteien im Urzustand nicht wissen, welche körperlichen Beeinträchtigungen sie haben oder nicht haben könnten, werden sie Prinzipien festlegen, die Menschen mit solchen Beeinträchtigungen gegenüber wirklich fair sind." Auf der Theorieebene verkompliziert das die Dinge erheblich: Hinter dem "Schleier des Nichtwissens" können sich die Parteien nicht mehr einfach am Schlechtestgestellten orientieren, denn Besser- und Schlechterstellung in der Gesellschaft lassen sich nicht mehr anhand von Grundgütern wie Einkommen und Vermögen ermitteln. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann bei gleichem Einkommen und Vermögen deutlich schlechter gestellt sein als eine Person, die sich "normal" fortbewegen kann und keine Hilfen zum Ausgleich ihrer eingeschränkten Mobilität benötigt.
Darum empfiehlt Nussbaum den "Fähigkeitenansatz" (capability approach), der von ihr im Feld der Philosophie, von Amartya Sen im Bereich der Ökonomie entwickelt wurde. Anders als Sen schlägt Nussbaum einen klar umrissenen, wenngleich erweiterbaren Katalog von Fähigkeiten vor. Ihr geht es nicht um eine vergleichende Messung der Lebensqualität, sondern um "die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten". Diese Ansprüche sind nicht gegeneinander aufrechenbar, jeder Fähigkeit ist ein Schwellenwert zugemessen. Nussbaums Liste umfasst unter anderem "die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben" und "die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören". Von zentraler Bedeutung ist "die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben".
Im Mittelpunkt der Überlegungen steht immer wieder die Menschenwürde. Sie ist der Prüfstein für die Angemessenheit dessen, was dem einzelnen zur Verwirklichung seiner Fähigkeiten zukommt. Ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht - darin sind für die Aristotelikerin Nussbaum "Bedürfnis und Fähigkeit, Vernunft und Animalität eng miteinander verwoben". Die menschliche Würde ist "die Würde eines bedürftigen und verkörperten Wesens", eines auf Gesellschaft und soziale Beziehungen hin angelegten Wesens, von dessen Fähigkeiten die Forderung ausgeht, "dass sie entwickelt werden sollten, dass das Leben ein gedeihendes und kein verkümmertes Leben sein soll".
Gelingendes Leben umfasst für Nussbaum den gleichen Zugang zu Bildung und Information, zustimmend weist sie darauf hin, dass die Verfassungsgerichte Indiens und Südafrikas aus der Menschenwürde solche Ansprüche ableiten. Es umfasst auch die Einbeziehung, die Befähigung von Menschen mit Behinderungen. Hinter Nussbaums "Fähigkeitenansatz" steht eine Konzeption der Kooperation, "die davon ausgeht, dass die Bindungen zwischen den Menschen sich ebenso dem Altruismus wie dem gegenseitigen Vorteil verdanken".
Sich für das Wohl anderer einzusetzen sei also nicht mehr nur eine Sache individueller Konzeptionen des Guten, wie bei Rawls, sondern vielmehr Teil einer gemeinsamen öffentlichen Konzeption der Person - einer Person, die nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil eine Übereinkunft mit anderen trifft, sondern weil sie sich nicht vorstellen kann, ein gutes Leben zu führen, ohne ihre Zwecke und ihr Leben mit anderen zu teilen. Einer Person, die ein Wesen mit Bedürfnissen ist und die vom Säuglingsalter bis zum Lebensende vielfältige Formen der Angewiesenheit erlebt, dauerhaft oder vorübergehend, als leichte Einschränkung oder schwere Behinderung.
Bedürfnisse haben aber auch die, die für andere sorgen - darum ist es für Nussbaum eine politische Aufgabe, "durch gute öffentliche Strukturen und eine anständige öffentliche Kultur" jene Menschen zu unterstützen, die auf sie angewiesene ältere oder behinderte Menschen versorgen. Für pflegende Familienmitglieder - zumeist Frauen - müsse es eine echte Entscheidung sein, einen auf Fürsorge angewiesenen Menschen zu pflegen, nicht eine aufgezwungene Belastung, die der Gleichgültigkeit der Gesellschaft geschuldet ist.
Die vielfältigen praktischen Schwierigkeiten ihrer Forderung verkennt Martha Nussbaum an dieser Stelle nicht, und auch bei den anderen Problemfeldern ihres Buches unterschätzt sie kaum die Komplexität der Realitäten jenseits der Theorie. Aber gegen Resignation angesichts immenser Herausforderungen hilft eben nur ein Denken, das Grenzen überschreitet.
ALEXANDRA KEMMERER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
So einleuchtend Martin Bauer Martha Nussbaums Gerechtigkeitstheorie, ihr Abwägen des Verhältnisses von Moral und Politik auch erscheint, so nüchtern betrachtet er ihre Chancen angesichts von Etatgrenzen. Den Gedankengängen der Sozialphilosophin, von der liberalen Definition von Gesellschaft als Kooperationssystem über die Infragestellung grundsätzlicher Bedingungen des liberalen Kontraktualismus bis hin zu ihrer Kritik an dessen Verkoppelung der Achtung von Personen und deren Produktivität, folgt er dennoch gerne. Nussbaums Anregungen und Vorschläge bedenkend, erkennt er die von der Autorin aufgezeigten Grenzen des Liberalismus als unbestreitbar an. Dies trotz seiner Skepsis angesichts der hier entworfenen "politischen Anthropologie".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... und schliesslich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Umgang mit den Interessen nichtmenschlicher Spezies. Diese drei Gerechtigkeitsprobleme greift Matha Nussbaum in ihrem Buch über die Grenzen der Gerechtigkeit auf, das in diesen Tagen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung erscheint.«
Alexandra Kemmerer, Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.10.2010
Alexandra Kemmerer, Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.10.2010