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Was sind die Grenzen des Ästhetischen? Karl Heinz Bohrer unternimmt den Versuch, den inflationären Begriff Ästhetik gegenüber Hedonismus, Alltagsdesign, Oberfläche ohne Hintergrund und gegenüber "Lebenswelt" und "Kultur" abzugrenzen, um die Substanz des künstlerischen Wertes zu wahren.

Produktbeschreibung
Was sind die Grenzen des Ästhetischen? Karl Heinz Bohrer unternimmt den Versuch, den inflationären Begriff Ästhetik gegenüber Hedonismus, Alltagsdesign, Oberfläche ohne Hintergrund und gegenüber "Lebenswelt" und "Kultur" abzugrenzen, um die Substanz des künstlerischen Wertes zu wahren.
Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011),Granatsplitter. Erzählungen einer Jugend (2012), Ist Kunst Illusion? (EA, 2015) und Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie (EA, 2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Die Bluse der Medusa
Karl Heinz Bohrer strickt der gräßlichen Kunst ein gefälliges Kleid / Von Richard Kämmerlings

Vor zwölf Jahren machte Karl Heinz Bohrer als gemeinsames Kennzeichen der Bundesrepublik und ihrer Fußballnationalmannschaft ein "ästhetisches Defizit" aus. Den deutschen Kickern schrieb er nach ihrem wenig erbaulichen Auftritt in Mexiko ins Stammbuch, sie hätten "nicht verstanden, daß dieses Spiel nichts als seine Form ist". Den harten Verweis im Geist des New Criticism nahm sich der damalige Teamchef Beckenbauer wohl zu Herzen, vier Jahre später wurde Deutschland Weltmeister. Die von Bohrer seit jeher unermüdlich verfochtene Selbstreferenz des Ästhetischen schien endlich einmal auf der Siegerseite zu stehen.

Dabei ist der Bielefelder Literaturwissenschaftler bei aller intellektuellen Aggressivität kein bedingungsloser Anhänger der Offensive. In seinen literaturwissenschaftlich-ästhetischen Arbeiten praktiziert er vielmehr eine Mauertaktik. Sein Ziel, den Kasten des Ästhetischen von Fremdkörpern sauberzuhalten, verfolgt er mit einer hautengen philologischen Manndeckung, die den theoretischen Gegner nicht immer fair, aber effizient vom Ball trennt. Auf die wechselnden Kontrahenten reagiert Bohrer regelmäßig mit der Einwechslung neuer Begriffe: Wo früher "Plötzlichkeit" aus der Tiefe des Raumes kam, herrscht heute das "absolute Präsens" der ästhetischen Erfahrung.

Manchmal ändert Bohrer freilich seine Taktik: Die Übertragung kunstwissenschaftlicher Kategorien auf Politik oder gar Sport würde er heute als unzulässige Inflation des Kunstbegriffs ablehnen. Der programmatische Essay "Die Grenzen des Ästhetischen", bereits 1992 erstmals vorgetragen, schließt Bohrers jüngste Aufsatzsammlung ab. Wo früher das Ästhetische als Gegengift zur banalen Alltagsvernunft diente, erscheint ihm nun die "Ästhetisierung der Lebenswelt" (Rüdiger Bubner) als Nivellierung der spezifischen Qualität des Kunstwerks. Der "Hedonismus der Aisthesis" (neben Richard Rorty und Wolfgang Welsch wird auch der Soziologe Gerhard Schulze mit seiner Beschreibung der "Erlebnisgesellschaft" genannt) ziehe den Kunstwerken den scharfen Zahn der Subversion; durch Kontextualisierung würden sie der Kulturindustrie restlos einverleibt.

Bohrers Kehrtwende ist eine folgerichtige Anpassung an veränderte Umstände: Bis in die achtziger Jahre hielten Geschichte und Geschichtsphilosophie das ästhetische Terrain besetzt. Bohrer verteidigte also in seinen großen Studien über Ernst Jünger (1978) oder den romantischen Brief (1987) die ästhetische gegen die politische Moderne im Habermasschen Sinne. Mit dem Schwinden der Geltungsansprüche geschichtsphilosophischer Großtheorien hat sich nach Bohrer die Ästhetik gleichsam zu Tode gesiegt. Die postmoderne Ehe von rationalem Diskurs und ästhetischer Rede ist ihm eine dubiose Allianz, deren Bedingungen von einer entschärften Ratio diktiert werden. Dagegen will Bohrer Kunst und Kunsttheorie aus den Schlingen gesellschaftlicher Inanspruchnahmen befreien - mal mittels der Polemik, mal in philologischer Mikroanalyse.

Die Romantik betrachtet Bohrer als den historischen Ort, wo sich erstmals die Wege des Ästhetischen und des Philosophisch-Theologischen verzweigen. In seiner Studie über den romantischen Brief hatte er eine "ästhetische Subjektivität", die durch Diskontinuität und Selbstverlust gekennzeichnet sei, von einer bürgerlichen "Vernunftsubjektivität" unterschieden, deren Hauptcharakteristikum das Pochen auf Selbsterhaltung und soziale Identität sei. Dem stellt er nun eine Analyse des "Romantisch-Phantastischen" bei Kleist, Brentano und Achim von Arnim an die Seite, das als Ausdruck "dezentrierten Bewußtseins" zu verstehen sei. Das "Phantastische als das Nichtreferentielle" ist aber nur ein besonders signifikanter Fall in Bohrers umfassender Kasuistik moderner Literatur. Sein Essay über das surrealistische Naturbild zeigt, wie auch scheinbar traditionelle Restbestände von Subjekterfahrung zur Materialmasse ästhetischen Spiels werden: das Naturzeichen nicht als "Zeichen der Natur", sondern als "ein der Naturform Entliehenes, das der surrealistischen Phantasie zur freien Verfügung ihrer Assoziationen dient".

Ein weiteres (und problematischeres) Theorem Bohrers betrifft die Zeitdimension der Kunst. Er versteigt sich zu der These, daß die moderne Literatur "immer schon eine präsentisch-kontemplative Bewußtseinsform" gehabt habe, "selbst in Fällen bedeutender historischer Stoffe. Intentionale Akte wie Interesse an der Zukunft waren ihr fremd". Diese abenteuerliche Behauptung läßt sich nur in einem Zirkelverfahren begründen, das den Luftraum der Hochkultur von "gesinnungsliterarischen" Tieffliegern freihält. Denn als Kunst läßt Bohrer von vornherein nur durchgehen, was seinem radikal-autonomen Begriff des Ästhetischen entspricht. Und diese Kunstwerke führt er dann als Beleg seiner Theorie ins Feld. So werden Goethe und Schiller ignoriert, Kleist, Brentano und Novalis dagegen gewürdigt. Musil und Kafka werden ernstgenommen, Thomas oder gar Heinrich Mann aber über die Grenze des Ästhetischen abgeschoben; in der Nachkriegsliteratur findet allenfalls Peter Weiss Gnade.

Hinter Bohrers hartnäckigem Bemühen, die Größen der Literaturgeschichte anhand seines autonomieästhetischen Lackmustests in zwei Lager aufzuteilen, steckt natürlich auch ein wissenschaftspolitisches Interesse. Die Germanistik schleppe von Gervinus bis heute das Erbe eines Idealismus mit sich herum, der Literatur immer nur als Behältnis irgendwelcher philosophischer oder sozialgeschichtlicher Inhalte wahrgenommen habe. Dieser "Kontextfront" war noch Bohrers Studie über Ernst Jüngers Frühwerk zuzurechnen, in dessen "Ästhetik des Schreckens" er eine seismographische Vorwegnahme epochalen Grauens nachzuweisen versuchte - eine Beziehung sprachlich-ästhetischer Strukturen auf historische Phänomene, die Bohrer heute nicht mehr herstellen könnte. Die Vermischung von Kategorien einer Gehalts- und einer Wirkungsästhetik wiederholt sich auf anderer Ebene im Schwanken zwischen überzeitlichen und historischen Bestimmungen der Kunst, das sich in Bohrers schillerndem Moderne-Begriff niederschlägt.

Schon in einem früheren Aufsatz über die Gewaltschilderungen des Aischylos hatte Bohrer feststellen müssen, daß seine enge Verkopplung von Schrecken und Moderne problematisch ist. In George Batailles Anthologie "Tränen des Eros" konnte Bohrer "schreckliche" Beispiele aus der Geschichte der bildenden Künste finden, die seinem paradoxen Versuch der Enthistorisierung von Ästhetik bei gleichzeitigem Festhalten an einer emphatischen Bestimmung von Modernität die Grundlage entzogen. Der jüngste Text der Sammlung, ein Essay über "Gewalt und Ästhetik als Bedingungsverhältnis" am Beispiel des Malers Francis Bacon, greift das Thema wieder auf. Batailles anthropologische These einer Verbindung von Gewalt und Eros in der Ekstase des Opfers wird nicht abgelehnt, sondern schlicht für irrelevant gehalten, obwohl doch in dieser Richtung eine Erklärung für die Allgegenwart des Gewaltmotivs liegen könnte. Bacons Selbstdeutung dagegen, die einen zum Schrei geöffneten Mund so malen will "wie Monet einen Sonnenuntergang", wird mit Zustimmung zitiert. Auf der Suche nach "Intensität", nach der "ideologisch unabgegoltenen Erscheinung", finde der künstlerische Blick im Gewaltstoff sein Ziel.

Warum freilich Massaker und Folterungen besondere Intensität garantieren, kann Bohrer nicht erklären. Die Gewalt der Kunst (im doppelten Sinne) dürfe nicht auf etwas Außerkünstlerisches zurückgeführt werden, es sei denn auf die obskure Affinität des Sujets "zu einem transzendental gegebenen Modus des Bewußtseins". Ein typisches Verfahren des Bohrerschen Immunsystems: Wer eine Erklärung für die Gewalt in Kunstwerken außerhalb ihrer sucht, betreibt keine Ästhetik, und wer sich auf Werke beruft, in denen keine Gewalt vorkommt, der redet nicht von Kunst.

Kontextualisierungen sind für Bohrer immer "Verharmlosungen", als entspräche das Verhältnis der Theorie zur Praxis dem eines Sprengstoffexperten zur Bombe: Hermeneutik als Entschärfungskommando. Es ist Bohrers Stärke, daß er selber nun nicht das "Sekundäre" der Philologie zugunsten einer direkten Konfrontation mit der Kunst an sich abtut. Doch versteht er sich als Partisan hinter den feindlichen Linien, der mit dem Werkzeug des Wissenschaftlers, aber dem Gestus des Surrealisten die Tatsachen der Kunst ihrer Feigenblätter entkleidet. Dabei treten keine klassisch-wohlgeformten Körper hervor, sondern - wie in den Werken Bacons - verstümmelte Gliedmaßen, gequälte Kreaturen und Entsetzen. Keine Idee, sondern Sinnlosigkeit, kein Sein eines Dinges, sondern der Schein eines Undings: der Gewalt.

Das mit der künstlerischen Gewaltdarstellung korrelierende "In-Erscheinung-Treten von etwas Wirkmächtigem" kann seine Nähe zu einem ontologisch fundierten Kunstbegriff nicht verbergen, den Bohrer freilich empört von sich weisen würde. Prompt hat er seinen jüngsten Gegner in einem längst verabschiedet geglaubten religiösen Dichtungsverständnis ausgemacht, wie es etwa George Steiner in seiner Polemik "Von realer Gegenwart" restituiert - eine Genieästhetik unter modernen Vorzeichen, die Bohrer als Rückfall hinter die Befreiungsschläge des französischen Symbolismus wertet. Der Dichter soll hier wieder Sprachrohr eines Absoluten, der Rezipient Adressat eines Anrufs aus der metaphysischen Hinterwelt sein.

Die Nähe Bohrers zu Steiner ist dennoch nicht zu verkennen: Gewalt als Inhalt und "Plötzlichkeit" als Wahrnehmungsmodus emphatisch moderner Kunst hielten sich immer im Vorhof des Tempels eines religiös aufgeladenen Erhabenen auf. Die in jüngerer Zeit unter dem Einfluß Paul de Mans vorgenommene Verschiebung hin zu formal-strukturellen Aspekten verstärkte diesen Eindruck eher noch. Das nun als Zeitform ästhetischer Imagination ausgemachte "absolute Präsens" führt nämlich nicht zur Aufhebung der Literatur im ironischen Sprachspiel. Die beschworene Selbstreferenz des Ästhetischen meine etwas anderes als Nichtreferenz: "Es geht zweifellos um eine Präsenz. Aber wessen?"

Um die Glaubwürdigkeit seines nihilistischen Pathos nicht aufs Spiel zu setzen, muß Bohrer einen Zwei-Fronten-Krieg führen. Er seziert beispielhaft die Bildersprache von Novalis' "Hymnen an die Nacht", um eine theologische Interpretation als "ideologisch-moralische" Fehldeutung zu entlarven. Bei allem christlichen Anspielungsreichtum komme es letztlich zu einem "Ästhetischwerden der Heilsgeschichte durch Narratio", eine "Emphatik der Müdigkeit" widerspreche formal dem scheinbar affirmierten Auferstehungsglauben: "Imagination und Häresie sind Geschwister". Daß Bohrer an dieser Stelle alle Register seines sophistischen Scharfsinns zieht, zeigt an, daß hier die Gretchenfrage liegt: Wie hält er's nun mit der Religion?

Bei Steiner lautet diese Frage: Hat unser Sprechen Inhalt? Ja, sagt Bohrer, ohne jedoch Steiners ontologische Referentialisierung mitzumachen. Indem er bei Novalis das Theologische in einer Rhetorik der Subjektivität aufhebt, kann er seine eigene Begrifflichkeit durch die metaphysische Zollkontrolle schmuggeln. "Epiphanie" oder "Plötzlichkeit" sind dann nur noch strukturelle Aquivalente eines religiösen Dichtungsverständnisses ohne kommunikablen Kern. Was dann aber den Ereignischarakter des Kunstwerks ausmacht, läßt sich nicht positiv bestimmen, so viele Worte Bohrer auch darum macht: Wie in der Negativen Theologie die Namen Gottes nie sein Wesen treffen, so ist der innerste Kern der Kunst, Adornos Nichtidentisches, nur durch seine abzublätternden Schalen zu umschreiben.

Die "Grenzen des Ästhetischen" sind Prolegomena zu einer "Ästhetik der Grenze", die sich aufhalten müßte "zwischen der Skylla eines Verzichts auf jede Bedeutung und der Charybdis einer Überreferentialisierung auf höchste Bedeutung hin", zwischen den Polen Lyotard und George Steiner. Bohrers Ästhetik ist an einem Nicht-Ort angesiedelt - sie ist selbst im Wortsinn Utopie. In Tiecks Erzählung "Der blonde Eckbert" wird ein entlegener Ort beschrieben, an dem ein geheimnisvoller Vogel das Lied von der Schönheit der ewigen "Waldeinsamkeit" singt. Bohrer liest den Text als "ins Werk gesetzte Theorie" des "Wunderbaren", dessen Elemente "der Wahnsinn, die Einschläferung des Verstandes, der nicht vom Erwachen bedrohte Traum" sind. "Waldeinsamkeit" ist aber nicht nur Chiffre romantisch-moderner Kunst, sondern auch einer Kunsttheorie, wie Bohrer sie versteht: kontextlos, fern der Gesellschaft und mit den Kartenwerken der Vernunft unerreichbar. Der Ästhetiker der Zukunft wird ein Mystiker sein.

Karl Heinz Bohrer: "Die Grenzen des Ästhetischen". Carl Hanser Verlag, München Wien 1998. 208 S., br., 34,- DM.

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