Die politische Kultur der westlichen Welt in einer breit angelegten Gesamtschau. Von den Griechen und ihrer Entdeckung von Politik und Demokratie, über die Römer und die christliche Welt bis zur Gegenwart, die vom Kampf um Menschenrechte und dem Totalitarismus zugleich gezeichnet ist, wird das ganze Spektrum des Politischen Denkens vorgestellt. Band 1.2: Die Darstellung setzt ein mit den Klassikern Platon und Aristoteles. Den Abschluss des Bandes bildet der Hellenismus mit seinen Philosophenschulen und Gottkönigen, mit Alexander dem Großen, Epikur, den Kynikern und der Stoa.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Wer will Letztes von Vorletztem trennen?
Henning Ottmanns provokante Geschichte des politischen Denkens / Von Friedrich Wilhelm Graf
Henning Ottmanns Konzept des "politischen Denkens" umfaßt alle folgenreichen Gedanken über die Ordnung des Gemeinwesens, die im Abendland entwickelt wurden. So stellt der Münchner Politikwissenschaftler in seiner "Geschichte des politischen Denkens" von den Griechen bis ins zwanzigste Jahrhundert nicht allein die klassische politische Philosophie dar. Programmatisch bezieht er die Ordnungsentwürfe von Dichtern und Historikern, Juristen und Theologen, Ökonomen und Künstlern ein. Der konventionelle Klassikerkanon der politischen Wissenschaften wird entgrenzt. Mit der Cambridge School Quentin Skinners betont Ottmann kontextuelle Perspektiven, die zeitliche Prägungen der Theoriebildung erschließen. Zugleich weiß er um ein elementares Eigengewicht gedachter Ordnungen, die sich niemals auf soziale Interessen reduzieren ließen. Politische Ethik und gelebtes Ethos, theoretische Entwürfe und überkommene Institutionen des Gemeinwesens werden aufeinander bezogen. Ottmann sieht im westlichen politischen Denken ein Erbe, das man nicht ausschlagen dürfe. In den Politikdiskursen des Okzidents seien "sowohl die Erfahrungen mit guten Ordnungen als auch die Erinnerungen an die Katastrophen aufbewahrt". Die Memoria politischen Denkens soll für die Selbstgefährdungspotentiale freiheitlicher Demokratien sensibilisieren. Zur Einigung Europas bedürfe es aktiver Erinnerung an abendländische Grundlagen.
Schon ein Jahr nach zwei eindrucksvollen Teilbänden über "Die Griechen" (F.A.Z. vom 19. Oktober 2001) legt Ottmann den ersten Teilband zur römischen Geschichte vor. Das grundsolide Buch ist klar gegliedert. Zunächst werden soziale und politische Ordnungen Roms, altrömische Lebensart und Humanitas-Ideale geschildert. Ottmann erläutert Konzepte wie honos, dignitas, clementia und misericordia. Dann skizziert er die Wege, auf denen griechische Philosophie nach Rom kam, beginnend mit Karneades und Cato dem Älteren. Stoische Kardinaltugenden wurden für die römische Nobilität umgeformt. Nach Kapiteln über Polybios, Cicero, Caesar, Sallust und die Augusteische Klassik gewinnt das Kapitel zu den "Politischen Lehren des Neuen Testaments" eine Schlüsselstellung.
Hier entfaltet Ottmann normative Kriterien zur Unterscheidung einer guten Ordnung des Politischen von Fehlformen und bösen Perversionen. Eine politische Ordnung sei menschengemäß, wenn trennscharfe Grenzen des Politischen institutionalisiert seien und jede religiöse Überhöhung der Herrschaft verhindert werde. Der Darstellung der Stoiker des ersten Jahrhunderts nach Christus, vor allem Epiktets, und Kapiteln über Tacitus, den jüngeren Plinius und Marc Aurel folgen Kapitel zur frühchristlichen Apologetik, Konstantinischen Wende und Reichstheologie Eusebs. Erik Petersons These, daß mit der Dogmatisierung der Trinität in Nicäa "ein frühes Ende aller politischen Theologie" durchgesetzt worden sei, lehnt Ottmann ab.
Den Schluß des Bandes bildet "der Untergang des heidnischen Rom" während der Herrschaft Julians. Den Streit um den Victoriaaltar und die Umformung der heidnischen Siegesgöttin zu einem christianisierten Herrschaftszeichen deutet Ottmann als ideenpolitisch fälligen Sieg der Christen. Ihr starker Glaube sei keineswegs nur aus politisch-strukturellen Gründen, aufgrund der Wahlverwandtschaft von Monotheismus und Monarchie, imperialer Reichsidee und kirchlicher oikumene, zur Staatsreligion geworden. Entscheidender war die theologische Überlegenheit des Christuskerygmas über die vielen heidnischen Kulte und Sinndeutungsangebote. In die seit Gibbons "Decline of the Roman Empire" geführten Dauerdebatten über die Ursachen der politischen Erosion Roms führt Ottmann wieder geschichtstheologische Deutungen der älteren Kirchenhistoriographie ein: Die vera religio mußte siegen, weil die anderen, heidnischen Kulte einfach falsch sind. Ottmann läßt seine teleologische Konstruktion auf Augustin hin zulaufen. Mit der Unterscheidung zweier Reiche habe der große Kirchenvater alle antike theologia civilis definitiv zerstört.
"Was sind die Staaten anderes als große Räuberbanden, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt?" Mit Augustin versteht Ottmann iustitia als zentrale Norm zur Legitimation politischer Ordnungen. Als 156 vor Christus Karneades, der Leiter der Akademie, und andere Berufsdenker aus den athenischen Philosophenschulen nach Rom kamen, konfrontierten sie die Römer mit der Frage nach der Gerechtigkeit ihres imperialistischen Expansionsdrangs. Von Ciceros "De re republica" bis zu Augustins "De Civitate Dei" wurde Roms Weltherrschaft an Gerechtigkeitskriterien gemessen. Ottmann vermutet Gerechtigkeit eher bei Cicero als bei Caesar und gibt den republikanischen Ordnungen des römischen Gemeinwesens den Vorzug vor den Ausprägungen des Kaisertums. Den Untergang der Republik führt er auf die Unfähigkeit der Nobilität zurück, gerechte Lösungen für die sozialen Probleme der vielen zu entwickeln.
Komplexe historische Sachverhalte beschreibt er in einfachen, klaren Sätzen. Rückblenden sind mit Ausblicken auf spätere Rezeptionsgeschichten verknüpft. Im Tacitus-Kapitel erzählt er auch vom frühneuzeitlichen Tacitismus und von dem gelehrten Streit über konkurrierende Tacitismen. Aus Leonardo Brunis "Laudatio Florentinae" zitiert er den Beginn von Tacitus' "Historiae", daß, "nachdem die Fülle der Macht einer Einzelpersönlichkeit übertragen wurde, die herausragenden Talente verschwanden". Mit Hans Baron sieht er in Brunis Tacitus-Rezeption einen "civic humanism" begründet.
Dies zeigt eine Schwäche seiner Erzähltechnik: Ottmann greift Deutungsmuster und Leitbegriffe der älteren Ideenhistorie häufig allzu gegenständlich, unmittelbar auf. Hans Baron, ein deutschjüdischer Schüler Friedrich Meineckes und Ernst Troeltschs, entwickelte sein Konzept des "Bürgerhumanismus" auch mit Blick auf die Bedrohung der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten. Seit der Emigration nach Amerika sah er in Brunis idealer Republik tugendhafter Bürger ein freiheitliches Gegenmodell zum "totalen Staat", das seinem Gastland eine bis ins antike Rom zurückweisende politische Legitimität stiftete. Darin steckt aber viel Projektion: Brunis Tacitus-Rezeption diente weithin dem Interesse rhetorischer Feier starker Machtausübung. Die Sprache des republikanischen Gemeinsinns barg viel Herrschaftslyrik. Im sympathischen Bemühen, Theorie lebensweltlich zu fassen, droht Ottmann elementare Vermittlungsprobleme zwischen "Begriff" und "Realität" zu überspringen. So wirkt die informative Darstellung bisweilen altbacken.
"Jetzt gilt nicht mehr Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Weib", hatte Paulus den Galatern erklärt. Im Paragraphen 209 A seiner "Rechtsphilosophie" führte Hegel 1821 moderne Freiheitsrechte aufs Christentum zurück. "Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist." Mit Hegel liest Ottmann das Neue Testament als metapolitische Revolution der politischen Denkungsart. Er beschreibt das breite Spektrum politisch relevanter Aussagen in den neutestamentlichen Texten, von Römer 13 bis hin zur radikal antirömischen Johannes-Apokalypse. Konservativen Exegeten gibt er den Vorzug vor kritischen Religionshistorikern im Protestantismus. Die Vielfalt heterogener neutestamentlicher Zeugnisse deutet Ottmann mit Carl Schmitts Modell von der römisch-katholischen "complexio oppositorum". Gegensätzliche neutestamentliche Aussagen führt er auf gewandelte Kontextbedingungen und unterschiedliche Adressaten zurück.
Generell sieht er das Christentum durch eine radikale Relativierung alles Politischen geprägt. Im Christuskerygma sei "Politik von der Zumutung entlastet, das letzte Ziel menschlichen Handelns zu sein. Sie wird zur Kunst der Regelung vorletzter Dinge, weil die Religion zuständig für das Letzte ist." Der christliche Glaube beende jede sakrale Verehrung politischer Autoritäten. Durch die Grundunterscheidung zweier Gewalten oder Schwerter zerstöre er alle Formen von Ziviltheologie und Zivilreligion. Im Brüderlichkeitsethos des Neuen Testaments findet Ottmann eine Gleichheit des Menschen vor Gott, die dem modernen okzidentalen Menschenrechtsuniversalismus den Weg bereitet habe. In seiner Geschichtssicht können weite Strecken der Christentumsgeschichte, etwa die Geschichten der Ostkirchen, nur als irgendwie halbchristlich gedeutet werden.
Ottmann steht der neoklassischen politischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts nahe. Mit Leo Strauss, Eric Voegelin, Hannah Arendt und Dolf Sternberger sowie den Münchner wie Freiburger Schulen der westdeutschen Politikwissenschaft schätzt er antike Politikkonzepte. Allerdings will Ottmann die Bewahrung antiken Erbes nicht zur üblichen Zivilisationskritik am modernen liberalen Individualismus verflachen lassen. Zentrales Thema einer modernitätskompatiblen politischen Theorie bleibe die Reflexion auf Bedingungen der Freiheit, die freie einzelne gemeinsam immer schon in Anspruch nehmen, um im Sinne des Kantischen Rechtsverständnisses ihre individuelle Freiheit mit der der jeweils anderen zu vermitteln. Moderne Freiheit führe zur prinzipiellen Emanzipation des einzelnen aus den Bindungen kontingenter Herkunft. Sie werde sich aber nur bewahren lassen, "wenn sie sich mit den Bindungen vereinen läßt, die durch die Herkunft bereits gestiftet sind". In Formulierungen nordamerikanischer Kommunitarier beschwört der "Modernitätskonservative" eine "kommunikative" Freiheit, die das miteinander Reden und miteinander Handeln der Bürger als normative Grundlage des Gemeinwesens zu denken erlaubt. Über vage Andeutungen gelangt Ottmann hier nicht hinaus.
Bis in die Details der Darstellung hinein folgt Ottmanns "Geschichte des politischen Denkens" einem normativen christlichen Programm: Nur wo die eschatologische Differenz von "Vorletztem" und "Letztem", "Diesseitigem" und "Jenseitigem", "Politischem" und "Religiösem" gewahrt bleibe, lasse sich die tendenziell totalitäre Selbstverabsolutierung politischer Ordnungen verhindern. Doch wem eignet die Deutungsmacht über das alle gute politische Ordnung begründende eschatologische Differenzbewußtsein?
Der nächste, dem Mittelalter gewidmete Band soll, sachlich konsequent, mit einem großen Kapitel über Augustins "De Civitate Dei" eröffnet werden. Hier lassen sich Zwei-Reiche-Distinktionen erschließen, die über ein bloßes Differenzbewußtsein hinausweisen. Soll die Unterscheidung von "Vorletztem" und "Letztem" nicht zum politischen Wortgeklingel herabsinken, müssen die Differenzmomente im "Vorletzten" selbst identifiziert und die voneinander unterschiedenen Reiche auch konstruktiv aufeinander bezogen werden.
Henning Ottmann: "Geschichte des politischen Denkens". Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band 2: Die Römer. Teilband 1: Die Römer. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2002. XV, 382 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henning Ottmanns provokante Geschichte des politischen Denkens / Von Friedrich Wilhelm Graf
Henning Ottmanns Konzept des "politischen Denkens" umfaßt alle folgenreichen Gedanken über die Ordnung des Gemeinwesens, die im Abendland entwickelt wurden. So stellt der Münchner Politikwissenschaftler in seiner "Geschichte des politischen Denkens" von den Griechen bis ins zwanzigste Jahrhundert nicht allein die klassische politische Philosophie dar. Programmatisch bezieht er die Ordnungsentwürfe von Dichtern und Historikern, Juristen und Theologen, Ökonomen und Künstlern ein. Der konventionelle Klassikerkanon der politischen Wissenschaften wird entgrenzt. Mit der Cambridge School Quentin Skinners betont Ottmann kontextuelle Perspektiven, die zeitliche Prägungen der Theoriebildung erschließen. Zugleich weiß er um ein elementares Eigengewicht gedachter Ordnungen, die sich niemals auf soziale Interessen reduzieren ließen. Politische Ethik und gelebtes Ethos, theoretische Entwürfe und überkommene Institutionen des Gemeinwesens werden aufeinander bezogen. Ottmann sieht im westlichen politischen Denken ein Erbe, das man nicht ausschlagen dürfe. In den Politikdiskursen des Okzidents seien "sowohl die Erfahrungen mit guten Ordnungen als auch die Erinnerungen an die Katastrophen aufbewahrt". Die Memoria politischen Denkens soll für die Selbstgefährdungspotentiale freiheitlicher Demokratien sensibilisieren. Zur Einigung Europas bedürfe es aktiver Erinnerung an abendländische Grundlagen.
Schon ein Jahr nach zwei eindrucksvollen Teilbänden über "Die Griechen" (F.A.Z. vom 19. Oktober 2001) legt Ottmann den ersten Teilband zur römischen Geschichte vor. Das grundsolide Buch ist klar gegliedert. Zunächst werden soziale und politische Ordnungen Roms, altrömische Lebensart und Humanitas-Ideale geschildert. Ottmann erläutert Konzepte wie honos, dignitas, clementia und misericordia. Dann skizziert er die Wege, auf denen griechische Philosophie nach Rom kam, beginnend mit Karneades und Cato dem Älteren. Stoische Kardinaltugenden wurden für die römische Nobilität umgeformt. Nach Kapiteln über Polybios, Cicero, Caesar, Sallust und die Augusteische Klassik gewinnt das Kapitel zu den "Politischen Lehren des Neuen Testaments" eine Schlüsselstellung.
Hier entfaltet Ottmann normative Kriterien zur Unterscheidung einer guten Ordnung des Politischen von Fehlformen und bösen Perversionen. Eine politische Ordnung sei menschengemäß, wenn trennscharfe Grenzen des Politischen institutionalisiert seien und jede religiöse Überhöhung der Herrschaft verhindert werde. Der Darstellung der Stoiker des ersten Jahrhunderts nach Christus, vor allem Epiktets, und Kapiteln über Tacitus, den jüngeren Plinius und Marc Aurel folgen Kapitel zur frühchristlichen Apologetik, Konstantinischen Wende und Reichstheologie Eusebs. Erik Petersons These, daß mit der Dogmatisierung der Trinität in Nicäa "ein frühes Ende aller politischen Theologie" durchgesetzt worden sei, lehnt Ottmann ab.
Den Schluß des Bandes bildet "der Untergang des heidnischen Rom" während der Herrschaft Julians. Den Streit um den Victoriaaltar und die Umformung der heidnischen Siegesgöttin zu einem christianisierten Herrschaftszeichen deutet Ottmann als ideenpolitisch fälligen Sieg der Christen. Ihr starker Glaube sei keineswegs nur aus politisch-strukturellen Gründen, aufgrund der Wahlverwandtschaft von Monotheismus und Monarchie, imperialer Reichsidee und kirchlicher oikumene, zur Staatsreligion geworden. Entscheidender war die theologische Überlegenheit des Christuskerygmas über die vielen heidnischen Kulte und Sinndeutungsangebote. In die seit Gibbons "Decline of the Roman Empire" geführten Dauerdebatten über die Ursachen der politischen Erosion Roms führt Ottmann wieder geschichtstheologische Deutungen der älteren Kirchenhistoriographie ein: Die vera religio mußte siegen, weil die anderen, heidnischen Kulte einfach falsch sind. Ottmann läßt seine teleologische Konstruktion auf Augustin hin zulaufen. Mit der Unterscheidung zweier Reiche habe der große Kirchenvater alle antike theologia civilis definitiv zerstört.
"Was sind die Staaten anderes als große Räuberbanden, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt?" Mit Augustin versteht Ottmann iustitia als zentrale Norm zur Legitimation politischer Ordnungen. Als 156 vor Christus Karneades, der Leiter der Akademie, und andere Berufsdenker aus den athenischen Philosophenschulen nach Rom kamen, konfrontierten sie die Römer mit der Frage nach der Gerechtigkeit ihres imperialistischen Expansionsdrangs. Von Ciceros "De re republica" bis zu Augustins "De Civitate Dei" wurde Roms Weltherrschaft an Gerechtigkeitskriterien gemessen. Ottmann vermutet Gerechtigkeit eher bei Cicero als bei Caesar und gibt den republikanischen Ordnungen des römischen Gemeinwesens den Vorzug vor den Ausprägungen des Kaisertums. Den Untergang der Republik führt er auf die Unfähigkeit der Nobilität zurück, gerechte Lösungen für die sozialen Probleme der vielen zu entwickeln.
Komplexe historische Sachverhalte beschreibt er in einfachen, klaren Sätzen. Rückblenden sind mit Ausblicken auf spätere Rezeptionsgeschichten verknüpft. Im Tacitus-Kapitel erzählt er auch vom frühneuzeitlichen Tacitismus und von dem gelehrten Streit über konkurrierende Tacitismen. Aus Leonardo Brunis "Laudatio Florentinae" zitiert er den Beginn von Tacitus' "Historiae", daß, "nachdem die Fülle der Macht einer Einzelpersönlichkeit übertragen wurde, die herausragenden Talente verschwanden". Mit Hans Baron sieht er in Brunis Tacitus-Rezeption einen "civic humanism" begründet.
Dies zeigt eine Schwäche seiner Erzähltechnik: Ottmann greift Deutungsmuster und Leitbegriffe der älteren Ideenhistorie häufig allzu gegenständlich, unmittelbar auf. Hans Baron, ein deutschjüdischer Schüler Friedrich Meineckes und Ernst Troeltschs, entwickelte sein Konzept des "Bürgerhumanismus" auch mit Blick auf die Bedrohung der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten. Seit der Emigration nach Amerika sah er in Brunis idealer Republik tugendhafter Bürger ein freiheitliches Gegenmodell zum "totalen Staat", das seinem Gastland eine bis ins antike Rom zurückweisende politische Legitimität stiftete. Darin steckt aber viel Projektion: Brunis Tacitus-Rezeption diente weithin dem Interesse rhetorischer Feier starker Machtausübung. Die Sprache des republikanischen Gemeinsinns barg viel Herrschaftslyrik. Im sympathischen Bemühen, Theorie lebensweltlich zu fassen, droht Ottmann elementare Vermittlungsprobleme zwischen "Begriff" und "Realität" zu überspringen. So wirkt die informative Darstellung bisweilen altbacken.
"Jetzt gilt nicht mehr Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Weib", hatte Paulus den Galatern erklärt. Im Paragraphen 209 A seiner "Rechtsphilosophie" führte Hegel 1821 moderne Freiheitsrechte aufs Christentum zurück. "Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist." Mit Hegel liest Ottmann das Neue Testament als metapolitische Revolution der politischen Denkungsart. Er beschreibt das breite Spektrum politisch relevanter Aussagen in den neutestamentlichen Texten, von Römer 13 bis hin zur radikal antirömischen Johannes-Apokalypse. Konservativen Exegeten gibt er den Vorzug vor kritischen Religionshistorikern im Protestantismus. Die Vielfalt heterogener neutestamentlicher Zeugnisse deutet Ottmann mit Carl Schmitts Modell von der römisch-katholischen "complexio oppositorum". Gegensätzliche neutestamentliche Aussagen führt er auf gewandelte Kontextbedingungen und unterschiedliche Adressaten zurück.
Generell sieht er das Christentum durch eine radikale Relativierung alles Politischen geprägt. Im Christuskerygma sei "Politik von der Zumutung entlastet, das letzte Ziel menschlichen Handelns zu sein. Sie wird zur Kunst der Regelung vorletzter Dinge, weil die Religion zuständig für das Letzte ist." Der christliche Glaube beende jede sakrale Verehrung politischer Autoritäten. Durch die Grundunterscheidung zweier Gewalten oder Schwerter zerstöre er alle Formen von Ziviltheologie und Zivilreligion. Im Brüderlichkeitsethos des Neuen Testaments findet Ottmann eine Gleichheit des Menschen vor Gott, die dem modernen okzidentalen Menschenrechtsuniversalismus den Weg bereitet habe. In seiner Geschichtssicht können weite Strecken der Christentumsgeschichte, etwa die Geschichten der Ostkirchen, nur als irgendwie halbchristlich gedeutet werden.
Ottmann steht der neoklassischen politischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts nahe. Mit Leo Strauss, Eric Voegelin, Hannah Arendt und Dolf Sternberger sowie den Münchner wie Freiburger Schulen der westdeutschen Politikwissenschaft schätzt er antike Politikkonzepte. Allerdings will Ottmann die Bewahrung antiken Erbes nicht zur üblichen Zivilisationskritik am modernen liberalen Individualismus verflachen lassen. Zentrales Thema einer modernitätskompatiblen politischen Theorie bleibe die Reflexion auf Bedingungen der Freiheit, die freie einzelne gemeinsam immer schon in Anspruch nehmen, um im Sinne des Kantischen Rechtsverständnisses ihre individuelle Freiheit mit der der jeweils anderen zu vermitteln. Moderne Freiheit führe zur prinzipiellen Emanzipation des einzelnen aus den Bindungen kontingenter Herkunft. Sie werde sich aber nur bewahren lassen, "wenn sie sich mit den Bindungen vereinen läßt, die durch die Herkunft bereits gestiftet sind". In Formulierungen nordamerikanischer Kommunitarier beschwört der "Modernitätskonservative" eine "kommunikative" Freiheit, die das miteinander Reden und miteinander Handeln der Bürger als normative Grundlage des Gemeinwesens zu denken erlaubt. Über vage Andeutungen gelangt Ottmann hier nicht hinaus.
Bis in die Details der Darstellung hinein folgt Ottmanns "Geschichte des politischen Denkens" einem normativen christlichen Programm: Nur wo die eschatologische Differenz von "Vorletztem" und "Letztem", "Diesseitigem" und "Jenseitigem", "Politischem" und "Religiösem" gewahrt bleibe, lasse sich die tendenziell totalitäre Selbstverabsolutierung politischer Ordnungen verhindern. Doch wem eignet die Deutungsmacht über das alle gute politische Ordnung begründende eschatologische Differenzbewußtsein?
Der nächste, dem Mittelalter gewidmete Band soll, sachlich konsequent, mit einem großen Kapitel über Augustins "De Civitate Dei" eröffnet werden. Hier lassen sich Zwei-Reiche-Distinktionen erschließen, die über ein bloßes Differenzbewußtsein hinausweisen. Soll die Unterscheidung von "Vorletztem" und "Letztem" nicht zum politischen Wortgeklingel herabsinken, müssen die Differenzmomente im "Vorletzten" selbst identifiziert und die voneinander unterschiedenen Reiche auch konstruktiv aufeinander bezogen werden.
Henning Ottmann: "Geschichte des politischen Denkens". Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band 2: Die Römer. Teilband 1: Die Römer. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2002. XV, 382 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Da hat sich der Rezensent Mühe gegeben mit seiner Besprechung. Hat sauber unterschieden in Kritik und Lob für die zwei anzuzeigenden, die Epoche "von Homer bis zum Hellenismus" abdeckenden Halbbände und ist am Ende höchst zufrieden mit der "herkulischen Leistung" des Autors, "als einzelner das westliche politische Denken darzustellen", und zwar "mit kühnem Entschluss" auf Basis des Gegensatzes von "individueller Agonalität" und Gemeinsamkeit. Für bemerkenswert, um das Lob des Rezensenten vorwegzunehmen, hält Wolfgang Schuller, dass der Autor unter politischem Denken auch diejenigen Vorstellungen versteht, die sich in der Dichtung, besonders in der attischen Tragödie, finden. Ferner schätzt er den "schwungvollen, persönlichen Stil" des Autors, der "neben einigen Kalauern auch glänzende Formulierungen und Einsichten hervorbringt", findet zu seiner Freude einzelne Philosophen nicht nur auf ihr politisches Denken, sondern auf ihre gesamte Philosophie hin abgeklopft und äußert sich schließlich positiv über die Ausstattung der Bände mit "Schaubildern, Zeittafeln und umfangreichen Bibliographien". Bleibt der Tadel. Der bezieht sich, abgesehen von einer Rüge für ein etwas schlampiges Lektorat, auf das, was fehlt: Der Einbezug der laut Schuller höchst politischen Komödie, das Nachdenken über die Rolle der Frau in der Öffentlichkeit und "mehr über die politischen Vorstellungen ... die hinter den konkreten Regelungen der athenischen Demokratie standen".
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
"Auch wer den systematischen Ansatz Ottmanns nicht teilt, wird zugestehen müssen, dass der Autor ihn mit bestechender Stringenz in den vorliegenden Bänden entwickelt und durchhält. Dem Leser öffnen sich so - auch durch stete Quer-, Vor- und Rückverweise - ganz neue Perspektiven auf die Geschichte des politischen Denkens der Antike, gewiss auch auf die des Mittelalters und der Neuzeit, wenn die entsprechenden Bücher erst einmal vorliegen. Noch nie zuvor sind so viele unterschiedliche Quellen zusammengetragen und systematisch erschlossen worden - und das stets in einem klaren und diskursiven Stil, der seinesgleichen sucht. Deshalb werden nicht nur Politikwissenschaftler und Philosophen, sondern auch Historiker, Literaturwissenschaftler, Altphilologen und Theologen ihre Freude an diesem Werk haben." - Zeitschrift für Philosophie
"Ottmanns Projekt beeindruckt nicht nur durch seine Ausmaße, seine stupende Gelehrsamkeit und die Geduld, mit der er Verästelungen und Nebenströme des Geistes erforscht und bei den heute kaum noch gelesenen Autoren auf den Abstellgleisen der Rezeptionsgeschichte manch wichtige, erinnerungswürdige Einsicht erschließt, die sich bei den großen Klassikern des politischen Denkens so nicht findet." - DZPhil
"Ottmanns Projekt beeindruckt nicht nur durch seine Ausmaße, seine stupende Gelehrsamkeit und die Geduld, mit der er Verästelungen und Nebenströme des Geistes erforscht und bei den heute kaum noch gelesenen Autoren auf den Abstellgleisen der Rezeptionsgeschichte manch wichtige, erinnerungswürdige Einsicht erschließt, die sich bei den großen Klassikern des politischen Denkens so nicht findet." - DZPhil