»Der Vorhang der Illusion, alles sei geordnet und für die Ewigkeit verpackt, reißt auf von Stunde zu Stunde, von Nachricht zu Nachricht, von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz. Unsere Welt verändert sich in einer Geschwindigkeit und Radikalität, für die es noch keine Sprache und keine Vorstellung gibt. Es ist ein Paradigmenwechsel, der sich vollzieht und der wirkt, nicht aber gedacht werden kann, weil er die Bibliotheken des Wissens verlässt, ohne neue zu gründen.«In dieser Sammlung neuer Essays werden die Themen und Motive weiterentwickelt, die Kurt Drawerts Literatur in ihrer Tiefenschicht prägen: Die komplexen Schnittstellen von Körper, Sprache und Macht im Inneren des Subjekts zu erkunden und eine daraus abzuleitende Gefährdung für den einzelnen Menschen. Ein zweiter Teil gilt der Literatur als einem Ort der Freiheit des Subjekts. Aber - "Was ist Literatur?" In diesem Versuch einer Topologie entwirft der Autor eine poetologische Matrix für die eigene Arbeit, in der Produktion und Reflexion nebeneinander koexistieren. Reden und Gespräche komplettieren die theoretischen Positionen und führen sie am konkreten Gegenstand weiter. Kurt Drawert ist Autor von Romanen, Gedichten und Essays. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen (2017), dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis (2020) und dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur (2021). Er lebt in Darmstadt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2023Wider den Mangel
Kurt Drawerts neues Buch über Literatur
Nicht wenige der Texte aus Kurt Drawerts neuem Buch sind zuerst in dieser Zeitung erschienen. Für "Die große Abwesenheit" hat der in Darmstadt lebende und lehrende Schriftsteller aber nicht nur Essays und Gedichtinterpretationen aus dem letzten Jahrzehnt gruppiert, sondern in die Abteilungen auch drei bereits vor einem Vierteljahrhundert geschriebene Prosastücke integriert, weil, wie Drawert im Nachwort sagt, in seinem Fall "Literatur und Essay, Produktion und Reflexion, Fiktionalität und Realität untrennbar miteinander verschmolzen sind und gut nebeneinander erscheinen können ohne jede Spur von Konkurrenz". Das ist sogar noch zu bescheiden formuliert: Tatsächlich ergänzen sich die unterschiedlichen Formen zu einem Buch, das wie ein Roman gelesen werden kann, nur dass dessen Akteur das literarische Interesse des Autors ist. "Die große Abwesenheit" macht Kurt Drawerts Blick auf sein Metier präsent.
Durch die Beigabe von drei Fotokonvoluten seiner Frau Ute Döring - auch über drei Jahrzehnte hinweg entstanden: "Prora" (schwarz-weiß) in den mittleren Neunzigern, "Berlin. Dazwischen" (farbig) 2009 und "Prag" (collagiert) 2016 - bekommt der Band nicht nur eine Drawerts ästhetischem Kunstkonzept entsprechende grenzüberschreitende Komponente, sondern auch eine inhaltlich schlüssige Erweiterung, denn man sieht die verwandte Phänomenologie: Döring porträtiert diese Orte menschenleer und somit von sich selbst beseelt. Das entspricht Drawerts Blick auf Texte, der bevorzugt aus dem Werk heraus erfolgt statt aus dem Biographischen. Wenn es um Imre Kertész geht oder Wolfgang Hilbig, um Günter Eich, Kafka oder Karl Krolow, dann ist bei aller Vertrautheit Drawerts mit diesen Schriftstellern das, was sie geschrieben haben, der Maßstab - auch für seine eigene Annäherungen an sie.
In einem zum Abschluss des Bandes abgedruckten Gespräch mit Axel Helbig sagt Drawert: "Jedes Buch hat seine eigene Entstehungsgeschichte." Die langwierige seines jüngsten hat ein glückliches Resultat hervorgebracht, auch wenn der Autor damit einmal nicht bei seinem Hausverlag C. H. Beck vertreten ist. Dafür hat Spector Books aus Leipzig seine Erfahrung mit Fotobüchern fruchtbar gemacht. Die Aufnahmen von Ute Döring sind jeweils doppelseitig reproduziert, doch der Falz ist kein Störelement, sondern Scharnier innerhalb des einzelnen Motivs: Die Auswahl wurde so getroffen, dass sich das Einzelbild betrachten lässt wie ein Diptychon.
"Literatur entsteht aus einem Mangel heraus", heißt es in Drawerts programmatischem Aufsatz "Was ist Literatur?" von 2018: "aus der Erfahrung, die das Subjekt mit dem Mangel macht." Beim Lesen von "Die große Abwesenheit" wird Mangel abgeholfen. Die Fülle an Themen und Erkenntnissen ist überreich. apl
Kurt Drawert:
"Die große
Abwesenheit".
Essays. Reden.
Figuren der Literatur.
Mit Fotografien von Ute Döring. Spector Books, Leipzig 2023. 248 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kurt Drawerts neues Buch über Literatur
Nicht wenige der Texte aus Kurt Drawerts neuem Buch sind zuerst in dieser Zeitung erschienen. Für "Die große Abwesenheit" hat der in Darmstadt lebende und lehrende Schriftsteller aber nicht nur Essays und Gedichtinterpretationen aus dem letzten Jahrzehnt gruppiert, sondern in die Abteilungen auch drei bereits vor einem Vierteljahrhundert geschriebene Prosastücke integriert, weil, wie Drawert im Nachwort sagt, in seinem Fall "Literatur und Essay, Produktion und Reflexion, Fiktionalität und Realität untrennbar miteinander verschmolzen sind und gut nebeneinander erscheinen können ohne jede Spur von Konkurrenz". Das ist sogar noch zu bescheiden formuliert: Tatsächlich ergänzen sich die unterschiedlichen Formen zu einem Buch, das wie ein Roman gelesen werden kann, nur dass dessen Akteur das literarische Interesse des Autors ist. "Die große Abwesenheit" macht Kurt Drawerts Blick auf sein Metier präsent.
Durch die Beigabe von drei Fotokonvoluten seiner Frau Ute Döring - auch über drei Jahrzehnte hinweg entstanden: "Prora" (schwarz-weiß) in den mittleren Neunzigern, "Berlin. Dazwischen" (farbig) 2009 und "Prag" (collagiert) 2016 - bekommt der Band nicht nur eine Drawerts ästhetischem Kunstkonzept entsprechende grenzüberschreitende Komponente, sondern auch eine inhaltlich schlüssige Erweiterung, denn man sieht die verwandte Phänomenologie: Döring porträtiert diese Orte menschenleer und somit von sich selbst beseelt. Das entspricht Drawerts Blick auf Texte, der bevorzugt aus dem Werk heraus erfolgt statt aus dem Biographischen. Wenn es um Imre Kertész geht oder Wolfgang Hilbig, um Günter Eich, Kafka oder Karl Krolow, dann ist bei aller Vertrautheit Drawerts mit diesen Schriftstellern das, was sie geschrieben haben, der Maßstab - auch für seine eigene Annäherungen an sie.
In einem zum Abschluss des Bandes abgedruckten Gespräch mit Axel Helbig sagt Drawert: "Jedes Buch hat seine eigene Entstehungsgeschichte." Die langwierige seines jüngsten hat ein glückliches Resultat hervorgebracht, auch wenn der Autor damit einmal nicht bei seinem Hausverlag C. H. Beck vertreten ist. Dafür hat Spector Books aus Leipzig seine Erfahrung mit Fotobüchern fruchtbar gemacht. Die Aufnahmen von Ute Döring sind jeweils doppelseitig reproduziert, doch der Falz ist kein Störelement, sondern Scharnier innerhalb des einzelnen Motivs: Die Auswahl wurde so getroffen, dass sich das Einzelbild betrachten lässt wie ein Diptychon.
"Literatur entsteht aus einem Mangel heraus", heißt es in Drawerts programmatischem Aufsatz "Was ist Literatur?" von 2018: "aus der Erfahrung, die das Subjekt mit dem Mangel macht." Beim Lesen von "Die große Abwesenheit" wird Mangel abgeholfen. Die Fülle an Themen und Erkenntnissen ist überreich. apl
Kurt Drawert:
"Die große
Abwesenheit".
Essays. Reden.
Figuren der Literatur.
Mit Fotografien von Ute Döring. Spector Books, Leipzig 2023. 248 S., geb., 22,- Euro.
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