Die späten Dreißigerjahre in der Sowjetunion: Josef Stalin und seine Gefolgsmänner verüben mit der Verfolgung, Verhaftung und Exekution kommunistischer Genossen, die als mutmaßliche Gegner der stalinistischen Herrschaft eingestuft werden, eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Die Schreckenszeit dauert vom Herbst 1936 bis Ende 1938 und wird später als der Große Terror oder die Große Säuberung grausame Geschichte schreiben. Hier setzt Victor Serges Roman an und erzählt von Menschen, die diesem Zirkel der Willkür und Gewalt ausgeliefert waren. Der junge Kostja aus Moskau gelangt in den Besitz eines Colts. Zufällig trifft er nachts auf Oberst Tulajew, Mitglied des Zentralkomitees und mitverantwortlich für Massendeportationen und politische Säuberungen . Getrieben von dem Wunsch nach Gerechtigkeit fällt ein Schuss, Tulajew stirbt noch an Ort und Stelle. Kostja läuft davon und entkommt, erleichtert und mit gutem Gewissen. Doch diese Tat tritt eine Lawine von Ereignissen ungeahnten Ausmaßes los. Das Zentralkomitee nutzt den Mord, um weitere unliebsame Funktionäre, Parteimitglieder und Genossen loszuwerden. Er wird bald als der Fall Tulajew im ganzen Land bekannt und zeigt als Reaktion eine sich ins Hysterische steigernde bürokratische Untersuchung, die sich bis in die tiefsten Provinzen ausweitet. Keiner ist seiner Position oder gar seines Lebens sicher, nicht einmal hochrangige Funktionäre. Im Gegenteil. Während ein jeder von ihnen die anderen misstrauisch beäugt, wird er selber überwacht bis er eines Tages ebenfalls abgeholt wird und verschwindet. So entsteht ein Strudel aus Angst und Paranoia, der den Leser in den Roman und die Figuren in den Abgrund zieht. Jedes Kapitel funktioniert wie ein Krimi, bei dem der Ausgang zunehmend klarer wird, der Weg aber als psychologische Achterbahnfahrt überraschend bleibt. Die Furcht und die Vorahnung der Protagonisten, wenn es nachts plötzlich an der Tür klopft, sind förmlich spürbar.
Victor Serge schildert in seinem Roman die Innenwelt der sowjetischen Nomenklatur. Selten ist eine Diktatur intensiver und glaubwürdiger beschrieben worden.
Victor Serge schildert in seinem Roman die Innenwelt der sowjetischen Nomenklatur. Selten ist eine Diktatur intensiver und glaubwürdiger beschrieben worden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "grandiosen" Roman würdigt Rezensentin Stefana Sabin Victor Serges im Jahre 1948 veröffentlichten Roman "Die große Ernüchterung" über die stalinistischen Säuberungen. Auch wenn der Kritikerin nicht ganz klar wird, worin der Gewinn dieser neuen, "leicht überarbeiteten" Übersetzung besteht, freut sie sich, diesen großartigen Roman der literarischen Spätmoderne noch einmal zu entdecken. In eigenständigen Kapiteln, die der Rezensentin nicht nur wie Novellen, sondern zugleich als "Psychogramme politischer Enttäuschung" erscheinen, liest Sabin die anhand des Falles "Tulajew" erzählte Geschichte des stalinistischen Terrors. Serge gelinge es, am Beispiel der Schicksale von einfachen Beamten, hohen Parteiaktivisten, Intellektuellen, Partisanen und Ingenieuren die emotionale Verfassung des Einzelnen und das Handeln der Massen nachvollziehbar zu machen, so die Rezensentin, die nicht zuletzt die "flaubertsche Klarheit und das dostojewskische Pathos" dieses Romans lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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