Seoul, im April 1960. Johnny Kim, seine Geliebte Eve Moon und sein bester Freund aus Kindertagen Yunho Kang sind auf der Flucht vor der berüchtigten Nordwest-Jugend, einer antikommunistischen, paramilitärischen Schlägertruppe im Dienst der Regierung Südkoreas. Diese steht kurz vor dem Zusammenbruch, seit Wochen geht die Bevölkerung gegen den autokratischen Präsidenten Rhee auf die Straße. Gemeinsam wagen Johnny, Eve und Yunho die illegale Überfahrt nach Japan und finden Unterschlupf und Arbeit im koreanischen Viertel Osakas. Doch schon bald werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt: Ein Mädchen ist verschwunden, und der Verdacht fällt auf Johnny ...Spionagegeschichte, politischer und historischer Roman in einem, handelt »Die große Heimkehr« von Freundschaft, Loyalität und Verrat, vom unmöglichen Leben in einer Diktatur. Das Buch erzählt von den Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel und den Anfängen des heutigenNordkorea, als die Gewaltherrschaft Kim Il Sungs noch in den Kinderschuhen steckte. Und es stellt sich der Frage: Wem gehört Geschichte? Den Siegern, die Archive verschließen und Dokumente schwärzen? Oder dem Einzelnen, der seine Erfahrungen von Verlust und Verlorenheitan andere weitergibt, Verlierer wie er selbst?»Sprache wie ein Seziermesser benutzend, behutsam und souverän, legt die Autorin Tiefenschichten menschlichen Daseins an sich frei.« Carsten Hueck, Deutschlandradio Kultur
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2017Heiße Herzen, Kalter Krieg
In ihrem neuen Roman „Die große Heimkehr“ erzählt Anna Kim
von Verrat und Selbstbetrug, Aufbruch und Desillusionierung im geteilten Korea um 1960
VON ULRICH BARON
Angesichts der Blitzkarriere des Ausdrucks „postfaktisch“ könnte man meinen, es hätte kein zwanzigstes Jahrhundert gegeben. Keine Lügen in Zeiten des Krieges, keine Umerziehungslager und Propagandaministerien, keine Rituale von „Kritik und Selbstkritik“, keinen George Orwell und keinen Arthur Koestler. Da erteilt Anna Kims Roman „Die große Heimkehr“ eine doppelte Geschichtslektion. Ihr gelingt eine erzählerisch spannend und anschaulich vermittelte Einführung in die propagandistisch umkämpfte Geschichte Koreas. Die dort im Jahr 1977 geborene Autorin ist 1979 mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland und dann nach Österreich ausgewandert.
Nach der 1875 von Japan erzwungenen Öffnung des koreanischen Kaiserreichs, folgte dessen Ausverkauf. Unter japanischer Ägide wurden das Land und seine Ressourcen der Weltwirtschaft zum Fraße vorgeworfen. Korea wurde zur japanischen Kolonie Chōsen; viele seiner Einwohner suchten ihr Glück in Japan oder in der chinesischen Mandschurei. Andere wurden von der rasant wachsenden Industrie Japans und später von dessen Armee und Militärbordellen zwangsrekrutiert. Als das japanische Imperium zerschlagen wurde, war Korea ein desintegriertes, entlang des 38. Breitengrades zwischen den Besatzungsmächten UdSSR und USA geteiltes Land, das 1950 im Koreakrieg zum ersten Hotspot des Kalten Kriegs avancierte.
In den Jahren 1959/60, um die der Roman kreist, hatte im Norden Kim Il-sung eine kommunistische Erbmonarchie etabliert, während im Süden der von den USA protegierte Präsident Rhee seine schwindende Macht durch Wahlfälschungen und den Terror seiner paramilitärischen „Nord-West-Jugend“ zu bewahren suchte.
Anna Kim beschreibt die von Korruption und willkürlicher Gewalt, Misstrauen, Denunziation und erpresster Loyalität geprägte Atmosphäre im südkoreanischen Seoul jener Jahre, in denen das Regime in Pjöngjang bevorzugt wohlhabende Exilkoreaner aus Japan zur „großen Heimkehr“ in das vermeintliche Arbeiterparadies im Norden zu verführen suchte. Um aber das historiografisch Gesicherte im Individuellen wie Allgemeinen fassbar zu machen, beglaubigt sie es literarisch durch eine Fiktion, in der es um Freundschaft und Liebe, Verrat und Selbstbetrug geht – und damit auch um die Glaubwürdigkeit (auto-)biografischen Erzählens.
Auf der Suche nach ihrer Familie ist die von Deutschen adoptierte Erzählerin nach Seoul gereist und hat dort ihren Gewährsmann kennengelernt, der ihr von einem Leben berichtet, das in den Vorkriegsjahren im dörflichen Nonsan begann. Aus den Schrecken von Krieg und Bürgerkrieg hatte dieser Yunho Kang kaum mehr als sich selbst und die Erinnerungen an seinen Kindheitsfreund Mino alias Johnny gerettet. Als er ihn nach jahrelanger Trennung in Seoul wiedertrifft, wird er Teil einer Dreiecksbeziehung, die ihn und Johnny mit Eve Moon verbindet, die als Taxigirl in einer „Tanzschule“ arbeitet. Zunächst ahnungslos, sieht er sich bald in ein Spiel aus Lügen und falschen Identitäten verstrickt, um erst spät zu erfahren, dass Teile davon weit in seine Kindheit zurückreichen.
Was macht einen Menschen zum Verräter an denen, die ihm am nächsten stehen? Angst, lautet eine mögliche Antwort. „Weißt du, Yunho“, sagt die pragmatische Eve einmal, „du musst bedenken, wir werden von den Regierenden übernommen, wir können sie uns nicht aussuchen. Und unser Überleben hängt davon ab, wie überzeugend unsere Loyalität ist.“ Yunho hat immer mehr Gründe, an Eve und an Johnny zu zweifeln. Und was ist dran an den Gerüchten, sein älterer Bruder Yunsu habe ihre Mutter getötet, um seine Loyalität gegenüber den Kommunisten zu beweisen? Inmitten der auf Quellen ruhenden Romanhandlung, stellt die Hauptfigur diese Grundlage infrage. Damals habe er begonnen, nach der Wahrheit zu suchen, habe Artikel gesammelt, Protokolle, Berichte, sagt Yunho und wendet sich dann direkt an seine Zuhörerin: „Sie müssen verstehen, ich bin mit der Illusion aufgewachsen, es gebe sie und es gebe bloß eine.“
Noch hinter der bitteren Ironie, die sich in der titelgebenden Propagandaphrase „große Heimkehr“ verbirgt, lauert die Sehnsucht nach solch eindeutiger Wahrheit. Doch gerade hier liegt auch die Wurzel totaler Unterwerfung. „Ein Herz vereint“ sei dass Motto der Volksrepublik Korea, sagt die fanatische Lehrerin Ayumi, die ihre Klasse zur Ausreise in den Norden animiert hat. Hatte sie zuvor gerade die Zerschlagung der Familienclans als Errungenschaft des Kim-Regimes gepriesen, liefert sie nun ein Glanzstück des Zwiedenkens, indem sie dessen Staat als „natürliche Erweiterung“ der Kleinfamilie anpreist: „General Kim hat uns seine Familie geschenkt und uns unsere Würde wiedergegeben.“
Mit solchem Lobpreis steht Anna Kims Roman in der Tradition von Orwells „1984“, dessen Medienkritik sie noch erweitert. Die Tonspur zu ihrem Buch liefert Billie Holiday, die in zahlreichen Szenen auf alten Grammofonplatten von den Illusionen der Liebe singt – und von den „foolish things“, die einen daran erinnern. Ein Erweckungserlebnis ihrer Kindheit war für Yunho und Johnny eine erste Filmvorführung, und Eve hat sich selbst nach den Vorgaben eines amerikanischen Schönheitsideals designed. Selbst die nordkoreanische Propaganda in Japan bedient sich illustrierter Zeitschriften, deren Bilder Yunho freilich gestellt vorkommen, bis er auf einem Foto seinen verschollenen Bruder zu erkennen meint. Nunmehr durchsucht er jede Ausgabe, die er in seine Hände bekommt, auf der manischen Suche nach einer Wahrheit, die auf diesen Blättern gar nicht vorkommen dürfte.
Anna Kim beschreibt, was man auch in vielen lateinamerikanischen Romanen erleben kann. Die verführerische Macht, die der Glamour von Hollywood noch ins entlegenste Dorf und den ödesten Haushalt brachte, stellte die bestehenden Verhältnisse infrage, bot aber eine nur phantasmagorische Alternative.
Eigentlich waren Yunho, Johnny und Eve drei harmlose junge Leute, die weder Verräter noch Mörder werden und weder in einer kommunistischen Diktatur, wie Johnny, noch wie Yunho in der Illegalität verschwinden wollten. Doch anders als die Pragmatikerin Eve, die schließlich einen Amerikaner heiratet, sind Yunho und Johnny Idealisten, die der tristen Wirklichkeit zu entkommen suchen: „Johnny, der stets auf der Suche nach Möglichkeiten war, die ihn aus dem Nichts ins Alles befördern würden, und ich, der so sehr daran glauben wollte, dass in Nonsan die Zeit stehen geblieben war“, so hat Yunho seinen Freund und sich selbst am Romanbeginn charakterisiert. Dem unerträglichen Faktischen versuchen beide zu entkommen, doch wo der eine voran- und der andere zurückwill, kommt es bestenfalls zur Trennung.
Und schlimmstenfalls zur Kollision, wenn die Umstände es wollen, dass man einander gerade im Wege steht, während beide glauben, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. „Heimat: was für eine heikle, furchtbare und furchterregende Religion“, heißt es einmal.
Am Ende hat Johnny in Nordkorea vielleicht seine Zukunft gefunden und Yunho seine Vergangenheit. Er lebt im Süden an einem Ort voller Bücher, Fotografien und Klänge, als ein alter Mann, der „These Foolish Things“ in- und auswendig kennt, umgeben von Dingen, die ihn an das erinnern, was nicht mehr ist.
Auf der Suche nach ihrer Familie
ist die von Deutschen adoptierte
Erzählerin nach Seoul gereist
Eigentlich sind die Hauptfiguren
harmlose junge Leute, die weder
Verräter noch Mörder sein wollen
Frauen auf dem Fischmarkt von Pusan in Südkorea. In Anna Kims Roman ist der gesamte Alltag von politischen Spannungen durchzogen.
Foto: imago/ZUMA Press
Anna Kim: Die große Heimkehr. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
559 Seiten, 24 Euro.
E-Book 20,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem neuen Roman „Die große Heimkehr“ erzählt Anna Kim
von Verrat und Selbstbetrug, Aufbruch und Desillusionierung im geteilten Korea um 1960
VON ULRICH BARON
Angesichts der Blitzkarriere des Ausdrucks „postfaktisch“ könnte man meinen, es hätte kein zwanzigstes Jahrhundert gegeben. Keine Lügen in Zeiten des Krieges, keine Umerziehungslager und Propagandaministerien, keine Rituale von „Kritik und Selbstkritik“, keinen George Orwell und keinen Arthur Koestler. Da erteilt Anna Kims Roman „Die große Heimkehr“ eine doppelte Geschichtslektion. Ihr gelingt eine erzählerisch spannend und anschaulich vermittelte Einführung in die propagandistisch umkämpfte Geschichte Koreas. Die dort im Jahr 1977 geborene Autorin ist 1979 mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland und dann nach Österreich ausgewandert.
Nach der 1875 von Japan erzwungenen Öffnung des koreanischen Kaiserreichs, folgte dessen Ausverkauf. Unter japanischer Ägide wurden das Land und seine Ressourcen der Weltwirtschaft zum Fraße vorgeworfen. Korea wurde zur japanischen Kolonie Chōsen; viele seiner Einwohner suchten ihr Glück in Japan oder in der chinesischen Mandschurei. Andere wurden von der rasant wachsenden Industrie Japans und später von dessen Armee und Militärbordellen zwangsrekrutiert. Als das japanische Imperium zerschlagen wurde, war Korea ein desintegriertes, entlang des 38. Breitengrades zwischen den Besatzungsmächten UdSSR und USA geteiltes Land, das 1950 im Koreakrieg zum ersten Hotspot des Kalten Kriegs avancierte.
In den Jahren 1959/60, um die der Roman kreist, hatte im Norden Kim Il-sung eine kommunistische Erbmonarchie etabliert, während im Süden der von den USA protegierte Präsident Rhee seine schwindende Macht durch Wahlfälschungen und den Terror seiner paramilitärischen „Nord-West-Jugend“ zu bewahren suchte.
Anna Kim beschreibt die von Korruption und willkürlicher Gewalt, Misstrauen, Denunziation und erpresster Loyalität geprägte Atmosphäre im südkoreanischen Seoul jener Jahre, in denen das Regime in Pjöngjang bevorzugt wohlhabende Exilkoreaner aus Japan zur „großen Heimkehr“ in das vermeintliche Arbeiterparadies im Norden zu verführen suchte. Um aber das historiografisch Gesicherte im Individuellen wie Allgemeinen fassbar zu machen, beglaubigt sie es literarisch durch eine Fiktion, in der es um Freundschaft und Liebe, Verrat und Selbstbetrug geht – und damit auch um die Glaubwürdigkeit (auto-)biografischen Erzählens.
Auf der Suche nach ihrer Familie ist die von Deutschen adoptierte Erzählerin nach Seoul gereist und hat dort ihren Gewährsmann kennengelernt, der ihr von einem Leben berichtet, das in den Vorkriegsjahren im dörflichen Nonsan begann. Aus den Schrecken von Krieg und Bürgerkrieg hatte dieser Yunho Kang kaum mehr als sich selbst und die Erinnerungen an seinen Kindheitsfreund Mino alias Johnny gerettet. Als er ihn nach jahrelanger Trennung in Seoul wiedertrifft, wird er Teil einer Dreiecksbeziehung, die ihn und Johnny mit Eve Moon verbindet, die als Taxigirl in einer „Tanzschule“ arbeitet. Zunächst ahnungslos, sieht er sich bald in ein Spiel aus Lügen und falschen Identitäten verstrickt, um erst spät zu erfahren, dass Teile davon weit in seine Kindheit zurückreichen.
Was macht einen Menschen zum Verräter an denen, die ihm am nächsten stehen? Angst, lautet eine mögliche Antwort. „Weißt du, Yunho“, sagt die pragmatische Eve einmal, „du musst bedenken, wir werden von den Regierenden übernommen, wir können sie uns nicht aussuchen. Und unser Überleben hängt davon ab, wie überzeugend unsere Loyalität ist.“ Yunho hat immer mehr Gründe, an Eve und an Johnny zu zweifeln. Und was ist dran an den Gerüchten, sein älterer Bruder Yunsu habe ihre Mutter getötet, um seine Loyalität gegenüber den Kommunisten zu beweisen? Inmitten der auf Quellen ruhenden Romanhandlung, stellt die Hauptfigur diese Grundlage infrage. Damals habe er begonnen, nach der Wahrheit zu suchen, habe Artikel gesammelt, Protokolle, Berichte, sagt Yunho und wendet sich dann direkt an seine Zuhörerin: „Sie müssen verstehen, ich bin mit der Illusion aufgewachsen, es gebe sie und es gebe bloß eine.“
Noch hinter der bitteren Ironie, die sich in der titelgebenden Propagandaphrase „große Heimkehr“ verbirgt, lauert die Sehnsucht nach solch eindeutiger Wahrheit. Doch gerade hier liegt auch die Wurzel totaler Unterwerfung. „Ein Herz vereint“ sei dass Motto der Volksrepublik Korea, sagt die fanatische Lehrerin Ayumi, die ihre Klasse zur Ausreise in den Norden animiert hat. Hatte sie zuvor gerade die Zerschlagung der Familienclans als Errungenschaft des Kim-Regimes gepriesen, liefert sie nun ein Glanzstück des Zwiedenkens, indem sie dessen Staat als „natürliche Erweiterung“ der Kleinfamilie anpreist: „General Kim hat uns seine Familie geschenkt und uns unsere Würde wiedergegeben.“
Mit solchem Lobpreis steht Anna Kims Roman in der Tradition von Orwells „1984“, dessen Medienkritik sie noch erweitert. Die Tonspur zu ihrem Buch liefert Billie Holiday, die in zahlreichen Szenen auf alten Grammofonplatten von den Illusionen der Liebe singt – und von den „foolish things“, die einen daran erinnern. Ein Erweckungserlebnis ihrer Kindheit war für Yunho und Johnny eine erste Filmvorführung, und Eve hat sich selbst nach den Vorgaben eines amerikanischen Schönheitsideals designed. Selbst die nordkoreanische Propaganda in Japan bedient sich illustrierter Zeitschriften, deren Bilder Yunho freilich gestellt vorkommen, bis er auf einem Foto seinen verschollenen Bruder zu erkennen meint. Nunmehr durchsucht er jede Ausgabe, die er in seine Hände bekommt, auf der manischen Suche nach einer Wahrheit, die auf diesen Blättern gar nicht vorkommen dürfte.
Anna Kim beschreibt, was man auch in vielen lateinamerikanischen Romanen erleben kann. Die verführerische Macht, die der Glamour von Hollywood noch ins entlegenste Dorf und den ödesten Haushalt brachte, stellte die bestehenden Verhältnisse infrage, bot aber eine nur phantasmagorische Alternative.
Eigentlich waren Yunho, Johnny und Eve drei harmlose junge Leute, die weder Verräter noch Mörder werden und weder in einer kommunistischen Diktatur, wie Johnny, noch wie Yunho in der Illegalität verschwinden wollten. Doch anders als die Pragmatikerin Eve, die schließlich einen Amerikaner heiratet, sind Yunho und Johnny Idealisten, die der tristen Wirklichkeit zu entkommen suchen: „Johnny, der stets auf der Suche nach Möglichkeiten war, die ihn aus dem Nichts ins Alles befördern würden, und ich, der so sehr daran glauben wollte, dass in Nonsan die Zeit stehen geblieben war“, so hat Yunho seinen Freund und sich selbst am Romanbeginn charakterisiert. Dem unerträglichen Faktischen versuchen beide zu entkommen, doch wo der eine voran- und der andere zurückwill, kommt es bestenfalls zur Trennung.
Und schlimmstenfalls zur Kollision, wenn die Umstände es wollen, dass man einander gerade im Wege steht, während beide glauben, endlich auf dem richtigen Weg zu sein. „Heimat: was für eine heikle, furchtbare und furchterregende Religion“, heißt es einmal.
Am Ende hat Johnny in Nordkorea vielleicht seine Zukunft gefunden und Yunho seine Vergangenheit. Er lebt im Süden an einem Ort voller Bücher, Fotografien und Klänge, als ein alter Mann, der „These Foolish Things“ in- und auswendig kennt, umgeben von Dingen, die ihn an das erinnern, was nicht mehr ist.
Auf der Suche nach ihrer Familie
ist die von Deutschen adoptierte
Erzählerin nach Seoul gereist
Eigentlich sind die Hauptfiguren
harmlose junge Leute, die weder
Verräter noch Mörder sein wollen
Frauen auf dem Fischmarkt von Pusan in Südkorea. In Anna Kims Roman ist der gesamte Alltag von politischen Spannungen durchzogen.
Foto: imago/ZUMA Press
Anna Kim: Die große Heimkehr. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
559 Seiten, 24 Euro.
E-Book 20,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2017Wechselnde Identitäten
Anna Kim mit ihrem Korea-Roman in Frankfurt
Sie wollte es wissen. Deshalb hat Anna Kim, die als Zweijährige nach Deutschland kam und in Österreich aufwuchs, recherchiert, wie Nord- und Südkorea sich entzweit haben. Deshalb schickt sie die Protagonistin ihres zweiten Romans in die südkoreanische Hauptstadt Seoul. Hanna ist auf der Suche nach ihren biologischen Eltern. In Seoul begegnet sie Yunho. Der betagte Archivar erzählt ihr von seiner Jugendfreundschaft mit Johnny und Eve, die an den politischen Verhältnissen zerbrach. Johnny berichtet von dem, was wir im Westen nicht wissen: von Massenhinrichtungen im Korea der fünfziger Jahre, von einem Tal, in dem 7000 Menschen verscharrt wurden.
Was wissen wir schon über Korea? Wer der 40 Jahre alten Autorin aus Wien im Frankfurter Literaturhaus zuhört, will auf jeden Fall mehr wissen. Kim erzählt auf 600 Seiten von Freundschaft und Liebe nach dem Zweiten Weltkrieg und im Korea-Krieg, von der Flucht ihrer drei Hauptfiguren nach Japan und vom Versuch Südkoreas, die Flüchtlinge zu repatriieren. Vor allem auf diese Zeit, also die Jahre zwischen 1959 und 1961, bezieht sich Kims Buchtitel "Die große Heimkehr" (Suhrkamp), aber auch auf die Heldin der Rahmenhandlung: Hanna spricht Koreanisch mit japanischer Intonation, sie ist in einer westlich orientierten koreanischen Familie aufgewachsen, zwischen Thomas Mann, Hegel und Jaspers, denn ihre Mutter hat Germanistik und Philosophie studiert.
Über die Geschichte ihrer eigenen Familie wisse sie nur wenig, gesteht die Autorin. Das zumindest hat sie mit Hanna gemeinsam, die von westlichen Eltern adoptiert worden ist. Kim hat gegen einige Klischees anschreiben wollen, denen sie in der westlichen Lesart koreanischer Geschichte begegnet ist. "Wie ist Nordkorea zu dem geworden, was es heute ist?", hat sie sich gefragt. "Welche Version darf in den ostasiatischen Schulbüchern stehen?" Die Autorin, die auch für ihre politischen Essays bekannt ist, wollte das Thema nicht essayistisch verarbeiten, weil sie den Roman beim Changieren zwischen Wahrheit und Lüge für die ästhetisch flexiblere Form hält. Schon der Auftakt ihres Buchs klingt feingliedrig, elastisch, wenn sie die Musik zum Gesang von Billie Holiday wie leise Tierlaute beschreibt: "mauzend, trippelnd, tapsend".
Über die amerikanische Jazzsängerin hat Kim schon immer ein Buch schreiben wollen. "Ihre Liedtexte haben etwas Doppeldeutiges." Daher passt der Soundtrack des Romans gut zur undurchsichtigen Geschichte der beiden Koreas. Und zur Figur der Tänzerin Eve Moon, die der Politik wegen unter verschiedenen Namen unterwegs ist, ihre Identitäten wechselt und von den beiden Freunden Yunho und Johnny geliebt wird. Eves Tod in Amerika löst dem alten Yunho die Zunge. Was er zu erzählen hat, kann Kim im Literaturhaus nur andeuten. So viel aber kann sie klarmachen: Es lohnt sich, der Geschichte Koreas nachzuspüren.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anna Kim mit ihrem Korea-Roman in Frankfurt
Sie wollte es wissen. Deshalb hat Anna Kim, die als Zweijährige nach Deutschland kam und in Österreich aufwuchs, recherchiert, wie Nord- und Südkorea sich entzweit haben. Deshalb schickt sie die Protagonistin ihres zweiten Romans in die südkoreanische Hauptstadt Seoul. Hanna ist auf der Suche nach ihren biologischen Eltern. In Seoul begegnet sie Yunho. Der betagte Archivar erzählt ihr von seiner Jugendfreundschaft mit Johnny und Eve, die an den politischen Verhältnissen zerbrach. Johnny berichtet von dem, was wir im Westen nicht wissen: von Massenhinrichtungen im Korea der fünfziger Jahre, von einem Tal, in dem 7000 Menschen verscharrt wurden.
Was wissen wir schon über Korea? Wer der 40 Jahre alten Autorin aus Wien im Frankfurter Literaturhaus zuhört, will auf jeden Fall mehr wissen. Kim erzählt auf 600 Seiten von Freundschaft und Liebe nach dem Zweiten Weltkrieg und im Korea-Krieg, von der Flucht ihrer drei Hauptfiguren nach Japan und vom Versuch Südkoreas, die Flüchtlinge zu repatriieren. Vor allem auf diese Zeit, also die Jahre zwischen 1959 und 1961, bezieht sich Kims Buchtitel "Die große Heimkehr" (Suhrkamp), aber auch auf die Heldin der Rahmenhandlung: Hanna spricht Koreanisch mit japanischer Intonation, sie ist in einer westlich orientierten koreanischen Familie aufgewachsen, zwischen Thomas Mann, Hegel und Jaspers, denn ihre Mutter hat Germanistik und Philosophie studiert.
Über die Geschichte ihrer eigenen Familie wisse sie nur wenig, gesteht die Autorin. Das zumindest hat sie mit Hanna gemeinsam, die von westlichen Eltern adoptiert worden ist. Kim hat gegen einige Klischees anschreiben wollen, denen sie in der westlichen Lesart koreanischer Geschichte begegnet ist. "Wie ist Nordkorea zu dem geworden, was es heute ist?", hat sie sich gefragt. "Welche Version darf in den ostasiatischen Schulbüchern stehen?" Die Autorin, die auch für ihre politischen Essays bekannt ist, wollte das Thema nicht essayistisch verarbeiten, weil sie den Roman beim Changieren zwischen Wahrheit und Lüge für die ästhetisch flexiblere Form hält. Schon der Auftakt ihres Buchs klingt feingliedrig, elastisch, wenn sie die Musik zum Gesang von Billie Holiday wie leise Tierlaute beschreibt: "mauzend, trippelnd, tapsend".
Über die amerikanische Jazzsängerin hat Kim schon immer ein Buch schreiben wollen. "Ihre Liedtexte haben etwas Doppeldeutiges." Daher passt der Soundtrack des Romans gut zur undurchsichtigen Geschichte der beiden Koreas. Und zur Figur der Tänzerin Eve Moon, die der Politik wegen unter verschiedenen Namen unterwegs ist, ihre Identitäten wechselt und von den beiden Freunden Yunho und Johnny geliebt wird. Eves Tod in Amerika löst dem alten Yunho die Zunge. Was er zu erzählen hat, kann Kim im Literaturhaus nur andeuten. So viel aber kann sie klarmachen: Es lohnt sich, der Geschichte Koreas nachzuspüren.
CLAUDIA SCHÜLKE
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sabine Vogel hält Anna Kims Roman für wunderbare Literatur. Wie die Autorin die Heimkehr und die familiäre Spurensuche einer jungen Frau in Seoul inszeniert, mit viel Gespür für die Atmosphäre der Stadt, aber auch für die geschichtlichen Verwerfungen Koreas, hat Vogel beeindruckt. Die Bilder des Buches gehen ihr noch lange nach wie eine Melodie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Die österreichische Autorin Anna Kim hat einen raffinierten historischen Roman über den Kalten Krieg in Korea geschrieben ... « Ijoma Mangold DIE ZEIT 20170316