Spätestens seit sich die Folgen der Finanzkrise abzeichnen und die Migration in die Europäische Union zunimmt, sehen wir uns mit Entwicklungen konfrontiert, die viele für Phänomene einer längst vergangenen Epoche hielten: dem Aufstieg nationalistischer, teils antiliberaler Parteien wie dem Front National und der AfD, einer tiefgreifenden Krise der EU, einer Verrohung des öffentlichen Diskurses durch Demagogen wie Donald Trump, wachsendem Misstrauen gegenüber den etablierten Medien und einer Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen, die an dunkle Zeiten gemahnt. Politiker werden als »Vaterlandsverräter« verunglimpft, Muslime unter Generalverdacht gestellt, im Internet werden die krudesten Verschwörungstheorien propagiert.
In diesem Band untersuchen international renommierte Forscher und Intellektuelle die Ursachen dieser »Großen Regression«, verorten sie in einem historischen Kontext, erörtern Szenarien für die nächsten Jahre und diskutieren Strategien, mit denen wir diesen Entwicklungen entgegentreten können.
Mit Beiträgen von Arjun Appadurai, Zygmunt Bauman, Donatella della Porta, Nancy Fraser, Eva Illouz, Ivan Krastev, Bruno Latour, Paul Mason, Pankaj Mishra, Robert Misik, Oliver Nachtwey, César Rendueles, Wolfgang Streeck, David Van Reybrouck, Slavoj Zizek.
In diesem Band untersuchen international renommierte Forscher und Intellektuelle die Ursachen dieser »Großen Regression«, verorten sie in einem historischen Kontext, erörtern Szenarien für die nächsten Jahre und diskutieren Strategien, mit denen wir diesen Entwicklungen entgegentreten können.
Mit Beiträgen von Arjun Appadurai, Zygmunt Bauman, Donatella della Porta, Nancy Fraser, Eva Illouz, Ivan Krastev, Bruno Latour, Paul Mason, Pankaj Mishra, Robert Misik, Oliver Nachtwey, César Rendueles, Wolfgang Streeck, David Van Reybrouck, Slavoj Zizek.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2017Sieht so die nächste große Transformation aus?
Dokumente einer großen Ratlosigkeit: Ein Sammelband führt vor, was der Linken zur politischen Weltlage einfällt
Die aktuelle Weltlage lässt rechtschaffene Bürger ratlos zurück und erst recht jene, deren Herz links der Mitte schlägt. Der Erfolg populistischer Figuren, das Erstarken nationalistischer und protektionistischer Politik, die Etablierung semi-diktatorischer Regierungen in Teilen Europas und die allgemeine Angeschlagenheit der Demokratie im Zeitalter postfaktischen Zwitscherns sind Grund zur Beunruhigung. Trump, Le Pen, Erdogan, Orban, Kaczynski, Brexit - das ist nur ein Auszug aus dem Lexikon der Schreckbegriffe.
Heinrich Geiselberger hat als Lektor des Suhrkamp Verlags ein Buch über die große Ratlosigkeit herausgebracht, das international besetzt ist und gleichzeitig in mehreren Ländern erscheint. Namhafte Publizisten, Politologen, Philosophen und Soziologen bieten hier ihre Deutung der Entwicklung an. Da es sich um ein Buch über die große Ratlosigkeit handelt, ist es nicht überraschend, dass wenig schlechterdings neue Erkenntnisse geboten werden, sondern zunächst vieles, was auch in täglichen Leitartikeln zu lesen ist, angereichert um unkonventionellere und kontroversere Thesen, die man so noch nicht kennt. Das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten links der Mitte dürfte damit gut ausgelotet sein.
Häufiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, der Trend zum Populismus und zur neuen Einigelung sei getragen durch den Protest gegen die neoliberale Globalisierung und den Aufschrei der Globalisierungsverlierer, die unter Prekarisierung, wachsender Einkommensspreizung und den Folgen der globalen Finanzkrise leiden. Für linke Beobachter steckt darin das grundsätzliche Problem, dass das eine Alternative wie die zwischen Pest und Cholera ist: Sowohl Globalisierung und Neoliberalismus als auch Rechtspopulismus und Nationalismus sind prinzipiell Gegner und Schreckbild.
Es stellt sich dann die Aufgabe, eine Positionierung zu finden zwischen einem gewissen Verständnis für populistische Politik und ihre Anhänger einerseits und einer kritischen Beschreibung ihrer rückschrittlichen, antiliberalen Tendenzen andererseits. Auch stellt sich die Frage nach dem Versagen linker Politik: Warum schafft sie es nicht, die Situation für sich zu nutzen und ihre Politikentwürfe erfolgreich als Alternative anzubieten?
Man kann etwa sagen: In der gegenwärtigen Populismuswelle zeigt sich Demokratie von einer Seite, die als "Diktatur der Mehrheit" bezeichnet werden kann. Historisch sei Demokratie lange mit Pluralismus und Liberalismus verbunden gewesen und habe dazu beigetragen, diverse Minderheiten - ethnische, religiöse, sexuelle Minderheiten - mit Rechten und Stimme auszustatten. Es zeige sich nun, dass das keine notwendige Verbindung sei, dass Demokratie vielmehr auch ein Herrschafts- und Abwehrinstrument der Mehrheitsbevölkerung sein könne, die ihre Identität gegen als Bedrohung empfundene Minderheiten verteidige. In diesem Sinn seien "bedrohte Mehrheiten" derzeit die dominierende politische Kraft (Ivan Krastev).
Man muss dann auch die unbequeme Frage zulassen, warum, wenn die progressive Linke jahrzehntelang das Recht auf eigene Identität und intakte Lebensweise für alle möglichen Gruppen - etwa Indigene in Brasilien - verfochten hat, dasselbe Recht nicht auch dem deutschen, britischen oder ungarischen Spießbürger zukommen sollte. Oder man kann einen historischen Entwicklungsbogen im Jahr 1989 ansetzen, also mit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West. Mit der Durchsetzung der westlich-kapitalistischen Ordnung seien gehaltvolle politische Alternativen und Kämpfe verblasst und man müsse sich deshalb nicht wundern, wenn politische Kämpfe jetzt unter dem Banner von Identitätspolitik wieder aufleben (Ivan Krastev, Pankaj Mishra).
Den entfesselten Kapitalismus mit globalen Regulierungen einhegen
Manche Kommentatoren knüpfen an die Globalisierungsdebatte der neunziger Jahre an und sehen das Problem als Frage der relativen territorialen Reichweite politischer und wirtschaftlicher Ordnungen, kurz gesagt als die Frage, ob Märkte in Staaten oder Staaten in Märkte eingeschlossen sind. Man kann dann die globale Vision einer "zweiten großen Transformation" entwickeln, wie in Anlehnung an Karl Polanyi gesagt wird: In der ersten Transformation hatte sich die moderne kapitalistische Wirtschaft aus lokalen Kontrollen und Einhegungen herausgelöst und sich teils zu zerstörerischer Wucht entfaltet, wurde dann aber durch die Herausbildung des Sozialstaates auf nationalstaatlicher Ebene wieder eingefangen. In einer zweiten Welle wurde der Kapitalismus globalisiert, emanzipierte sich immer mehr vom regulierenden Zugriff des Nationalstaates und muss nun folglich auf globaler Ebene durch globale Regulierung wieder eingefangen werden (Arjun Appadurai, Donatella della Porta).
Man kann sich aber auch auf die Seite des nationalen Ordnungsrahmens schlagen und hier die Verkörperung politischer Gestaltungsmöglichkeiten sehen. Was andere "Populismus" nennen, ist dann die "Wiederentdeckung der Demokratie": Die Marginalisierten, die Underdogs, trauen sich endlich wieder, ihre Stimme zu erheben, politische Apathie und Wahlenthaltung hinter sich zu lassen, offen für ihre Interessen zu sprechen und den Verfechtern neoliberaler Globalisierung und Gesellschaftsverwüstung die Stirn zu bieten.
Was dem Durchschnittsbeobachter als populistischer Rückgriff auf billige Parolen und als Versprechen unterkomplexer Lösungen für komplexe Probleme erscheint, ist dann einfach die Stimme derer, die sich nicht vom Tina-Talk ("There Is No Alternative") unaufhaltsamer Globalisierung und unentrinnbarer ökonomischer Sachzwänge einschüchtern und einlullen lassen (Wolfgang Streeck).
Es finden sich auch einige fast verschwörungstheoretisch anmutende Diagnosen. So wird der globale Durchmarsch des Neoliberalismus auf ein perfides Bündnis von liberal-emanzipatorisch-progressiven Kräften, wie Feministen und kosmopolitischen Kultureliten, mit Vertretern des globalen Finanzkapitalismus zurückgeführt - ein Bündnis, das in der Person von Hillary Clinton perfekt verkörpert sei (Nancy Fraser). Oder es wird das Agieren "obskurantistischer Eliten" auf der reichen Nordhälfte des Planeten ausgemacht, die beschließen, dass, wenn das Schiff schon sinkt und der Planet Erde infolge des Klimawandels dem Untergang entgegengeht, nicht sie selbst, sondern andere als Erste ertrinken sollen (Bruno Latour).
Das Risiko, das Martin Schulz mit seiner Strategie eingeht
Andere beschreiben das Schrumpfen der alten, industriebasierten Arbeiterschaft und seine politische Folge, den Niedergang der klassischen Arbeiterparteien (Paul Mason, Robert Misik). Hier wird eine schonungslose Analyse und düstere Zukunftsprognose sozialdemokratischer Parteien angeboten. Deren Wählerpotential bestehe heute zu etwa gleich großen Teilen aus eigentlich inkompatiblen Gruppen: aus dem modernen, urbanen, gebildeten, "kulturlinken" Milieu einerseits, wo man sich für Ökologiefragen, Gender- und Lifestyle-Pluralismus interessiert, und aus Teilen der alten Arbeiterklasse andererseits, die durch Globalisierung, Digitalisierung, Arbeitsplatz- und Sozialabbau bedroht sei und ihre alte Existenzform zu verteidigen suche.
Diese beiden Gruppen seien auf absehbare Zeit nicht mehr zusammenzubringen. Der Versuch von Sozialdemokraten vom Schlage eines Martin Schulz oder Jeremy Corbyn, die alten Motti von sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung wiederzubeleben, trage das Risiko in sich, die erste Wählergruppe zu verprellen, ohne die zweite effektiv zurückgewinnen zu können.
Das Spektrum der Deutungen reicht noch weiter und bis ins Psychologische hinein. So wird etwa Donald Trump als Verkörperung einer mangelnden Affektkontrolle und insofern eines Entzivilisierungstrends im Sinn Norbert Elias' beschrieben (Oliver Nachtwey). Oder es wird die Frage aufgeworfen, ob dem Menschen eine natürliche Neigung zur Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit innewohnt - eine elementare Neigung, das Bekannte und Vertraute gegenüber dem Unbekannten und Unvertrauten zu bevorzugen, einfach weil es weniger Anstrengung kostet.
Soweit diese Neigung elementar und vorideologisch ist, kann sie durch äußere Bedingungen wie wirtschaftliche und politische Unsicherheit nur verstärkt, nicht aber erzeugt werden (Zygmunt Bauman). Verstärkt wird sie möglicherweise nicht nur durch akute Problemlagen wie Wirtschaftskrisen oder Migrationswellen, sondern auch durch die Gewöhnung an das Prinzip des Marktes und das Internet, die beide die freie Wahl von spontan gefallenden Alternativen, das hemmungslose Ausleben eigener Vorlieben zum Prinzip machen (Ivan Krastev).
Die Ordnung von Argumenten muss sich der Leser selbst schaffen, da die Ordnung des Buches dem Zufall der alphabetischen Namensreihung folgt. Was den Schreibstil angeht, ist alles zu finden von normativer Aufladung und offenem Engagement bis zu analytischer Distanz und nüchterner Beobachtung. Dabei korreliert der Charakter der Beiträge nicht unbedingt mit der institutionellen Stellung des Autors als akademischen Wissenschaftlers oder als Publizist und politischen Schreibers. Die Dissoziation zwischen dem Schlagen des eigenen politischen Herzens und den Fragen des eigenen analytischen Verstandes scheint in Zeitungen und Thinktanks mindestens ebenso gut zu gelingen wie an Universitäten.
BARBARA KUCHLER
Heinrich Geiselberger (Hrsg.): "Die große
Regression". Eine internationale Debatte über die
geistige Situation der Zeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 319 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dokumente einer großen Ratlosigkeit: Ein Sammelband führt vor, was der Linken zur politischen Weltlage einfällt
Die aktuelle Weltlage lässt rechtschaffene Bürger ratlos zurück und erst recht jene, deren Herz links der Mitte schlägt. Der Erfolg populistischer Figuren, das Erstarken nationalistischer und protektionistischer Politik, die Etablierung semi-diktatorischer Regierungen in Teilen Europas und die allgemeine Angeschlagenheit der Demokratie im Zeitalter postfaktischen Zwitscherns sind Grund zur Beunruhigung. Trump, Le Pen, Erdogan, Orban, Kaczynski, Brexit - das ist nur ein Auszug aus dem Lexikon der Schreckbegriffe.
Heinrich Geiselberger hat als Lektor des Suhrkamp Verlags ein Buch über die große Ratlosigkeit herausgebracht, das international besetzt ist und gleichzeitig in mehreren Ländern erscheint. Namhafte Publizisten, Politologen, Philosophen und Soziologen bieten hier ihre Deutung der Entwicklung an. Da es sich um ein Buch über die große Ratlosigkeit handelt, ist es nicht überraschend, dass wenig schlechterdings neue Erkenntnisse geboten werden, sondern zunächst vieles, was auch in täglichen Leitartikeln zu lesen ist, angereichert um unkonventionellere und kontroversere Thesen, die man so noch nicht kennt. Das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten links der Mitte dürfte damit gut ausgelotet sein.
Häufiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, der Trend zum Populismus und zur neuen Einigelung sei getragen durch den Protest gegen die neoliberale Globalisierung und den Aufschrei der Globalisierungsverlierer, die unter Prekarisierung, wachsender Einkommensspreizung und den Folgen der globalen Finanzkrise leiden. Für linke Beobachter steckt darin das grundsätzliche Problem, dass das eine Alternative wie die zwischen Pest und Cholera ist: Sowohl Globalisierung und Neoliberalismus als auch Rechtspopulismus und Nationalismus sind prinzipiell Gegner und Schreckbild.
Es stellt sich dann die Aufgabe, eine Positionierung zu finden zwischen einem gewissen Verständnis für populistische Politik und ihre Anhänger einerseits und einer kritischen Beschreibung ihrer rückschrittlichen, antiliberalen Tendenzen andererseits. Auch stellt sich die Frage nach dem Versagen linker Politik: Warum schafft sie es nicht, die Situation für sich zu nutzen und ihre Politikentwürfe erfolgreich als Alternative anzubieten?
Man kann etwa sagen: In der gegenwärtigen Populismuswelle zeigt sich Demokratie von einer Seite, die als "Diktatur der Mehrheit" bezeichnet werden kann. Historisch sei Demokratie lange mit Pluralismus und Liberalismus verbunden gewesen und habe dazu beigetragen, diverse Minderheiten - ethnische, religiöse, sexuelle Minderheiten - mit Rechten und Stimme auszustatten. Es zeige sich nun, dass das keine notwendige Verbindung sei, dass Demokratie vielmehr auch ein Herrschafts- und Abwehrinstrument der Mehrheitsbevölkerung sein könne, die ihre Identität gegen als Bedrohung empfundene Minderheiten verteidige. In diesem Sinn seien "bedrohte Mehrheiten" derzeit die dominierende politische Kraft (Ivan Krastev).
Man muss dann auch die unbequeme Frage zulassen, warum, wenn die progressive Linke jahrzehntelang das Recht auf eigene Identität und intakte Lebensweise für alle möglichen Gruppen - etwa Indigene in Brasilien - verfochten hat, dasselbe Recht nicht auch dem deutschen, britischen oder ungarischen Spießbürger zukommen sollte. Oder man kann einen historischen Entwicklungsbogen im Jahr 1989 ansetzen, also mit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West. Mit der Durchsetzung der westlich-kapitalistischen Ordnung seien gehaltvolle politische Alternativen und Kämpfe verblasst und man müsse sich deshalb nicht wundern, wenn politische Kämpfe jetzt unter dem Banner von Identitätspolitik wieder aufleben (Ivan Krastev, Pankaj Mishra).
Den entfesselten Kapitalismus mit globalen Regulierungen einhegen
Manche Kommentatoren knüpfen an die Globalisierungsdebatte der neunziger Jahre an und sehen das Problem als Frage der relativen territorialen Reichweite politischer und wirtschaftlicher Ordnungen, kurz gesagt als die Frage, ob Märkte in Staaten oder Staaten in Märkte eingeschlossen sind. Man kann dann die globale Vision einer "zweiten großen Transformation" entwickeln, wie in Anlehnung an Karl Polanyi gesagt wird: In der ersten Transformation hatte sich die moderne kapitalistische Wirtschaft aus lokalen Kontrollen und Einhegungen herausgelöst und sich teils zu zerstörerischer Wucht entfaltet, wurde dann aber durch die Herausbildung des Sozialstaates auf nationalstaatlicher Ebene wieder eingefangen. In einer zweiten Welle wurde der Kapitalismus globalisiert, emanzipierte sich immer mehr vom regulierenden Zugriff des Nationalstaates und muss nun folglich auf globaler Ebene durch globale Regulierung wieder eingefangen werden (Arjun Appadurai, Donatella della Porta).
Man kann sich aber auch auf die Seite des nationalen Ordnungsrahmens schlagen und hier die Verkörperung politischer Gestaltungsmöglichkeiten sehen. Was andere "Populismus" nennen, ist dann die "Wiederentdeckung der Demokratie": Die Marginalisierten, die Underdogs, trauen sich endlich wieder, ihre Stimme zu erheben, politische Apathie und Wahlenthaltung hinter sich zu lassen, offen für ihre Interessen zu sprechen und den Verfechtern neoliberaler Globalisierung und Gesellschaftsverwüstung die Stirn zu bieten.
Was dem Durchschnittsbeobachter als populistischer Rückgriff auf billige Parolen und als Versprechen unterkomplexer Lösungen für komplexe Probleme erscheint, ist dann einfach die Stimme derer, die sich nicht vom Tina-Talk ("There Is No Alternative") unaufhaltsamer Globalisierung und unentrinnbarer ökonomischer Sachzwänge einschüchtern und einlullen lassen (Wolfgang Streeck).
Es finden sich auch einige fast verschwörungstheoretisch anmutende Diagnosen. So wird der globale Durchmarsch des Neoliberalismus auf ein perfides Bündnis von liberal-emanzipatorisch-progressiven Kräften, wie Feministen und kosmopolitischen Kultureliten, mit Vertretern des globalen Finanzkapitalismus zurückgeführt - ein Bündnis, das in der Person von Hillary Clinton perfekt verkörpert sei (Nancy Fraser). Oder es wird das Agieren "obskurantistischer Eliten" auf der reichen Nordhälfte des Planeten ausgemacht, die beschließen, dass, wenn das Schiff schon sinkt und der Planet Erde infolge des Klimawandels dem Untergang entgegengeht, nicht sie selbst, sondern andere als Erste ertrinken sollen (Bruno Latour).
Das Risiko, das Martin Schulz mit seiner Strategie eingeht
Andere beschreiben das Schrumpfen der alten, industriebasierten Arbeiterschaft und seine politische Folge, den Niedergang der klassischen Arbeiterparteien (Paul Mason, Robert Misik). Hier wird eine schonungslose Analyse und düstere Zukunftsprognose sozialdemokratischer Parteien angeboten. Deren Wählerpotential bestehe heute zu etwa gleich großen Teilen aus eigentlich inkompatiblen Gruppen: aus dem modernen, urbanen, gebildeten, "kulturlinken" Milieu einerseits, wo man sich für Ökologiefragen, Gender- und Lifestyle-Pluralismus interessiert, und aus Teilen der alten Arbeiterklasse andererseits, die durch Globalisierung, Digitalisierung, Arbeitsplatz- und Sozialabbau bedroht sei und ihre alte Existenzform zu verteidigen suche.
Diese beiden Gruppen seien auf absehbare Zeit nicht mehr zusammenzubringen. Der Versuch von Sozialdemokraten vom Schlage eines Martin Schulz oder Jeremy Corbyn, die alten Motti von sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung wiederzubeleben, trage das Risiko in sich, die erste Wählergruppe zu verprellen, ohne die zweite effektiv zurückgewinnen zu können.
Das Spektrum der Deutungen reicht noch weiter und bis ins Psychologische hinein. So wird etwa Donald Trump als Verkörperung einer mangelnden Affektkontrolle und insofern eines Entzivilisierungstrends im Sinn Norbert Elias' beschrieben (Oliver Nachtwey). Oder es wird die Frage aufgeworfen, ob dem Menschen eine natürliche Neigung zur Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit innewohnt - eine elementare Neigung, das Bekannte und Vertraute gegenüber dem Unbekannten und Unvertrauten zu bevorzugen, einfach weil es weniger Anstrengung kostet.
Soweit diese Neigung elementar und vorideologisch ist, kann sie durch äußere Bedingungen wie wirtschaftliche und politische Unsicherheit nur verstärkt, nicht aber erzeugt werden (Zygmunt Bauman). Verstärkt wird sie möglicherweise nicht nur durch akute Problemlagen wie Wirtschaftskrisen oder Migrationswellen, sondern auch durch die Gewöhnung an das Prinzip des Marktes und das Internet, die beide die freie Wahl von spontan gefallenden Alternativen, das hemmungslose Ausleben eigener Vorlieben zum Prinzip machen (Ivan Krastev).
Die Ordnung von Argumenten muss sich der Leser selbst schaffen, da die Ordnung des Buches dem Zufall der alphabetischen Namensreihung folgt. Was den Schreibstil angeht, ist alles zu finden von normativer Aufladung und offenem Engagement bis zu analytischer Distanz und nüchterner Beobachtung. Dabei korreliert der Charakter der Beiträge nicht unbedingt mit der institutionellen Stellung des Autors als akademischen Wissenschaftlers oder als Publizist und politischen Schreibers. Die Dissoziation zwischen dem Schlagen des eigenen politischen Herzens und den Fragen des eigenen analytischen Verstandes scheint in Zeitungen und Thinktanks mindestens ebenso gut zu gelingen wie an Universitäten.
BARBARA KUCHLER
Heinrich Geiselberger (Hrsg.): "Die große
Regression". Eine internationale Debatte über die
geistige Situation der Zeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 319 S., br., 18,- [Euro].
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» ... eine aktuelle und exzellente Anthologie.« Caroline Fetscher Der Tagesspiegel 20170514