Peter Rosei ist immer in Bewegung gewesen, geleitet von einer unerschöpflichen Neugierde auf Landschaften und Städte, auf Menschen und ihre Geschichten. "Die große Straße" versammelt erstmals seine Aufzeichnungen aus fünf Jahrzehnten und drei Kontinenten. Wir lernen Peter Rosei als Reisenden kennen, der nicht nur scharf beobachtet und viel weiß, sondern sich auch durchlässig macht für Eindrücke und Bilder, für Gerüche und Klänge, der sich dem Fremden geduldig annähert und ihm dennoch seine Faszination belässt. Von Peking nach Los Alamos, von Seoul nach Moskau, von Paris über Bratislava nach Texas und Istanbul führt uns dieses wunderbar labyrinthische Buch, das erfüllt ist von der Dankbarkeit des Autors für die Buntheit der Welt und die Vielfalt des menschlichen (Über)lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2021Die Suche nach der Kindheit
"Meine Neigung führt mich immer an die Ränder hinaus." Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei hat seine diversen Welteckenerkundungen, Kiez- und Vorstadtskizzen aus Asien, Amerika und Europa, die zuerst meist in diversen Feuilletons erschienen, zu einer "Lebensgeschichte, in Form eines Logbuchs" gebündelt. An Tokio fasziniert ihn die "Verbindung von Dörflichkeit und Metropolis", Hightech und "mittelalterlicher Selbstgenügsamkeit" der Handwerksbetriebe als grenzenlose Urbanwüste mit Lebenskernen: "Eine Art Myzel, eine Milchstraße oder Korallenbank aus vielen kleineren Städten." Immer wieder sucht er nach dem verlorenen lokalen "Faden oder Flicken im globalen Geflecht". In Detroit habe jede Schicht und Einkommensklasse ihre eigene Vorstadt, wobei Amerikas segregierte Träume und Stadträume nur "durch die Interdependenz ihrer Bewohner im großen ökonomischen Prozess" verbunden sind. In Paris betören und verstören ihn die "unheimliche Verdichtung des Lebens" und die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebensformen und Quartiers, wobei die dichterischen "Texte, die sich im Lauf der Zeit über die Stadt gelegt haben", als touristische Illusion die "eigentliche Stadt" seien. In Istanbul erkundet er den Basar als Sinnesraum und globalen konsumistischen "Termitenbau". Die zwischen 1972 und 2018 entstandenen Essays zeigen große stilistische Bandbreite: vom frühen, mit aufrührerischer Verve verfassten Peking-Porträt oder halluzinogen-flirrenden Amsterdam-Text voller Melancholie über die bloß geträumte Revolte über Aufsätze, in denen die Aura der Stadt wie das Kanalsystem Venedigs philosophisches Dekor für Gedanken über die "Relativität des Subjekts" wird, bis hin zu Gratwanderungen in den Alpen, in deren "roher, gewalttätiger Leere" er Seelenabgründen gewahr wird. Leitmotiv allen Reisens und Schreibens ist Roseis Suche nach der verlorenen Kindheit und einer marginalen Weltvergessenheit: "Ich bin nicht auf der Suche nach mir selbst. Ich suche das Andere, das Fremde - weil ich dort auch bin."
sg
"Die große Straße. Reiseaufzeichnungen" von Peter Rosei. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 256 Seiten. Gebunden, 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Meine Neigung führt mich immer an die Ränder hinaus." Der österreichische Schriftsteller Peter Rosei hat seine diversen Welteckenerkundungen, Kiez- und Vorstadtskizzen aus Asien, Amerika und Europa, die zuerst meist in diversen Feuilletons erschienen, zu einer "Lebensgeschichte, in Form eines Logbuchs" gebündelt. An Tokio fasziniert ihn die "Verbindung von Dörflichkeit und Metropolis", Hightech und "mittelalterlicher Selbstgenügsamkeit" der Handwerksbetriebe als grenzenlose Urbanwüste mit Lebenskernen: "Eine Art Myzel, eine Milchstraße oder Korallenbank aus vielen kleineren Städten." Immer wieder sucht er nach dem verlorenen lokalen "Faden oder Flicken im globalen Geflecht". In Detroit habe jede Schicht und Einkommensklasse ihre eigene Vorstadt, wobei Amerikas segregierte Träume und Stadträume nur "durch die Interdependenz ihrer Bewohner im großen ökonomischen Prozess" verbunden sind. In Paris betören und verstören ihn die "unheimliche Verdichtung des Lebens" und die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebensformen und Quartiers, wobei die dichterischen "Texte, die sich im Lauf der Zeit über die Stadt gelegt haben", als touristische Illusion die "eigentliche Stadt" seien. In Istanbul erkundet er den Basar als Sinnesraum und globalen konsumistischen "Termitenbau". Die zwischen 1972 und 2018 entstandenen Essays zeigen große stilistische Bandbreite: vom frühen, mit aufrührerischer Verve verfassten Peking-Porträt oder halluzinogen-flirrenden Amsterdam-Text voller Melancholie über die bloß geträumte Revolte über Aufsätze, in denen die Aura der Stadt wie das Kanalsystem Venedigs philosophisches Dekor für Gedanken über die "Relativität des Subjekts" wird, bis hin zu Gratwanderungen in den Alpen, in deren "roher, gewalttätiger Leere" er Seelenabgründen gewahr wird. Leitmotiv allen Reisens und Schreibens ist Roseis Suche nach der verlorenen Kindheit und einer marginalen Weltvergessenheit: "Ich bin nicht auf der Suche nach mir selbst. Ich suche das Andere, das Fremde - weil ich dort auch bin."
sg
"Die große Straße. Reiseaufzeichnungen" von Peter Rosei. Residenz Verlag, Salzburg 2020. 256 Seiten. Gebunden, 22 Euro.
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