»Schlaft nicht! Die großen Brände sind vorüber, noch größere stehen uns bevor.«
Schmetterlinge, Brände und Explosionen, Verkleidungen und Doppelgänger, Entführungen und Morde, Fenstersprünge, ein Irrenhaus und vieles mehr: »Dem Leser schwirrt der Kopf«, schrieb Alexej Tolstoi, einer der Autoren dieses köstlichen Kollektivromans, der mit einer unheimlichen Brandmetapher endet.
Es ist ein literarisch-sowjetisches Kabinettstück von 25 Autoren (vierundzwanzig Autoren und einer Autorin) aus der Zeit der russischen Moderne, dazu gehören Isaak Babel, Michail Sostschenko und drei weitere Autoren der »Serapionsbrüder« aus Petrograd. Die großen Brände erschien 1927 in der Zeitschrift »Ogonjok«, verbreitet in einer Auflage von fast einer halben Million Exemplaren. Die grelle und spannende Geschichte um geheimnisvolle Brände vereinte Autoren aus völlig unterschiedlichen politischen Richtungen, sie war ein Experiment.
Die Autorenphantasie, angeführt von Alexander Grin im ersten Kapitel, entflammte an selbstentzündlichen brandstiftenden Schmetterlingen: »Der Schmetterling hatte grellgelbe Flügel mit blauem Rand, samtig wie jene tropischen Exemplare.«
Tag für Tag brennt es in Slatogorsk - ein Wohnheim, das Gerichtsarchiv, ein Tanker im Hafen, schließlich explodiert der städtische Pulverturm. Die erfundene Provinzstadt im sowjetischen Süden am Meer wird zum »Brennpunkt des Weltgeschehens«. Schmetterlingsund Brandgeschichten, von einem Autor zum nächsten Autor weitergereicht, entfachen ein phantastisch kriminalistisches Verwirrspiel, es wird zu Zeitsatire und Parodie.
Ilja Ehrenburg mit seinem Bewegten Leben des Lasik Roitschwantz (Band 375) oder Ilf und Petrow mit ihrem schelmischen Goldenen Kalb (Band 340) und Kolokolamsk (Band 371) grüßen aus der Nähe. Leitsterne dieses Gemeinschaftswerks, voller ironischer Selbstkommentare und postmodernem Spiel, sind Nikolaj Gogol und E.T.A. Hoffmann.
Es wimmelt von wunderlichen Genossen aus dem sowjetischen Milieu im Umfeld der Neuen Ökonomischen Politik jener Tage: Da ist Berloga, Zeitungsreporter von Rotes Slatogorje, immer mehr rückt der Kommissar Kukerow in den Vordergrund, ein Mann mit Gummimantel und Riss am Ohr hastet vorbei, skurril sind Ganoven wie »Petka das As« oder »RosinenMischka« - und ein großes Geheimnis umgibt den greisen Konzessionär Mister Struk in seiner futuristischen Villa, der einen Wolkenkratzer bauen möchte und eine Konzession aus Moskau braucht.
»So, ihr seid also unzufrieden, verehrte Bürger und Genossen? Man hat euch in Unruhe versetzt? Hat euch aus eurer Ruhe aufgeschreckt? ... Wer tut das? Verantwortungslose Schreiberlinge, sowjetische Literaten, alle möglichen Babels und Libedinskis drohen euch mit Mordanschlägen, ausländischer Terrortechnik und ähnlichem Quatsch? In der Tat, lohnt es sich denn, seine Zeit mit Gesprächen über Explosionen und Brände zu vergeuden, wo ihr doch echte Sorgen habt - die Möbel, die Steuern, die Reisen zur Kur! Doch wenn ihr den literarischen Phantasten nicht glauben wollt, wenn euch die aufrichtige Besorgnis dieser stets unruhigen und hellhörigen Menschen nicht wachrütteln kann, dann mögen euch jetzt die Zeitungen mit dem Holzhammer auf den Kopf schlagen!«
Schmetterlinge, Brände und Explosionen, Verkleidungen und Doppelgänger, Entführungen und Morde, Fenstersprünge, ein Irrenhaus und vieles mehr: »Dem Leser schwirrt der Kopf«, schrieb Alexej Tolstoi, einer der Autoren dieses köstlichen Kollektivromans, der mit einer unheimlichen Brandmetapher endet.
Es ist ein literarisch-sowjetisches Kabinettstück von 25 Autoren (vierundzwanzig Autoren und einer Autorin) aus der Zeit der russischen Moderne, dazu gehören Isaak Babel, Michail Sostschenko und drei weitere Autoren der »Serapionsbrüder« aus Petrograd. Die großen Brände erschien 1927 in der Zeitschrift »Ogonjok«, verbreitet in einer Auflage von fast einer halben Million Exemplaren. Die grelle und spannende Geschichte um geheimnisvolle Brände vereinte Autoren aus völlig unterschiedlichen politischen Richtungen, sie war ein Experiment.
Die Autorenphantasie, angeführt von Alexander Grin im ersten Kapitel, entflammte an selbstentzündlichen brandstiftenden Schmetterlingen: »Der Schmetterling hatte grellgelbe Flügel mit blauem Rand, samtig wie jene tropischen Exemplare.«
Tag für Tag brennt es in Slatogorsk - ein Wohnheim, das Gerichtsarchiv, ein Tanker im Hafen, schließlich explodiert der städtische Pulverturm. Die erfundene Provinzstadt im sowjetischen Süden am Meer wird zum »Brennpunkt des Weltgeschehens«. Schmetterlingsund Brandgeschichten, von einem Autor zum nächsten Autor weitergereicht, entfachen ein phantastisch kriminalistisches Verwirrspiel, es wird zu Zeitsatire und Parodie.
Ilja Ehrenburg mit seinem Bewegten Leben des Lasik Roitschwantz (Band 375) oder Ilf und Petrow mit ihrem schelmischen Goldenen Kalb (Band 340) und Kolokolamsk (Band 371) grüßen aus der Nähe. Leitsterne dieses Gemeinschaftswerks, voller ironischer Selbstkommentare und postmodernem Spiel, sind Nikolaj Gogol und E.T.A. Hoffmann.
Es wimmelt von wunderlichen Genossen aus dem sowjetischen Milieu im Umfeld der Neuen Ökonomischen Politik jener Tage: Da ist Berloga, Zeitungsreporter von Rotes Slatogorje, immer mehr rückt der Kommissar Kukerow in den Vordergrund, ein Mann mit Gummimantel und Riss am Ohr hastet vorbei, skurril sind Ganoven wie »Petka das As« oder »RosinenMischka« - und ein großes Geheimnis umgibt den greisen Konzessionär Mister Struk in seiner futuristischen Villa, der einen Wolkenkratzer bauen möchte und eine Konzession aus Moskau braucht.
»So, ihr seid also unzufrieden, verehrte Bürger und Genossen? Man hat euch in Unruhe versetzt? Hat euch aus eurer Ruhe aufgeschreckt? ... Wer tut das? Verantwortungslose Schreiberlinge, sowjetische Literaten, alle möglichen Babels und Libedinskis drohen euch mit Mordanschlägen, ausländischer Terrortechnik und ähnlichem Quatsch? In der Tat, lohnt es sich denn, seine Zeit mit Gesprächen über Explosionen und Brände zu vergeuden, wo ihr doch echte Sorgen habt - die Möbel, die Steuern, die Reisen zur Kur! Doch wenn ihr den literarischen Phantasten nicht glauben wollt, wenn euch die aufrichtige Besorgnis dieser stets unruhigen und hellhörigen Menschen nicht wachrütteln kann, dann mögen euch jetzt die Zeitungen mit dem Holzhammer auf den Kopf schlagen!«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schon Jahre bevor Vladimir Nabokov sie in "Die Gabe" verewigte, spielten Schmetterlinge in einem russischen Roman eine nicht unwichtige Rolle. Rezensentin Marta Kijowska ist entzückt über "Die großen Brände", die im Original vor mehr als 90 Jahren erschienen - und von fünfundzwanzig russischen Autoren verfasst wurden. Ort der Handlung ist die fiktive Stadt Slatogorsk, in der Feuerteufel ihr Unwesen zu treiben scheinen. Weil die Autoren schalten und walten konnten, wie sie wollten, ist das Figurentableau reichlich unübersichtlich. Aber was keine geringeren als Isaak Babel, Michail Sostschenko oder Ilja Ehrenburg bei diesem avantgardistischen Schreibprojekt für Phantasie und (Sprach-)Witz in allen möglichen Genres an den Tag legten, findet Kijowska großartig. Dass Die Andere Bibliothek die 1997 erstmals erschienene Übersetzung neu auflegt, ist für die Rezensentin ein ganz großer Coup.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2022Eine Stadt steht in Flammen
"Die großen Brände" sind wieder da: Zu lesen ist ein bravouröser Kollektivroman aus dem Russland der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts.
Der Schmetterling hatte grellgelbe Flügel mit blauem Rand und war samtig wie jene tropischen Exemplare, die man aus dem Museum kennt." Für die beiden Freunde, Migunow und Berloga - der eine ist Gerichtsarchivar, der andere Reporter - ist das Betrachten des seltenen Insekts nur ein kurzes Intermezzo bei einer viel wichtigeren Beschäftigung: dem Suchen nach einer Akte, aus der hervorgehen soll, dass das, was ihre Stadt seit einiger Zeit erlebt, nämlich eine Serie von geheimnisvollen Bränden, es auch schon zwanzig Jahre zuvor, "sozusagen in den finsteren Zeiten des Zarismus", gegeben hat. Als sie das Archiv verlassen wollen, bricht plötzlich ein Feuer aus, das sich "aus den Tiefen der Schränke über die Zeitungsstöße" ausbreitet und zu rauchen beginnt "wie ein Ofenrohr".
So beginnt die Handlung dieses unge-wöhnlichen Romans, die 1920 in der fiktiven Hafenstadt Slatogorsk spielt und ihre erste Wendung Alexander Grin verdankt, einem polnischstämmigen, auf phantastische Prosa spezialisierten Außenseiter der frühsowjetischen Literatur. Die erste, denn das Ungewöhnliche an dem Roman besteht vor allem darin, dass er nicht von einem, sondern von 25 Autoren verfasst wurde. Jeder von ihnen hatte die Aufgabe, ein Kapitel zu schreiben und sich dabei an das vorgegebene Thema - die geheimnisvollen Brände in Slatogorsk - zu halten; der Rest blieb ihrer Phantasie überlassen. Und da diese offensichtlich keine Grenzen kannte, lässt sich das weitere Geschehen nur mit Mühe zusammen-fassen. Spätestens nach zehn Kapiteln gibt es nämlich so viele Figuren, zu de-nen neben ehrbaren "Bürgern" und "Genossen" auch zwielichtige Gestalten aus der lokalen Unterwelt wie Rosinen-Mischka, Petka das As oder Seufzer-Lenka gehören und deren Agieren sich auf höchst komplizierte Weise überschneidet, so viele Ereignisse, die verschiedene Interpretationen zulassen, dass sogar mancher Verfasser den Faden verliert. "Du lieber Gott, was haben die sechzehn Autoren nicht alles angerichtet! Dem Leser schwirrt der Kopf", seufzt Alexej Tolstoi zu Beginn seines, des siebzehnten Kapitels, um sich gleich daranzumachen, das Einführen einiger seines Erachtens überflüssiger Personen zu kritisieren oder zumindest nach deren Rolle zu fragen.
Er selbst widmet sich in seinem Kapitel lieber den Schmetterlingen, deren Bedeutung niemand infrage stellen kann. Denn was immer in dieser immer verrückteren Geschichte passiert, Brände, Morde, Explosionen, Entführungen, Verkleidungen, Fenstersprünge, eines bleibt konstant: Überall, wo Feuer aus-bricht - und nach dem Gerichtsarchiv brennt so ziemlich alles, was brennen kann: eine Irrenanstalt, in die Migunow, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, zu sich kommt, ein Wohnheim der Zeitung "Rotes Slatogorje", bei dem Berloga arbeitet, eine Gefängniszelle, in der Seufzer-Lenka einsitzt, ein Tanker, der im Hafen vor Anker liegt, und manches mehr -, werden Schmetterlinge gesichtet.
Und gleichzeitig mehren sich die Gründe, einen oder mehrere Brandstifter zu vermuten, zumal es unter den Stadtbewohnern Menschen gibt, von denen niemand so recht weiß, was sie hierher verschlagen hat und womit sie sich beschäftigen. Allen voran der steinreiche polnische Konzessionär Struck, um dessen Vermögen, aktuelle Geschäfte, gigantische Villa und schöne Enkelin Elita - die sich als die von ihm engagierte Schauspielerin Dina Kamenezkaja entpuppt - zahlreiche Gerüchte kursieren. Als wäre die Situation nicht unübersichtlich genug, verwandelt sich Slatogorsk "dank seiner Kollektion von Bränden aus einem farblosen Provinznest in einen Brennpunkt des Weltgeschehens", was die Moskauer Behörden auf den Plan ruft. Doch das macht die Sache nicht unbedingt besser, denn der Ermittler aus Moskau, ein Ingenieur namens Kukowerow, scheint auch ein doppeltes Spiel zu spielen, indem er einerseits mit der Polizei zusammenarbeitet und andererseits sich als Berater des Millionärs Struck ausgibt - bis sich herausstellt, dass er einen Doppelgänger hat, der zu allem Übel bald ums Leben kommt.
Und die Schmetterlinge? Stimmt es, was über den Lehrer Kukoverov behauptet wird, bei dem die Polizei eine kleine Kiste mit Schmetterlingslarven gefunden hat? Dass laut einer Laboranalyse die Insekten eine chemische Substanz verbreiten, die sich zersetzt und "die Entzündung des Wasserstoffs in der Luft" hervorruft? Wie dem auch sei: Erst dem Erfinder Gelatinow gelingt es, mit seinen speziellen Feuerlöschern die Brände unter Kontrolle zu bringen, was allerdings "ein sonderbares Phänomen" zur Folge hat: Es bricht "jene Langeweile an, die der Mensch insgeheim empfindet, wenn ein aufregendes Ereignis plötzlich von Ruhe und Ordnung abgelöst wird". Für Letztere sorgt eine Moskauer Kommission, die kurzerhand auch den Roman "Die großen Brände" liquidiert, also "die Einwohnerschaft der Stadt Slatogorsk" für "entlassen" und den Ort für "abgeschafft" erklärt.
Das Buch erschien von Dezember 1926 bis Februar 1927 in der Wochenzeitschrift "Ogonjok", was angeblich ihrem Chefredakteur, Michail Kolzow, (und dem Verfasser des letzten Kapitels) zu verdanken war. Doch von wem auch immer dieses literarische Experiment initiiert wurde, gelungen ist es allemal. Allein die Tatsache, dass sich 25 Autoren mit so unterschiedlichen Stilen und Temperamenten wie Isaak Babel, Michail Sostschenko, Alexej Tolstoi oder Weniamin Kawerin zusammentaten, um gemeinsam einen Roman zu schreiben und dabei sichtlich Spaß am Absurden und Phantastischen, an Satire und Parodie, an Kolportage und Slapstick-Komik, an Anspielungen und Metaphern, an ironischen Selbstkommentaren und witzigen Wortspielen zu haben, macht das Buch zu einem literarischen Ereignis. So wird es auch für den Leser schnell zweitrangig, ob er den vielen Handlungswendungen noch halbwegs folgen kann - viel spannender ist es, zuzuschauen, mit welcher Bravour jeder dieser Schriftsteller den literarischen Staffelstab weitergibt und mit welchem Genuss sie sich dabei alle austoben, vor allem wenn man bedenkt, dass bald danach (1932) die eisernen Regeln des Sozialistischen Realismus zu gelten begannen.
Die erste deutsche Ausgabe des Romans, der dank der gekonnten Übersetzung von Rosemarie Tietze seine Stilvielfalt und seinen Witz beibehalten hat, erschien 1982 im Ullstein Verlag. Nun, vierzig Jahre später, liegt er in der "Anderen Bibliothek" vor. Wir würden, schreibt ihr Herausgeber Christian Döring in seinem Editorial des aktuellen Programms, "den Beginn eines Krieges auf dem europäischen Kontinent" erleben, "den wir uns nicht vorstellen konnten oder wollten". Und gleichzeitig greift er die letzten Sätze des Romans auf: "Schlaft nicht! Die großen Brände sind vorüber, noch größere stehen uns bevor", indem er versichert, sie seien "kein Kommentar zu unserer Zeit", son-dern lediglich der Schlusssatz dieses rasanten Kollektivromans. Ob er dies allerdings auch heute, angesichts des immer noch andauernden Krieges und der weiteren, anderswo entflammenden Konflikte, vertreten würde, wagen wir zu bezweifeln. MARTA KIJOWSKA
"Die großen Brände". Ein Roman von 25 russischen Autoren.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Die Andere Bibliothek, Berlin 2022. 332 S., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die großen Brände" sind wieder da: Zu lesen ist ein bravouröser Kollektivroman aus dem Russland der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts.
Der Schmetterling hatte grellgelbe Flügel mit blauem Rand und war samtig wie jene tropischen Exemplare, die man aus dem Museum kennt." Für die beiden Freunde, Migunow und Berloga - der eine ist Gerichtsarchivar, der andere Reporter - ist das Betrachten des seltenen Insekts nur ein kurzes Intermezzo bei einer viel wichtigeren Beschäftigung: dem Suchen nach einer Akte, aus der hervorgehen soll, dass das, was ihre Stadt seit einiger Zeit erlebt, nämlich eine Serie von geheimnisvollen Bränden, es auch schon zwanzig Jahre zuvor, "sozusagen in den finsteren Zeiten des Zarismus", gegeben hat. Als sie das Archiv verlassen wollen, bricht plötzlich ein Feuer aus, das sich "aus den Tiefen der Schränke über die Zeitungsstöße" ausbreitet und zu rauchen beginnt "wie ein Ofenrohr".
So beginnt die Handlung dieses unge-wöhnlichen Romans, die 1920 in der fiktiven Hafenstadt Slatogorsk spielt und ihre erste Wendung Alexander Grin verdankt, einem polnischstämmigen, auf phantastische Prosa spezialisierten Außenseiter der frühsowjetischen Literatur. Die erste, denn das Ungewöhnliche an dem Roman besteht vor allem darin, dass er nicht von einem, sondern von 25 Autoren verfasst wurde. Jeder von ihnen hatte die Aufgabe, ein Kapitel zu schreiben und sich dabei an das vorgegebene Thema - die geheimnisvollen Brände in Slatogorsk - zu halten; der Rest blieb ihrer Phantasie überlassen. Und da diese offensichtlich keine Grenzen kannte, lässt sich das weitere Geschehen nur mit Mühe zusammen-fassen. Spätestens nach zehn Kapiteln gibt es nämlich so viele Figuren, zu de-nen neben ehrbaren "Bürgern" und "Genossen" auch zwielichtige Gestalten aus der lokalen Unterwelt wie Rosinen-Mischka, Petka das As oder Seufzer-Lenka gehören und deren Agieren sich auf höchst komplizierte Weise überschneidet, so viele Ereignisse, die verschiedene Interpretationen zulassen, dass sogar mancher Verfasser den Faden verliert. "Du lieber Gott, was haben die sechzehn Autoren nicht alles angerichtet! Dem Leser schwirrt der Kopf", seufzt Alexej Tolstoi zu Beginn seines, des siebzehnten Kapitels, um sich gleich daranzumachen, das Einführen einiger seines Erachtens überflüssiger Personen zu kritisieren oder zumindest nach deren Rolle zu fragen.
Er selbst widmet sich in seinem Kapitel lieber den Schmetterlingen, deren Bedeutung niemand infrage stellen kann. Denn was immer in dieser immer verrückteren Geschichte passiert, Brände, Morde, Explosionen, Entführungen, Verkleidungen, Fenstersprünge, eines bleibt konstant: Überall, wo Feuer aus-bricht - und nach dem Gerichtsarchiv brennt so ziemlich alles, was brennen kann: eine Irrenanstalt, in die Migunow, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hat, zu sich kommt, ein Wohnheim der Zeitung "Rotes Slatogorje", bei dem Berloga arbeitet, eine Gefängniszelle, in der Seufzer-Lenka einsitzt, ein Tanker, der im Hafen vor Anker liegt, und manches mehr -, werden Schmetterlinge gesichtet.
Und gleichzeitig mehren sich die Gründe, einen oder mehrere Brandstifter zu vermuten, zumal es unter den Stadtbewohnern Menschen gibt, von denen niemand so recht weiß, was sie hierher verschlagen hat und womit sie sich beschäftigen. Allen voran der steinreiche polnische Konzessionär Struck, um dessen Vermögen, aktuelle Geschäfte, gigantische Villa und schöne Enkelin Elita - die sich als die von ihm engagierte Schauspielerin Dina Kamenezkaja entpuppt - zahlreiche Gerüchte kursieren. Als wäre die Situation nicht unübersichtlich genug, verwandelt sich Slatogorsk "dank seiner Kollektion von Bränden aus einem farblosen Provinznest in einen Brennpunkt des Weltgeschehens", was die Moskauer Behörden auf den Plan ruft. Doch das macht die Sache nicht unbedingt besser, denn der Ermittler aus Moskau, ein Ingenieur namens Kukowerow, scheint auch ein doppeltes Spiel zu spielen, indem er einerseits mit der Polizei zusammenarbeitet und andererseits sich als Berater des Millionärs Struck ausgibt - bis sich herausstellt, dass er einen Doppelgänger hat, der zu allem Übel bald ums Leben kommt.
Und die Schmetterlinge? Stimmt es, was über den Lehrer Kukoverov behauptet wird, bei dem die Polizei eine kleine Kiste mit Schmetterlingslarven gefunden hat? Dass laut einer Laboranalyse die Insekten eine chemische Substanz verbreiten, die sich zersetzt und "die Entzündung des Wasserstoffs in der Luft" hervorruft? Wie dem auch sei: Erst dem Erfinder Gelatinow gelingt es, mit seinen speziellen Feuerlöschern die Brände unter Kontrolle zu bringen, was allerdings "ein sonderbares Phänomen" zur Folge hat: Es bricht "jene Langeweile an, die der Mensch insgeheim empfindet, wenn ein aufregendes Ereignis plötzlich von Ruhe und Ordnung abgelöst wird". Für Letztere sorgt eine Moskauer Kommission, die kurzerhand auch den Roman "Die großen Brände" liquidiert, also "die Einwohnerschaft der Stadt Slatogorsk" für "entlassen" und den Ort für "abgeschafft" erklärt.
Das Buch erschien von Dezember 1926 bis Februar 1927 in der Wochenzeitschrift "Ogonjok", was angeblich ihrem Chefredakteur, Michail Kolzow, (und dem Verfasser des letzten Kapitels) zu verdanken war. Doch von wem auch immer dieses literarische Experiment initiiert wurde, gelungen ist es allemal. Allein die Tatsache, dass sich 25 Autoren mit so unterschiedlichen Stilen und Temperamenten wie Isaak Babel, Michail Sostschenko, Alexej Tolstoi oder Weniamin Kawerin zusammentaten, um gemeinsam einen Roman zu schreiben und dabei sichtlich Spaß am Absurden und Phantastischen, an Satire und Parodie, an Kolportage und Slapstick-Komik, an Anspielungen und Metaphern, an ironischen Selbstkommentaren und witzigen Wortspielen zu haben, macht das Buch zu einem literarischen Ereignis. So wird es auch für den Leser schnell zweitrangig, ob er den vielen Handlungswendungen noch halbwegs folgen kann - viel spannender ist es, zuzuschauen, mit welcher Bravour jeder dieser Schriftsteller den literarischen Staffelstab weitergibt und mit welchem Genuss sie sich dabei alle austoben, vor allem wenn man bedenkt, dass bald danach (1932) die eisernen Regeln des Sozialistischen Realismus zu gelten begannen.
Die erste deutsche Ausgabe des Romans, der dank der gekonnten Übersetzung von Rosemarie Tietze seine Stilvielfalt und seinen Witz beibehalten hat, erschien 1982 im Ullstein Verlag. Nun, vierzig Jahre später, liegt er in der "Anderen Bibliothek" vor. Wir würden, schreibt ihr Herausgeber Christian Döring in seinem Editorial des aktuellen Programms, "den Beginn eines Krieges auf dem europäischen Kontinent" erleben, "den wir uns nicht vorstellen konnten oder wollten". Und gleichzeitig greift er die letzten Sätze des Romans auf: "Schlaft nicht! Die großen Brände sind vorüber, noch größere stehen uns bevor", indem er versichert, sie seien "kein Kommentar zu unserer Zeit", son-dern lediglich der Schlusssatz dieses rasanten Kollektivromans. Ob er dies allerdings auch heute, angesichts des immer noch andauernden Krieges und der weiteren, anderswo entflammenden Konflikte, vertreten würde, wagen wir zu bezweifeln. MARTA KIJOWSKA
"Die großen Brände". Ein Roman von 25 russischen Autoren.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Die Andere Bibliothek, Berlin 2022. 332 S., geb., 44,- Euro.
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»Ein amüsantes Rätselspiel mit Tempo und Witz« Kreuzer 20230201