Das Eis schmilzt, das Wasser steigt und plötzlich stehen Eisbären und Eskimos vor der Tür. Was ist passiert? Ein traumhaft schönes Bilderbuch zum Klimawandel. Johanns Welt ist in Unordnung. Sein Zimmer steht unter Wasser, der Garten, die Felder, die Wiesen sind überschwemmt, im Wasser treiben Eisschollen und in einem Kajak rudern Männer und Frauen in Eskimopelzen auf ihn zu. Wollen die etwa zu ihm? Schnell schleicht er sich zu seiner Oma ins Dachzimmerchen, die vor dem Fernseher sitzt und seufzt: »Das Wetter spielt total verrückt. Wie soll das bloß alles enden?« Die grünen Stiefel kommen zur rechten Zeit. Die Klimakatastrophe ist in aller Munde, die Kinder hören mit. Aber wie kommt bei ihnen an, worüber die Erwachsenen reden?Möglicherweise genau so, wie Hans Traxler davon erzählt: in traumhaften Bildern einer fantastischen Geschichte. Sie kommen zu uns, die großen und kleinen Eisbären, Schlittenhunde und Robben, die riesigen Walrösser, die Eskimos - in echt oder nur im Traum?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2020Das Menschlich-Allzuunmenschliche
Was verlangt die Krise des Planeten uns ab? Hans Traxler, der Grandseigneur der Bilderbuchzeichner, führt es in "Die grünen Stiefel" ebenso ironisch wie entschieden vor.
Der Kunstmann Verlag hat ein Händchen für Solitäre im Bilderbuchbereich. Als die Verlegerin Antje Kunstmann vor dreizehn Jahren den von ihr bewunderten Wolf Erlbruch so lange bekniete (und kurz vor der absoluten Deadline in seinem Atelier belagerte), bis dabei "Ente, Tod und Tulpe" herauskam, war das ein ästhetischer und kommerzieller Höhepunkt sowohl im eigenen Programm als auch im Werk von Erlbruch, der sonst vor allem den Verlagen Peter Hammer und Hanser verpflichtet war. Und nun hat Antje Kunstmann das Spiel mit einem anderen Bilderbuchkünstler wiederholt - ohne dass diesmal eine Belagerung notwendig gewesen wäre, denn wenige Zeichner sind so diszipliniert wie der mittlerweile einundneunzigjährige Hans Traxler. Jahr für Jahr bringt er zuverlässig neue Bücher heraus, meist im Wechsel zwischen Hanser und Reclam. Zuletzt schien der Insel Verlag sein neues publizistisches Domizil zu werden. Für Kunstmann hatte Traxler noch nie gezeichnet. Doch nun tat er es, und herausgekommen sind "Die grünen Stiefel".
Diese Geschichte führt aufs schönste die Reihe von Kinderbüchern fort, die Traxlers neuntes Lebensjahrzehnt dominiert haben. Bücher für Kinder, aber nicht selten auch über Kinder, von "Franz - Der Junge, der ein Murmeltier sein wollte" bis zum autobiographischen Kuriositätenkabinett "Mama, warum bin ich kein Huhn?". Diesmal geht es um Johann, aber der will gar kein Tier sein, sondern verständlicherweise wissen, warum eines Morgens beim Aufwachen sein Zimmer unter Wasser steht. Und draußen vor der Tür im idyllischen Voralpenland auch alles, nicht nur im nahen See. Was für ein Glück, dass auf der Terrasse seine grünen Gummistiefel stehen. Damit kann Johann wenigstens auf Erkundung ausgehen. Aber weit kommt er nicht, denn um ihn wimmelt es alsbald von Eisbergen und -bären, Möwen, Walrössern und Eskimos.
Huch, das E-Wort! Weiß Hans Traxler nicht, dass mittlerweile von Inuit sprechen sollte, wer es sich im öffentlichen Diskurs bequem machen will? Im deutschen öffentlichen Diskurs zumindest, denn von den Eingeborenen der arktischen Regionen schätzen es die wenigsten, als Inuit bezeichnet zu werden, weil sie anderen Völkerschaften angehören. Aber das gehört nicht hierher. Was dagegen unbedingt hierhergehört, ist, was sich gut anhört. Und halten zu Gnaden: Das Wort "Eskimo" hört sich sehr gut an. Und noch dürften die meisten Kinder sofort wissen, was damit gemeint ist. Und Hans Traxler kommt es sehr auf Klarheit an.
Nicht nur grafisch. Nicht nur im wunderbar lapidaren Tonfall. Auch Traxlers Geschichten selbst sind einfach, deren Moral ist es auch, schwer dagegen ist es offenbar für uns Menschen, einfache Wahrheiten zu akzeptieren. Sonst stünde Johann nicht im Wasser, sonst wimmelte es da nicht plötzlich in Oberbayern von arktischen Gestalten (um sich einmal neutral auszudrücken), sonst müsste nicht am Ende von "Die grünen Stiefel" im Familienkreis ein Entschluss gefasst werden, der gar nichts Heroisches verlangt, nur ein bisschen Verzicht auf Abwechslung. Und der fällt leicht, wenn es ringsum so schön ist wie im Voralpenland.
Jetzt dürften einige noch rätseln, wie das alles zusammenhängt, Überschwemmung, Eskimos, Verzicht und Oberbayern. Das muss man selbst lesen. Es sei nur noch gesagt, dass die ebenfalls schon lange währende Liebe des gebürtigen Böhmen und Wahlfrankfurters Hans Traxler zum Ammersee hier einmal mehr Bilderbuchlandschaften im buchstäblichen Sinne hervorgebracht hat. Dass man mittlerweile als Leser und Liebhaber des Traxler'schen Werks einen Riesenspaß mit all den in den seiten- oder gar doppelseitengroßen Illustrationen versteckten Selbstzitaten hat. Und dass auf Menschen, die sich womöglich über die Wortwahl "Eskimo" echauffieren, noch eine kleine Bosheit wartet, ganz am Rande eines Bildes und in der friedlichsten Umgebung, die sich denken lässt. Schwarzer Humor.
Denn man lasse sich von Traxlers Zuversicht und der Übersichtlichkeit seiner Bilder nicht täuschen - das Abgründige ist bei diesem Kenner des Menschlich-Allzuunmenschlichen nie weit entfernt. Allein die Horrorvision von in der abgetauten Arktis angewidert Blumen weidenden ausgemergelten Eisbären bietet ein Bild, das man nicht so leicht vergisst, wenn man das Buch wieder zugeklappt hat. Es bleibt jedenfalls noch viel länger haften als der große Trost vom Nutzen kleiner Schritte, den "Die grünen Stiefel" verheißt.
ANDREAS PLATTHAUS
Hans Traxler: "Die grünen Stiefel".
Kunstmann Verlag, München 2020. 32 S., geb., 16,- [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was verlangt die Krise des Planeten uns ab? Hans Traxler, der Grandseigneur der Bilderbuchzeichner, führt es in "Die grünen Stiefel" ebenso ironisch wie entschieden vor.
Der Kunstmann Verlag hat ein Händchen für Solitäre im Bilderbuchbereich. Als die Verlegerin Antje Kunstmann vor dreizehn Jahren den von ihr bewunderten Wolf Erlbruch so lange bekniete (und kurz vor der absoluten Deadline in seinem Atelier belagerte), bis dabei "Ente, Tod und Tulpe" herauskam, war das ein ästhetischer und kommerzieller Höhepunkt sowohl im eigenen Programm als auch im Werk von Erlbruch, der sonst vor allem den Verlagen Peter Hammer und Hanser verpflichtet war. Und nun hat Antje Kunstmann das Spiel mit einem anderen Bilderbuchkünstler wiederholt - ohne dass diesmal eine Belagerung notwendig gewesen wäre, denn wenige Zeichner sind so diszipliniert wie der mittlerweile einundneunzigjährige Hans Traxler. Jahr für Jahr bringt er zuverlässig neue Bücher heraus, meist im Wechsel zwischen Hanser und Reclam. Zuletzt schien der Insel Verlag sein neues publizistisches Domizil zu werden. Für Kunstmann hatte Traxler noch nie gezeichnet. Doch nun tat er es, und herausgekommen sind "Die grünen Stiefel".
Diese Geschichte führt aufs schönste die Reihe von Kinderbüchern fort, die Traxlers neuntes Lebensjahrzehnt dominiert haben. Bücher für Kinder, aber nicht selten auch über Kinder, von "Franz - Der Junge, der ein Murmeltier sein wollte" bis zum autobiographischen Kuriositätenkabinett "Mama, warum bin ich kein Huhn?". Diesmal geht es um Johann, aber der will gar kein Tier sein, sondern verständlicherweise wissen, warum eines Morgens beim Aufwachen sein Zimmer unter Wasser steht. Und draußen vor der Tür im idyllischen Voralpenland auch alles, nicht nur im nahen See. Was für ein Glück, dass auf der Terrasse seine grünen Gummistiefel stehen. Damit kann Johann wenigstens auf Erkundung ausgehen. Aber weit kommt er nicht, denn um ihn wimmelt es alsbald von Eisbergen und -bären, Möwen, Walrössern und Eskimos.
Huch, das E-Wort! Weiß Hans Traxler nicht, dass mittlerweile von Inuit sprechen sollte, wer es sich im öffentlichen Diskurs bequem machen will? Im deutschen öffentlichen Diskurs zumindest, denn von den Eingeborenen der arktischen Regionen schätzen es die wenigsten, als Inuit bezeichnet zu werden, weil sie anderen Völkerschaften angehören. Aber das gehört nicht hierher. Was dagegen unbedingt hierhergehört, ist, was sich gut anhört. Und halten zu Gnaden: Das Wort "Eskimo" hört sich sehr gut an. Und noch dürften die meisten Kinder sofort wissen, was damit gemeint ist. Und Hans Traxler kommt es sehr auf Klarheit an.
Nicht nur grafisch. Nicht nur im wunderbar lapidaren Tonfall. Auch Traxlers Geschichten selbst sind einfach, deren Moral ist es auch, schwer dagegen ist es offenbar für uns Menschen, einfache Wahrheiten zu akzeptieren. Sonst stünde Johann nicht im Wasser, sonst wimmelte es da nicht plötzlich in Oberbayern von arktischen Gestalten (um sich einmal neutral auszudrücken), sonst müsste nicht am Ende von "Die grünen Stiefel" im Familienkreis ein Entschluss gefasst werden, der gar nichts Heroisches verlangt, nur ein bisschen Verzicht auf Abwechslung. Und der fällt leicht, wenn es ringsum so schön ist wie im Voralpenland.
Jetzt dürften einige noch rätseln, wie das alles zusammenhängt, Überschwemmung, Eskimos, Verzicht und Oberbayern. Das muss man selbst lesen. Es sei nur noch gesagt, dass die ebenfalls schon lange währende Liebe des gebürtigen Böhmen und Wahlfrankfurters Hans Traxler zum Ammersee hier einmal mehr Bilderbuchlandschaften im buchstäblichen Sinne hervorgebracht hat. Dass man mittlerweile als Leser und Liebhaber des Traxler'schen Werks einen Riesenspaß mit all den in den seiten- oder gar doppelseitengroßen Illustrationen versteckten Selbstzitaten hat. Und dass auf Menschen, die sich womöglich über die Wortwahl "Eskimo" echauffieren, noch eine kleine Bosheit wartet, ganz am Rande eines Bildes und in der friedlichsten Umgebung, die sich denken lässt. Schwarzer Humor.
Denn man lasse sich von Traxlers Zuversicht und der Übersichtlichkeit seiner Bilder nicht täuschen - das Abgründige ist bei diesem Kenner des Menschlich-Allzuunmenschlichen nie weit entfernt. Allein die Horrorvision von in der abgetauten Arktis angewidert Blumen weidenden ausgemergelten Eisbären bietet ein Bild, das man nicht so leicht vergisst, wenn man das Buch wieder zugeklappt hat. Es bleibt jedenfalls noch viel länger haften als der große Trost vom Nutzen kleiner Schritte, den "Die grünen Stiefel" verheißt.
ANDREAS PLATTHAUS
Hans Traxler: "Die grünen Stiefel".
Kunstmann Verlag, München 2020. 32 S., geb., 16,- [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wieder einmal ist Andreas Platthaus entzückt vom inzwischen über neunzigjährigen Hans Traxler und lobt die Verlegerin für ihren Einsatz, der dieses Buch zur Folge hatte. Dass Traxler kluge Bücher macht für und über Kinder und zunehmend für uns alle über die entscheidenden Lebensthemen der Gegenwart, beweise sich hier einmal mehr mit dem kleinen Johann, der am Ammersee plötzlich Eisbären und Eskimos vorfindet. Der Kritiker amüsiert sich prächtig auch über die Selbstzitate und Ironien des Künstlers, und mag auch der Botschaft zustimmen, die ein wenig Selbstbeschränkung fordert für die Abwendung solcher Horrorszenarien am Ammersee.
© Perlentaucher Medien GmbH
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