Félix Guattari (1930-1992) ist insbesondere als Ko-Autor von Gilles Deleuze berühmt geworden. Sein eigenes Werk ist dagegen schwerer zu fassen. Anders als Deleuze war Guattari kein Universitätsphilosoph, und obwohl er zeit seines Lebens in der psychiatrischen Klinik "La Borde" arbeitete, war er weder Neurologe noch Psychiater, sondern: Maschinentheoretiker, Schizoanalytiker und ein Kartograph chaosmotischer Subjektivitäten. Im klinischen Alltag, aber auch in der politischen Aktion galt sein brennendes Interesse dem konkreten Verhältnis von Körper und Technik und der kritischen Verbindung von Ökonomie und Ökologie. Genau darin liegt die ungebrochene Aktualität seiner Arbeit, in die dieser Band anhand von sechs Gesprächen einführt, die einen Lebensweg skizzieren, der zwischen Theorie und Praxis ebenso überzeugend changierte wie zwischen Individuum und Kollektiv.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Theorie aus der Klinik
In einer Zeit, in der technische Artefakte und digitale Medien immer weiter in die psychische und körperliche Intimität ihrer Nutzer vordringen, lohnt eine genauere Beschäftigung mit dem Werk von Félix Guattari, das lange im Schatten seiner Zusammenarbeit mit Gilles Deleuze stand. Dem zentralen Thema seines Denkens, der innigen Verwobenheit von Begehren, Technologie und Subjektivität, näherte sich Guattari aus einer Perspektive, die die üblichen Grenzen zwischen Philosophie und Psychiatrie ignorierte.
Anders als Deleuze war Guattari kein Universitätsphilosoph. Nach einer Lehranalyse, die er Ende der fünfziger Jahre bei Jacques Lacan absolvierte, arbeitete er zeit seines Lebens in der vom Psychiater Jean Oury gegründeten Reformklinik La Borde im Loiretal, wo er für die nichtmedizinischen Therapieangebote verantwortlich war. Was einem auf den ersten Blick an Guattaris Begriffen willkürlich, gar esoterisch erscheinen mag, erschließt sich, sobald man seine konzeptuelle Arbeit als Fortsetzung dieser klinischen Praxis begreift.
Genau darin besteht das Verdienst der kürzlich erschienenen "Guattari-Tapes", die Informationen aus erster Hand zu Guattaris vielfältigen Aktivitäten als Theoretiker, politischer Aktivist und Verfechter der institutionellen Psychotherapie bieten. Es handelt sich um Transkriptionen von Gesprächen, die Henning Schmidgen, heute Professor für Medientheorie an der Bauhaus-Universität Weimar, Mitte der neunziger Jahre im Rahmen eines Dissertationsprojektes mit ehemaligen Freunden und Weggefährten des 1992 verstorbenen Autors führte, darunter den Philosophen Antonio Negri und Paul Virilio, der Psychoanalytikerin Élisabeth Roudinesco und Jean Oury.
Diese Gespräche zeichnen ein facettenreiches, durchaus nicht unkritisches Porträt eines Intellektuellen, dessen rastloses Leben "zwischen fast ausufernden Gruppen-Aktivitäten und intensiver Theorie-Produktion" oszillierte, und gewähren zugleich Einblicke in die theoretischen und politischen Grabenkämpfe, in die er verwickelt war. Schmidgens ebenso konzises wie anregendes Vorwort, das einen Überblick über die bisherige Guattari-Rezeption und die historischen Fundamente seines "Maschinismus" liefert, ergänzt sie auf ideale Weise.
MAXIMILIAN GILLESSEN.
Henning Schmidgen: "Die Guattari-Tapes".
Aus dem Französischen von Ronald Vouillé. Merve Verlag, Leipzig 2019. 176 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In einer Zeit, in der technische Artefakte und digitale Medien immer weiter in die psychische und körperliche Intimität ihrer Nutzer vordringen, lohnt eine genauere Beschäftigung mit dem Werk von Félix Guattari, das lange im Schatten seiner Zusammenarbeit mit Gilles Deleuze stand. Dem zentralen Thema seines Denkens, der innigen Verwobenheit von Begehren, Technologie und Subjektivität, näherte sich Guattari aus einer Perspektive, die die üblichen Grenzen zwischen Philosophie und Psychiatrie ignorierte.
Anders als Deleuze war Guattari kein Universitätsphilosoph. Nach einer Lehranalyse, die er Ende der fünfziger Jahre bei Jacques Lacan absolvierte, arbeitete er zeit seines Lebens in der vom Psychiater Jean Oury gegründeten Reformklinik La Borde im Loiretal, wo er für die nichtmedizinischen Therapieangebote verantwortlich war. Was einem auf den ersten Blick an Guattaris Begriffen willkürlich, gar esoterisch erscheinen mag, erschließt sich, sobald man seine konzeptuelle Arbeit als Fortsetzung dieser klinischen Praxis begreift.
Genau darin besteht das Verdienst der kürzlich erschienenen "Guattari-Tapes", die Informationen aus erster Hand zu Guattaris vielfältigen Aktivitäten als Theoretiker, politischer Aktivist und Verfechter der institutionellen Psychotherapie bieten. Es handelt sich um Transkriptionen von Gesprächen, die Henning Schmidgen, heute Professor für Medientheorie an der Bauhaus-Universität Weimar, Mitte der neunziger Jahre im Rahmen eines Dissertationsprojektes mit ehemaligen Freunden und Weggefährten des 1992 verstorbenen Autors führte, darunter den Philosophen Antonio Negri und Paul Virilio, der Psychoanalytikerin Élisabeth Roudinesco und Jean Oury.
Diese Gespräche zeichnen ein facettenreiches, durchaus nicht unkritisches Porträt eines Intellektuellen, dessen rastloses Leben "zwischen fast ausufernden Gruppen-Aktivitäten und intensiver Theorie-Produktion" oszillierte, und gewähren zugleich Einblicke in die theoretischen und politischen Grabenkämpfe, in die er verwickelt war. Schmidgens ebenso konzises wie anregendes Vorwort, das einen Überblick über die bisherige Guattari-Rezeption und die historischen Fundamente seines "Maschinismus" liefert, ergänzt sie auf ideale Weise.
MAXIMILIAN GILLESSEN.
Henning Schmidgen: "Die Guattari-Tapes".
Aus dem Französischen von Ronald Vouillé. Merve Verlag, Leipzig 2019. 176 S., br., 14,- [Euro].
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