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Die meisten politischen Systeme der westlichen Welt gelten als demokratisch, aber im Grunde reduziert sich die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger auf die Wahl von Repräsentanten und Regierenden, also auf ein Verfahren zur Beglaubigung von Mächtigen und zur Bestätigung allgemeiner Zielsetzungen. Angesichts der mit einer solchen »Genehmigungsdemokratie« verbundenen Gefahren entwirft Pierre Rosanvallon in seinem vieldiskutierten Buch das Gegenmodell einer »Bestätigungsdemokratie« - und fordert nicht weniger als eine demokratische Revolution, in der die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten neu bestimmt werden. …mehr

Produktbeschreibung
Die meisten politischen Systeme der westlichen Welt gelten als demokratisch, aber im Grunde reduziert sich die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger auf die Wahl von Repräsentanten und Regierenden, also auf ein Verfahren zur Beglaubigung von Mächtigen und zur Bestätigung allgemeiner Zielsetzungen. Angesichts der mit einer solchen »Genehmigungsdemokratie« verbundenen Gefahren entwirft Pierre Rosanvallon in seinem vieldiskutierten Buch das Gegenmodell einer »Bestätigungsdemokratie« - und fordert nicht weniger als eine demokratische Revolution, in der die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten neu bestimmt werden.
Autorenporträt
Rosanvallon, PierrePierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France und Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). 2016 erhielt er den Bielefelder Wissenschaftspreis.
Rezensionen
»Rosanvallons Buch ist Pflichtlektüre.« DIE ZEIT

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Anregend und bedenkenswert findet Rudolf Walther, was der französische Historiker Pierre Rosanvallon in seinem Buch über die gute Regierung und die Entwicklung der Demokratie schreibt. Geradezu brillant erscheint dem Rezensenten, wie hellsichtig Rosanvallon die ambivalente Geschichte der Demokratie betrachtet, die sich lange darauf beschränkte, sich alle vier Jahre per Wahlakt das Regieren "genehmigen" zu lassen. Verbunden war diese Form der Genehmigungsdemokratie zunächst mit einem starken Vorrang der Legislative, der mit extrem schwachen Regierungen einherging und undurchschaubaren Ränkespielen der Honoratioren. Darauf regierte Frankreich nach den Weltkriegen mit der Stärkung der Exekutive und einer Präsidialisierung. Bedeutend findet Walther auch, was Rosanvallon zum heutigen Stand der Demokratie sagt: Technokratisierung, Unlesbarkeit von Politik und Vertrauenskrise setzt der Historiker eine neue Aneignung entgegen: Verantwortung, Interaktion und Wissen sollen an die Stelle treten, die in der "verkümmerten Demokratie" von "trivialen Meinungsumfragen" eingenommen werden.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016

Wer will noch regieren, wenn die Bürger dauernd mitreden?

Externe Kontrolleure für die Politik: Pierre Rosanvallon sucht nach Heilmitteln gegen Verdruss an Akteuren und Institutionen der Demokratie.

Von Günther Nonnenmacher

Der französische Historiker Pierre Rosanvallon, Inhaber des Lehrstuhls für neuere und neueste Geschichte am Collège de France, hat mehrere Bücher vorgelegt, die sich mit der Herkunft der Demokratie beschäftigen. Das Buch über "Die gute Regierung" ist der Abschlussband dieser Folge von Analysen, in denen Rosanvallon in historischen Längsschnitten die Grundlagen der modernen Demokratie herausgearbeitet, ihre Transformationen und ihren Funktionswandel dargestellt und nach Remedur für ihre Defizite gesucht hatte. Rosanvallon ist überzeugt, "dass wir uns . . . schwertun, die wahren Ursachen der gegenwärtigen Desillusionierung zu verstehen und folglich die Bedingungen eines neuen demokratischen Fortschritts zu bestimmen". Die Formen dieser Desillusionierung sind unter anderem Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung und der Aufstieg populistischer Bewegungen, wie es in Frankreich - mit einem starken Einschlag von Rechtsextremismus - etwa der "Front National" ist.

Dieses Mal geht es also um die Art und Weise des Regierens, und schon der Titel weist darauf hin, dass sich Rosanvallon damit in eine ehrwürdige Tradition stellt, zu der unter anderem die mittelalterlichen Fürstenspiegel gehören. Eine Revolution des Denkens oder eine Aufforderung zu umstürzlerischem Handeln ist da schwerlich zu erwarten. Das hat auch mit der politischen Herkunft des Historikers vom Jahrgang 1948 zu tun: Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war er Berater der reformistischen französischen Gewerkschaft Confédération française démocratique du travail (CFDT) und stand dem Parti socialiste unifié (PSU) nahe, dessen führende Figur lange Zeit der kürzlich verstorbene Michel Rocard war, ein liberaler Linker, der sich 1974 der von Mitterrand begründeten neuen Sozialistischen Partei (PS) anschloss, aber zeitlebens mit ihr und ihrem Gründer über Kreuz lag, selbst als er dem Präsidenten Mitterrand von 1988 bis 1991 als dessen (ungeliebter) Premierminister diente.

Diese Ursprünge prägen Rosanvallons politisches Denken, und sein Programm für das gute Regieren steht deshalb in der Tradition eines demokratischen Reformismus der linken Mitte. Der war allerdings in der politischen Realität Frankreichs nie mehrheitsfähig, sondern immer auf die Unterstützung der radikaleren Linken angewiesen - mit allen Folgen, die das bis in die gegenwärtige Politik hinein hat.

"Die Bürger träumen nicht von einer direkten Demokratie, . . . selbst wenn sie sich wünschen, dass hin und wieder Volksabstimmungen zu speziellen Fragen durchgeführt werden. Was sie wollen, sind Regierende, die kompetent und engagiert ihre Arbeit erledigen und deren vorrangige Sorge dem Gemeinwohl und nicht ihrer Karriere gilt . . . Eine Art des Regierens in ständiger Offenheit wäre das, worauf es ihnen in erster Linie ankäme." Mit diesen Forderungen Rosanvallons könnten (oder sollten) eigentlich alle politisch Vernünftigen einverstanden sein. Allein: Politik wird nicht nur von Vernunft geprägt, sondern auch von Leidenschaften, von der Auseinandersetzung über Ideen und vom Kampf um Mehrheiten, von unvorhersehbaren Ereignissen und nicht zuletzt vom Machtstreben der Menschen, die sich in diese Arena begeben. Wer das über Jahre beobachtet hat, wird die Ansprüche, die Rosanvallon an die Regierenden stellt, zum größten Teil sehr idealistisch, um nicht zu sagen naiv nennen müssen.

Denn ein Politiker, der nicht an seine Karriere denkt, wird, wenn er den Aufstieg in Entscheidungspositionen überhaupt schafft, dort nicht lange überleben. Politik ist eben zum Beruf geworden, und selbst wer Politiker aus Berufung ist (Rosanvallon nimmt diese Unterscheidung Max Webers ausdrücklich auf), muss die Regeln des Handwerks beherrschen, wenn er etwas gestalten will. Der von Parteien, Stimmen und Stimmungen weitgehend unabhängige, von persönlichen Ambitionen freie Politiker, dem es nur um Ideale und den Dienst am Gemeinwesen geht, ist eine Kunstfigur aus dem Repertoire des bürgerlichen Professoren-Liberalismus im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Ein Rezensent der französischen Ausgabe des Buches hat Rosanvallon deshalb vorgeworfen, seine "gute Regierung" sei in Wirklichkeit eine Honoratiorenrepublik 2.0.

Das ist übertrieben. Wahr ist dagegen, dass seine Vorschläge zur Verbesserung demokratischen Regierens weder neu noch sonderlich originell sind: Es geht um Transparenz im weitesten Sinne, um die Wahrhaftigkeit der politischen Rede oder um eine (durch Kontrollinstanzen überwachte) Integrität des politischen Personals, um Bürgerkonferenzen und Kommissionen, um unabhängige Instanzen, die über Verbesserungen des öffentlichen Lebens diskutieren und denen "die Politik" rechenschaftspflichtig ist. Einiges davon klingt widersprüchlich, anderes gehört zum üblichen Forderungskatalog einer Politikwissenschaft, die Heilmittel gegen den Verdruss an der Demokratie und ihren politischen Akteuren (das sind nicht nur die Politiker, sondern auch die Parteien oder Institutionen wie das Parlament) suchen. Rosanvallon setzt dabei Hoffnungen auf Bewegungen wie die spanischen "Indignados" (oder jetzt die Partei "Podemos") und "Occupy wallstreet"; "Whistleblower" wie Edward Snowden und Julian Assange spielen als gewissermaßen externe Kontrolleure eine wichtige Rolle. Das alles sieht Rosanvallon nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung und Korrektiv demokratischer Institutionen und Verfahren. Damit hegt er die Funktion des Regierens, deren Notwendigkeit er anfangs so emphatisch gegen die Utopie der Herrschaftsfreiheit verteidigt hatte, allerdings derartig ein, dass man sich fragen kann, wer unter solchen Bedingungen überhaupt noch regieren kann und will.

Rosanvallons eigentliches Ziel ist es, eine "Betätigungsdemokratie" zu schaffen, in der sich die Bürger Politik wieder aneignen und Vertrauen in die Regierenden fassen können. Wie das in einer Mediendemokratie, mit einer Zersplitterung des öffentlichen Diskurses, die durch das Internet noch erweitert und radikalisiert wird, funktionieren kann, wie da aus Transparenz nicht Denunziation und aus Kontrolle nicht Blockade wird, lässt Rosanvallon weitgehend offen. Seine Erwartungen an Parteien "neuen Typs" oder "neue soziale Bewegungen" als dauerhafte oder auch nur effiziente Partizipations- und Mobilisierungsinstanzen darf man nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte jedenfalls in Frage stellen. Doch die eigentliche Stärke des Buches sind ohnehin die historischen Analysen, mit denen Rosanvallon den Weg der Demokratie - und in diesem Buch vor allem den der Exekutive - in die Gegenwart beschreibt: Das ist nicht nur gelehrt, sondern originell und teilweise brillant.

Dass es manchmal schwerfällt, die Schlussfolgerungen des Autors zu teilen, liegt auch daran, dass der Hintergrund seiner Überlegungen in aller Regel die französische Politik ist. Dazu gehört die Fokussierung der Fünften Republik auf das Amt des Präsidenten, die das gesamte politische Leben strukturiert (und teilweise denaturiert), die zentralistisch-autoritäre Form des Regierens, die mit einem eklatanten Mangel an gut legitimierten, repräsentativen und potenten intermediären Instanzen zusammenhängt, ein Mangel, den schon Tocqueville beklagt hatte.

Nicht in allen westlichen (europäischen) Demokratien sind die Parteien zu Anhängseln des Regierungsapparats geworden, deren Programmatik in Vergessenheit gerät, sobald sie an die Macht kommen. Und nicht alle Parteien haben, wie Rosanvallon behauptet, die Rückkopplung zu den Bürgern völlig verloren. Wenn eine Regierungspartei wie die gegenwärtige sozialistische in Frankreich nach einem Auskehren der Karteileichen noch ganze 100 000 Mitglieder zählt, die fast ausnahmslos im öffentlichen Dienst (die meisten als Lehrer) tätig sind, kann man sich allerdings in der Tat fragen, auf welcher gesellschaftlichen "Basis" da regiert wird.

Die Übersetzung des Buches ist nicht sehr elegant, was allerdings auch an Spezialitäten der französischen Wissenschafts- und Politiksprache liegt. Das von Rosanvallon propagierte "parler vrai" mit "wahrsprechen" zu übersetzen, ist zwar nicht falsch, trifft aber beispielsweise den doppelten Sinn der Aufforderung (die in Frankreich seit Jahrzehnten erfolglos erhoben wird) nicht wirklich: Es geht zum einen darum, den Bürgern die Wahrheit zu sagen, also ihnen "reinen Wein einzuschenken"; andererseits wird das "parler vrai" auch als Gegensatz zur "langue de bois" der Politiker beschworen, deren teils unverbindliche, teils unverständliche Sprechblasen den politischen Diskurs zur Phrasendrescherei machen. Im Übrigen hätte ein so gelehrter Autor einen deutschen Lektor verdient, um stillschweigend zu korrigieren, dass in der Nazi-Zeit nicht Goebbels, sondern Göring Präsident des (belanglos gewordenen) Deutschen Reichstags war.

Pierre Rosanvallon: "Die gute Regierung".

Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2016. 376 S., geb., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2016

Die Entfremdeten
Einmal alle vier Jahre zur Wahl und Politikern die Lizenz zum Regieren erteilen – dieses Modell gerät immer mehr in die Kritik.
Der französische Historiker Pierre Rosanvallon analysiert die Krise der Demokratie und gibt bedenkenswerte Anregungen
VON RUDOLF WALTHER
Der hierzulande leider immer noch viel zu wenig bekannte und gelesene Autor Pierre Rosanvallon beschäftigt sich auch in seinem neuesten Buch mit dem brennendsten Thema der Gegenwart – der Krise der Demokratie. Als Historiker und Politikwissenschaftler bringt Rosanvallon die Voraussetzungen dafür mit, weder in eine utopisch-messianische Projektemacherei, noch in politikwissenschaftlich-technokratisches Social Engineering zu verfallen. Entsprechend komplex fällt seine historisch-politische Diagnose aus und entsprechend zurückhaltend sind seine Therapievorschläge, obwohl diese auf nichts Geringeres als eine „zweite staatsbürgerliche Revolution“ hinauslaufen.
  Die erste staatsbürgerliche oder demokratische Revolution brachte im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts überall, wo sie ernsthaft ins Auge gefasst wurde, die Ausdehnung des zunächst vielfältig beschränkten Wahlrechts zum wirklich gleichen und allgemeinen Wahlrecht und damit die politische Verankerung der Volkssouveränität. In einem brillanten 100 Seiten umfassenden historischen Abriss beleuchtet Rosanvallon die zwiespältige Geschichte der demokratischen Entwicklung seit 1789 beziehungsweise 1776. Er begreift diese Anfänge der modernen Demokratie als „Genehmigungsdemokratie“: Im eintägigen Wahlakt bewiesen Staatsbürger ihre Souveränität und erteilten einer Regierung die Lizenz zum Regieren und einem Parlament das Recht, Gesetze zu verabschieden. Die Wähler verabschiedeten sich damit auch gleich selbst aus der Politik bis zum nächsten Wahltag.
  Die Regierung rückte damals gegenüber dem Parlament in den Hintergrund. Formal herrschte damit das zum Fetisch stilisierte „Gesetz“ und nicht mehr monarchische Willkür. Jeremy Bentham sprach in Analogie zum „Panopticon“ vom „Pannomion“ , das Wort wurde gebildet aus den griechischen Wörtern für pan/alles und nomos/Gesetz. Der Vorrang der Legislative prägte die Demokratie im 19. Jahrhundert. In Frankreich etwa gab es zwischen 1876 und 1914 fünfzig schwache Regierungen und eine Vielzahl von völlig bedeutungslosen Regierungschefs, deren Namen heute nur noch Spezialisten kennen. Die Kalküle von Parteichefs und die Ränkespiele der Honoratioren in den Parlamentsfraktionen regierten faktisch im Namen des numinosen „Gesetzes“ das Land und nicht die Regierung oder der Ministerrat, von dem Léon Blum sagte, er habe „(kein) wichtiges Gesetz, eine weitreichende Reform oder einen allgemeinen Verwaltungsplan (je) diskutiert“.
  Nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt. Es schlug überall die Stunde der Exekutive. Der Prozess der „Präsidialisierung“ der Demokratie begann auch dort, wo der Staatspräsident respektive der Monarch fast nur repräsentative Kompetenzen besaß. In dem Maße, in dem sich staatliches Handeln um Wirtschafts- und Sozialpolitik erweiterte, erwuchsen auch Bestrebungen, politisches Handeln nach dem Vorbild von betriebswirtschaftlicher Effizienz und industriellem Management zu organisieren. Solche Bestrebungen stärkten die staatliche Verwaltung und die Exekutive gegenüber dem Parlament. Regieren wurde jetzt als technische Veranstaltung verstanden. Es drohte der Umbau der Demokratie zur Technokratie, ein Begriff der 1919 in den USA geprägt wurde.
  Eine andere, weit größere Gefahr bildete die Konjunktur der Lehren vom Ausnahmezustand im Gefolge der großen Krise von 1929. Regieren meinte demnach den „souveränen Gebrauch des Willens“ (Rosanvallon) jenseits von Gesetz und Verfassung. Gegenüber den Versuchungen durch die Technokratie und den Ausnahmezustand bildete die „Präsidialisierung“ der Demokratie einen Mittelweg. General Charles de Gaulles V. Republik machte „die Präsidialisierung der Demokratie“ ab 1958 insofern zur Normalität, als sich nach 1945 in allen Demokratien der Vorrang der Exekutive vor dem Parlament durchsetzte. Das tangierte insbesondere das Verhältnis von Regierenden und Regierten. Die auf den Wahlakt beschränkte Erfahrung von Staatsbürgerlichkeit entfremdete die Regierten von den Regierenden immer mehr, ließ die Legitimität von Politikern noch mehr schwinden, ebenso die Wahlbeteiligung und die Zahl der aktiven Parteimitglieder.
  Rosanvallon hält eine Umkehrung der Präsidialisierung oder eine Reparlamentarisierung der Politik für unwahrscheinlich oder gar unmöglich und plädiert deshalb für den Umbau respektive die Ergänzung der Demokratie in zwei Schritten – zunächst durch die Aneignungsdemokratie, danach durch die Vertrauensdemokratie. Als Aneignungsdemokratie bezeichnet der Autor einen Prozess, in dem die Kontrolle der Regierung durch Parlament und Staatsbürger verstärkt und die „Lesbarkeit“ von Politik erhöht wird. Die wachsende Europaskepsis etwa sieht Rosanvallon als Resultat der „Unlesbarkeit“ der Brüsseler Institutionen (Zentralbank, Europäischer Gerichtshof, Kommission).
  Die wechselseitige Wahrnehmung von Regierenden und Regierten ist auf der Schwundstufe von trivialen Meinungsumfragen angekommen. Das ist ein Indiz für eine verkümmerte Demokratie, in der Verantwortung, Interaktion und Wissen zerfallen. Rosanvallon zitiert den französischen Soziologen Émile Durkheim: „Ein Volk ist umso demokratischer, je größer die Rolle ist, die Beratung, Reflexion und kritisches Denken bei der Behandlung öffentlicher Angelegenheiten spielen.“
  Rosanvallon bietet keine Patentrezepte für eine zweite demokratische Revolution, aber bedenkenswerte Hinweise dafür, wie die Politiker ihre Rechenschaftspflicht und Verantwortung anders wahrnehmen und wie Staatsbürger die Sache der Demokratie, also ihre Sache, in die Hand nehmen können und müssen, wenn die Chancen einer „Realisierbarkeit einer Welt der Gleichen“ gewahrt werden sollen.
  Fazit: Ein außerordentlich anregendes Buch.
Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband erschien unter dem Titel: „Aufgreifen, begreifen, angreifen.“, Münster 2014 (Oktober Verlag).
Nach dem Ersten Weltkrieg
rückte immer mehr die Exekutive
in den Vordergrund
  
  
  
Pierre Rosanvallon:
Die gute Regierung. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburger Edition, Hamburg 2016, 376 Seiten, 35 Euro.
E-Book: 27,99 Euro.
Transparente Gesetzesarbeit: Die Reichstagskuppel lässt Einblicke ins Plenum zu. Aber reicht das aus, die Politiker und ihre Arbeit zu verstehen?
Foto: Wolfgang Kumm/dpa
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