"Frauen tragen die Hälfte des Himmels" - sagt ein chinesisches Sprichwort. Tatsächlich zeigen die Reportagen der beiden Pulitzer-Preisträger Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn, dass arme Frauen oftmals die Hölle ertragen müssen. Die häufigsten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit richten sich gegen Mädchen und Frauen. Wir wissen das und sehen uns - leider - außerstande, daran etwas zu ändern. Wirklich?
Dieses Buch zeigt: Wirksames Handeln ist möglich, jeden Tag, auch bei uns. Es erzählt Geschichten von Frauen, die nicht aufgegeben haben, obwohl sie als Sexsklaven verkauft und erniedrigt, zur Machtdemonstration von Kriegern vergewaltigt und verstümmelt wurden, denen Bildung und ein selbstbestimmtes Leben verwehrt worden sind. Es sind Geschichten von Frauen, die ihr Schicksal nicht ergeben erduldet haben, sondern Hilfe gesucht, die Initiative ergriffen oder sich ganz einfach zur Wehr gesetzt haben. Darauf zu achten, dass Menschenrechte auch für Frauen gelten, ist nichtnur ein Akt der Gerechtigkeit. Frauen zu mehr Geltung und Wertschätzung zu verhelfen, ist auch ein Akt politischer und ökonomischer Vernunft: überall, wo Frauen eine stärkere Rolle spielen, nimmt die Neigung junger Männer zu Aggressivität und Gewalt ab; überall, wo Frauen bezahlt arbeiten oder eigene Geschäfte führen, lässt sich ein deutlicher ökonomischer Aufschwung insgesamt feststellen.
Das letzte Kapitel dieses Buches sagt Ihnen, was Sie in 10 Minuten für die Hälfte der Menschheit konkret tun können. Manchmal zeigt einem das Mitgefühl für andere auch den richtigen Weg für das eigene Leben. Diese Nebenwirkung ist nicht ausgeschlossen.
Dieses Buch zeigt: Wirksames Handeln ist möglich, jeden Tag, auch bei uns. Es erzählt Geschichten von Frauen, die nicht aufgegeben haben, obwohl sie als Sexsklaven verkauft und erniedrigt, zur Machtdemonstration von Kriegern vergewaltigt und verstümmelt wurden, denen Bildung und ein selbstbestimmtes Leben verwehrt worden sind. Es sind Geschichten von Frauen, die ihr Schicksal nicht ergeben erduldet haben, sondern Hilfe gesucht, die Initiative ergriffen oder sich ganz einfach zur Wehr gesetzt haben. Darauf zu achten, dass Menschenrechte auch für Frauen gelten, ist nichtnur ein Akt der Gerechtigkeit. Frauen zu mehr Geltung und Wertschätzung zu verhelfen, ist auch ein Akt politischer und ökonomischer Vernunft: überall, wo Frauen eine stärkere Rolle spielen, nimmt die Neigung junger Männer zu Aggressivität und Gewalt ab; überall, wo Frauen bezahlt arbeiten oder eigene Geschäfte führen, lässt sich ein deutlicher ökonomischer Aufschwung insgesamt feststellen.
Das letzte Kapitel dieses Buches sagt Ihnen, was Sie in 10 Minuten für die Hälfte der Menschheit konkret tun können. Manchmal zeigt einem das Mitgefühl für andere auch den richtigen Weg für das eigene Leben. Diese Nebenwirkung ist nicht ausgeschlossen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2010Alle zwei Stunden eine Brautverbrennung
Reportagen des Grauens: In ihrem Buch "Die Hälfte des Himmels" zeigen Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn das unfassbare Leid und die erstaunliche Courage vieler Frauen in den Entwicklungsländern.
Dieses Buch ist ein Ereignis. Das bezieht sich nicht nur auf den Rummel, der vor einem Jahr das Erscheinen des amerikanischen Originals begleitete: Die "New York Times" widmete dem Manifest der beiden einflussreichen Autoren - mehrfache Pulitzer-Preisträger, die aus eigener Anschauung bestens mit der humanitären Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika vertraut sind - eine komplette Ausgabe ihres Magazins. George Clooney, Angelina Jolie, Melinda Gates, Khaled Hosseini verfassten Elogen. Gestandene Kritiker wie Carolyn See von der "Washington Post" warfen jede Neutralität über Bord - "Ich glaube wirklich, dass dies eines der wichtigsten Bücher ist, das ich je rezensiert habe" - und befahlen schlichtweg: "Keep reading!" Aus dem Stand heraus gelangte "Half the Sky" in die amerikanischen Bestsellerlisten.
Nun liegt das Kompendium über das Martyrium von Millionen Frauen in den ärmsten Regionen der Welt auch auf deutsch vor. Das Buch ist Ereignis noch in einem sehr viel direkteren Sinn. Es ereignet sich, wie wenige Bücher das tun: Einmal geöffnet, will es um keinen Preis mehr zwischen die beiden Buchdeckel passen. So sensationell die Reportagen sind, so beeindruckend die Eleganz ist, mit der Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn massenhaft länderspezifische Informationen verarbeitet haben, ohne dass je die Spannung nachließe - man folgt dieser bedrückenden Reise um die Welt tatsächlich atemlos -, die Besonderheit dieses Buches bildet seine operationale Basis. Die Biologin Rachel Carson hat 1962 ihr Sachbuch "Der stumme Frühling" vorgelegt, die Initialzündung der weltweiten Umweltbewegung. Von diesem Format ist auch "Die Hälfte des Himmels". Alles deutet hier auf Transgression: Es gibt eine Zeit zum Daten sammeln, es gibt eine Zeit zum Bücher lesen und es gibt eine Zeit zum Eingreifen. Und jetzt, dafür werfen die Autoren alles in die Waagschale, sei die Zeit reif für eine "neue Emanzipationsbewegung".
Abolitionisten wollen sie um sich scharen, denn allein die im Sexgeschäft im vollen Wortsinn versklavten Frauen und Mädchen schätzen die Autoren - und sie schätzen stets sehr vorsichtig - auf drei Millionen. Hinzu kommen Millionen von Frauen, die durch Einschüchterung und Drogen in dieses Gewerbe gezwungen wurden. Viele von ihnen werden als rechtlose Schmuggelware gehandelt: "im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert werden jährlich weitaus mehr Frauen und Mädchen in Bordelle verschifft, als im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert je binnen eines Jahres Afrikaner übers Meer auf Sklavenplantagen kamen".
Als Chronisten des Monströsen durchmessen die Autoren alle Kreise der Hölle, führen die verschiedensten Formen von Gewalt gegen Frauen auf. Alle zwei Stunden findet allein in Indien eine Brautverbrennung statt, "um die Braut für eine unzulängliche Mitgift zu bestrafen oder um sie aus dem Weg zu räumen, damit der Mann neu heiraten kann". Zu Tausenden werden Frauen auch in Pakistan lebendig verbrannt oder - neuerdings sehr beliebt - mit Säure verätzt.
Millionenfach sterben Mädchen einfach deshalb, weil ihnen ein geringerer Wert beigemessen wird als Jungen: "In jedem einzelnen Jahrzehnt wurden bei diesem alltäglichen ,Genderzid' mehr Mädchen getötet als die Gesamtzahl aller Menschen, die den Genoziden des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind." Zahllose Frauen werden vergewaltigt oder aus zusammenphantasierten Ehrengründen ermordet, straflos in vielen Ländern Asiens und Afrikas. Stammesversammlungen ordnen Massenmissbrauch oder Steinigungen an. Soldaten haben Vergewaltigungen - oft mit anschließenden Pfählungen oder den grausigsten Verstümmelungen - als probate Kriegswaffe entdeckt. Wäre nur eine Sekunde denkbar, Frauen würden so etwas Jungen und Männern antun?
Besonders schlecht ergeht es der weiblichen Hälfte der Bevölkerung, daran lassen die Autoren keinen Zweifel, in islamischen Ländern. Selbst unterdrückte Hindufrauen seien "selbständiger und in der Regel gebildeter als ihre muslimischen Nachbarinnen". Kristof und WuDunn machen sich die Position islamischer Feministinnen zu eigen, der Islam habe im siebten Jahrhundert einen Fortschritt für Frauen dargestellt, sei dann aber fatalerweise stagniert. Auf den ersten Blick scheint sich das Buch damit einzufügen in die Phalanx der Kampfschriften im Gefolge Samuel Huntingtons, nur dass die Autoren an soziologischen Aussagen über Religion gar nicht weiter interessiert sind. Als knallharte Empiriker kümmert sie allein die Situation vor Ort: "Fünf Jumbojets voller Frauen sterben Tag für Tag an Geburtskomplikationen" - da hilft keine Kulturthese weiter, sondern allein eine koordinierte Kampagne für professionelle Geburtshilfe.
Damit erklärt sich auch die stilistische Grundentscheidung, das auf breiter wissenschaftlicher Quellenbasis aufruhende Buch gleichwohl an Einzelschicksalen entlang zu schreiben. Dass sich die Autoren auf Interviews stützen, die sie über Jahrzehnte persönlich geführt haben, verleiht ihm seine ungewöhnliche Authentizität, zumal viele der Frauen auch noch mit Fotos abgebildet sind.
Dabei ist der Stil der Reportagen zu nobel, um als sensationsheischend gelten zu können, auch wenn die Schilderungen sich oft an der Grenze des Erträglichen befinden: eine Männerbande, die im indischen Slum aus Spaß einer Frau vor den Augen der Tochter die Brüste abschneidet und die Frau anschließend auf der Straße zerhackt; die malträtierte Äthiopierin Mahabouba, die nach einer Totgeburt selbst schwer verletzt den wilden Tieren zum Fraß vorgesetzt wird; die Vergewaltigung eines dreijährigen Mädchens im Osten der Demokratischen Republik Kongo, dem die Soldaten danach in den Unterleib feuern; die Steinigung einer siebzehnjährigen Kurdin im Irak: "Ihr Todeskampf dauerte dreißig Minuten" - so geht es weiter und weiter. Die Intention dahinter ist kein Geheimnis: "Wie eine wachsende Zahl psychologischer Studien zeigt, haben Statistiken eine abstumpfende Wirkung, wogegen die Schilderung individueller Schicksale geeignet ist, Menschen zum Handeln zu bewegen."
Schwer zu glauben ist nach der vorhergehenden Passage, dass "Die Hälfte des Himmels" ein Buch ist, das Hoffnung macht, denn es zoomt nicht nur unfassbare sexistische Gewalttaten in weit entfernten Regionen heran, sondern legt sein Augenmerk auf Erfolge, die mutige Frauen vorweisen können. Wir lesen von Müttern, die auf scheinbar verlorenem Posten um ihre in Bordelle verschleppten Kinder kämpfen und siegen, von vorbildlichen Sozialunternehmerinnen, von afghanischen Untergrundschulen, vom Zusammenschluss der Frauen im indischen Slum, welche den Anführer der Terrorgruppe zur Strecke bringen, indem sie ihn kollektiv erstechen (wie die Autoren empfindet man das bei aller Inkorrektheit als "Erlösung"). Vor allem aber lesen wir von der unschätzbar wertvollen Arbeit vieler basisnaher Menschenrechtsorganisationen - im Gegensatz zu den "wahrscheinlich mehr für die Hersteller von Fotokopierern und Papier als für die Armen der Welt" tuenden UN-Organisationen.
Es ist keine vollkommen neue Agenda, die Kristof und WuDunn entwerfen. Sie plädieren wie die meisten Akteure in der Entwicklungshilfe für Mikrokreditsysteme, die am besten funktionieren, wenn Frauen die Adressaten sind. Wirtschaftstheoretisch glauben sie wie Paul Collier an den vorbildlichen chinesischen Weg, den man durch Zollbegünstigungen für afrikanische Waren ebnen solle: Die chinesischen Textilfabriken hätten bei aller Ausbeutung die Berufschancen und den Status der Frauen verbessert. Die Autoren fordern ein hartes Durchgreifen gegen Zwangsprostitution, weil der weiche Weg erfolglos geblieben sei, aber eine diplomatische Strategie beim Vorgehen gegen Mädchenbeschneidungen. Überhaupt sind sie keine Dogmatiker: Prostitution aus ökonomischem Druck werde es immer geben, aber dennoch müsse sich niemand mit barbarischer Sexsklaverei abfinden. Ein "Frauenthema" sei diese Emanzipation übrigens nicht, sondern ein humanitäres Anliegen; dem amerikanischen Feminismus wird in einem Nebensatz seine Selbstbezüglichkeit um die Ohren gehauen.
Der Königsweg aus der Armuts- und Gewaltfalle ist für Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn die Bildung. Gebildete Frauen sind oft auch ökonomisch erfolgreich, was wiederum, wie die Autoren exemplarisch zeigen, ganze Dorfstrukturen zu ändern vermag. Freilich gibt es hier besonders viele Widerstände. Nicht immer aber müssen Schulden gebaut werden, oft lassen sich schon mit intelligenten und kosteneffektiven Lösungen wie der Jodierung von Speisesalz (Verminderung von Hirnschädigungen von Ungeborenen), Entwurmungen bei der Einschulung, der Subvention von Schuluniformen oder der Bezahlung der Eltern für den Schulbesuch der Kinder gewaltige Verbesserungen erzielen.
Darauf zielt auch das Projekt "Half the Sky" ab, das weit mehr ist als dieses Buch und freilich sehr amerikanisch anmutet: Die beiden Autoren stehen Al Gore in professioneller Medienhandhabung nicht nach. Diavorträge zu Kapiteln des Buches finden sich beim Sender CNN oder auf der projekteigenen Website. Auch sind genaue Handlungsanweisungen in einem Sachbuch ("Besuchen Sie die Website www.globalgiving.org") vielleicht gewöhnungsbedürftig. Wenn es die Menschheit nur einen Schritt näher zu dem Ziel bringt, dass Menschenrechte eines Tages auch für alle Frauen Geltung haben, dann ist vielleicht nicht die Zeit zu kritteln, sondern die Zeit mitzuziehen.
OLIVER JUNGEN
Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn: "Die Hälfte des Himmels". Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen. Mit einem Vorwort von Margot Käßmann. Aus dem Englischen von Karl Heinz Silber. C..H. Beck Verlag, München 2010. 360 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reportagen des Grauens: In ihrem Buch "Die Hälfte des Himmels" zeigen Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn das unfassbare Leid und die erstaunliche Courage vieler Frauen in den Entwicklungsländern.
Dieses Buch ist ein Ereignis. Das bezieht sich nicht nur auf den Rummel, der vor einem Jahr das Erscheinen des amerikanischen Originals begleitete: Die "New York Times" widmete dem Manifest der beiden einflussreichen Autoren - mehrfache Pulitzer-Preisträger, die aus eigener Anschauung bestens mit der humanitären Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika vertraut sind - eine komplette Ausgabe ihres Magazins. George Clooney, Angelina Jolie, Melinda Gates, Khaled Hosseini verfassten Elogen. Gestandene Kritiker wie Carolyn See von der "Washington Post" warfen jede Neutralität über Bord - "Ich glaube wirklich, dass dies eines der wichtigsten Bücher ist, das ich je rezensiert habe" - und befahlen schlichtweg: "Keep reading!" Aus dem Stand heraus gelangte "Half the Sky" in die amerikanischen Bestsellerlisten.
Nun liegt das Kompendium über das Martyrium von Millionen Frauen in den ärmsten Regionen der Welt auch auf deutsch vor. Das Buch ist Ereignis noch in einem sehr viel direkteren Sinn. Es ereignet sich, wie wenige Bücher das tun: Einmal geöffnet, will es um keinen Preis mehr zwischen die beiden Buchdeckel passen. So sensationell die Reportagen sind, so beeindruckend die Eleganz ist, mit der Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn massenhaft länderspezifische Informationen verarbeitet haben, ohne dass je die Spannung nachließe - man folgt dieser bedrückenden Reise um die Welt tatsächlich atemlos -, die Besonderheit dieses Buches bildet seine operationale Basis. Die Biologin Rachel Carson hat 1962 ihr Sachbuch "Der stumme Frühling" vorgelegt, die Initialzündung der weltweiten Umweltbewegung. Von diesem Format ist auch "Die Hälfte des Himmels". Alles deutet hier auf Transgression: Es gibt eine Zeit zum Daten sammeln, es gibt eine Zeit zum Bücher lesen und es gibt eine Zeit zum Eingreifen. Und jetzt, dafür werfen die Autoren alles in die Waagschale, sei die Zeit reif für eine "neue Emanzipationsbewegung".
Abolitionisten wollen sie um sich scharen, denn allein die im Sexgeschäft im vollen Wortsinn versklavten Frauen und Mädchen schätzen die Autoren - und sie schätzen stets sehr vorsichtig - auf drei Millionen. Hinzu kommen Millionen von Frauen, die durch Einschüchterung und Drogen in dieses Gewerbe gezwungen wurden. Viele von ihnen werden als rechtlose Schmuggelware gehandelt: "im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert werden jährlich weitaus mehr Frauen und Mädchen in Bordelle verschifft, als im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert je binnen eines Jahres Afrikaner übers Meer auf Sklavenplantagen kamen".
Als Chronisten des Monströsen durchmessen die Autoren alle Kreise der Hölle, führen die verschiedensten Formen von Gewalt gegen Frauen auf. Alle zwei Stunden findet allein in Indien eine Brautverbrennung statt, "um die Braut für eine unzulängliche Mitgift zu bestrafen oder um sie aus dem Weg zu räumen, damit der Mann neu heiraten kann". Zu Tausenden werden Frauen auch in Pakistan lebendig verbrannt oder - neuerdings sehr beliebt - mit Säure verätzt.
Millionenfach sterben Mädchen einfach deshalb, weil ihnen ein geringerer Wert beigemessen wird als Jungen: "In jedem einzelnen Jahrzehnt wurden bei diesem alltäglichen ,Genderzid' mehr Mädchen getötet als die Gesamtzahl aller Menschen, die den Genoziden des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind." Zahllose Frauen werden vergewaltigt oder aus zusammenphantasierten Ehrengründen ermordet, straflos in vielen Ländern Asiens und Afrikas. Stammesversammlungen ordnen Massenmissbrauch oder Steinigungen an. Soldaten haben Vergewaltigungen - oft mit anschließenden Pfählungen oder den grausigsten Verstümmelungen - als probate Kriegswaffe entdeckt. Wäre nur eine Sekunde denkbar, Frauen würden so etwas Jungen und Männern antun?
Besonders schlecht ergeht es der weiblichen Hälfte der Bevölkerung, daran lassen die Autoren keinen Zweifel, in islamischen Ländern. Selbst unterdrückte Hindufrauen seien "selbständiger und in der Regel gebildeter als ihre muslimischen Nachbarinnen". Kristof und WuDunn machen sich die Position islamischer Feministinnen zu eigen, der Islam habe im siebten Jahrhundert einen Fortschritt für Frauen dargestellt, sei dann aber fatalerweise stagniert. Auf den ersten Blick scheint sich das Buch damit einzufügen in die Phalanx der Kampfschriften im Gefolge Samuel Huntingtons, nur dass die Autoren an soziologischen Aussagen über Religion gar nicht weiter interessiert sind. Als knallharte Empiriker kümmert sie allein die Situation vor Ort: "Fünf Jumbojets voller Frauen sterben Tag für Tag an Geburtskomplikationen" - da hilft keine Kulturthese weiter, sondern allein eine koordinierte Kampagne für professionelle Geburtshilfe.
Damit erklärt sich auch die stilistische Grundentscheidung, das auf breiter wissenschaftlicher Quellenbasis aufruhende Buch gleichwohl an Einzelschicksalen entlang zu schreiben. Dass sich die Autoren auf Interviews stützen, die sie über Jahrzehnte persönlich geführt haben, verleiht ihm seine ungewöhnliche Authentizität, zumal viele der Frauen auch noch mit Fotos abgebildet sind.
Dabei ist der Stil der Reportagen zu nobel, um als sensationsheischend gelten zu können, auch wenn die Schilderungen sich oft an der Grenze des Erträglichen befinden: eine Männerbande, die im indischen Slum aus Spaß einer Frau vor den Augen der Tochter die Brüste abschneidet und die Frau anschließend auf der Straße zerhackt; die malträtierte Äthiopierin Mahabouba, die nach einer Totgeburt selbst schwer verletzt den wilden Tieren zum Fraß vorgesetzt wird; die Vergewaltigung eines dreijährigen Mädchens im Osten der Demokratischen Republik Kongo, dem die Soldaten danach in den Unterleib feuern; die Steinigung einer siebzehnjährigen Kurdin im Irak: "Ihr Todeskampf dauerte dreißig Minuten" - so geht es weiter und weiter. Die Intention dahinter ist kein Geheimnis: "Wie eine wachsende Zahl psychologischer Studien zeigt, haben Statistiken eine abstumpfende Wirkung, wogegen die Schilderung individueller Schicksale geeignet ist, Menschen zum Handeln zu bewegen."
Schwer zu glauben ist nach der vorhergehenden Passage, dass "Die Hälfte des Himmels" ein Buch ist, das Hoffnung macht, denn es zoomt nicht nur unfassbare sexistische Gewalttaten in weit entfernten Regionen heran, sondern legt sein Augenmerk auf Erfolge, die mutige Frauen vorweisen können. Wir lesen von Müttern, die auf scheinbar verlorenem Posten um ihre in Bordelle verschleppten Kinder kämpfen und siegen, von vorbildlichen Sozialunternehmerinnen, von afghanischen Untergrundschulen, vom Zusammenschluss der Frauen im indischen Slum, welche den Anführer der Terrorgruppe zur Strecke bringen, indem sie ihn kollektiv erstechen (wie die Autoren empfindet man das bei aller Inkorrektheit als "Erlösung"). Vor allem aber lesen wir von der unschätzbar wertvollen Arbeit vieler basisnaher Menschenrechtsorganisationen - im Gegensatz zu den "wahrscheinlich mehr für die Hersteller von Fotokopierern und Papier als für die Armen der Welt" tuenden UN-Organisationen.
Es ist keine vollkommen neue Agenda, die Kristof und WuDunn entwerfen. Sie plädieren wie die meisten Akteure in der Entwicklungshilfe für Mikrokreditsysteme, die am besten funktionieren, wenn Frauen die Adressaten sind. Wirtschaftstheoretisch glauben sie wie Paul Collier an den vorbildlichen chinesischen Weg, den man durch Zollbegünstigungen für afrikanische Waren ebnen solle: Die chinesischen Textilfabriken hätten bei aller Ausbeutung die Berufschancen und den Status der Frauen verbessert. Die Autoren fordern ein hartes Durchgreifen gegen Zwangsprostitution, weil der weiche Weg erfolglos geblieben sei, aber eine diplomatische Strategie beim Vorgehen gegen Mädchenbeschneidungen. Überhaupt sind sie keine Dogmatiker: Prostitution aus ökonomischem Druck werde es immer geben, aber dennoch müsse sich niemand mit barbarischer Sexsklaverei abfinden. Ein "Frauenthema" sei diese Emanzipation übrigens nicht, sondern ein humanitäres Anliegen; dem amerikanischen Feminismus wird in einem Nebensatz seine Selbstbezüglichkeit um die Ohren gehauen.
Der Königsweg aus der Armuts- und Gewaltfalle ist für Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn die Bildung. Gebildete Frauen sind oft auch ökonomisch erfolgreich, was wiederum, wie die Autoren exemplarisch zeigen, ganze Dorfstrukturen zu ändern vermag. Freilich gibt es hier besonders viele Widerstände. Nicht immer aber müssen Schulden gebaut werden, oft lassen sich schon mit intelligenten und kosteneffektiven Lösungen wie der Jodierung von Speisesalz (Verminderung von Hirnschädigungen von Ungeborenen), Entwurmungen bei der Einschulung, der Subvention von Schuluniformen oder der Bezahlung der Eltern für den Schulbesuch der Kinder gewaltige Verbesserungen erzielen.
Darauf zielt auch das Projekt "Half the Sky" ab, das weit mehr ist als dieses Buch und freilich sehr amerikanisch anmutet: Die beiden Autoren stehen Al Gore in professioneller Medienhandhabung nicht nach. Diavorträge zu Kapiteln des Buches finden sich beim Sender CNN oder auf der projekteigenen Website. Auch sind genaue Handlungsanweisungen in einem Sachbuch ("Besuchen Sie die Website www.globalgiving.org") vielleicht gewöhnungsbedürftig. Wenn es die Menschheit nur einen Schritt näher zu dem Ziel bringt, dass Menschenrechte eines Tages auch für alle Frauen Geltung haben, dann ist vielleicht nicht die Zeit zu kritteln, sondern die Zeit mitzuziehen.
OLIVER JUNGEN
Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn: "Die Hälfte des Himmels". Wie Frauen weltweit für eine bessere Zukunft kämpfen. Mit einem Vorwort von Margot Käßmann. Aus dem Englischen von Karl Heinz Silber. C..H. Beck Verlag, München 2010. 360 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2010Das malträtierte Geschlecht
Vielerorts werden sie schlechter behandelt als Vieh: Zwei Reporter erzählen von Unterdrückung und Aufbegehren der Frauen
Vor wenigen Monaten haben die Vereinten Nationen, von der Welt kaum zur Kenntnis genommen, eine neue Unterorganisation gegründet: UN Women. Michelle Bachelet, die einstige chilenische Präsidentin, wird das Projekt leiten, das sich der „Geschlechtergleichheit“ verschrieben hat. Generalsekretär Ban Ki Moon verkündete bei ihrer Ernennung: „Gleichheit für Frauen und Mädchen ist nicht nur ein Menschenrecht, sie ist auch ein sozialer und ökonomischer Imperativ. Wo Frauen ausgebildet und gestärkt werden, sind Ökonomien starker und produktiver. Wo Frauen gut repräsentiert sind, sind auch Gesellschaften stabiler und friedlicher.“ Das klingt schön und feierlich – und sehr modern. Frauenrechte und Frauen-Karrieren haben Konjunktur – jedenfalls in der westlichen Welt und in ihren Medien.
Und da kommt nun dieses Buch vom C.H. Beck Verlag, dummerweise aufgemacht wie ein Multikulti-Werbeprospekt für die Unesco, betitelt wie ein Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung. Doch konterkariert das Buch alles, was an westlicher Selbstbespiegelung und Was-haben-wir-nicht-schon-alles-erreicht-Euphorie derzeit kursiert. Die Autoren, Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn, sind als Ehepaar für ihre Berichterstattung über China für die New York Times gemeinsam mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden; sie verbinden die amerikanische journalistische Tugend lebendigen, beispielhaften Erzählens mit klugen Analysen und einer klaren Meinung.
In ihrem überaus stoffreichen Buch geht es um Frauen als Opfer. Mitunter geht es auch um Frauen, die zu Täterinnen werden, dies zumeist in Kulturen, in denen Frauen selbst in den Augen ihres eigenen Geschlechts wenig wert sind. Es geht um Millionen, ja Milliarden vergessene Frauen und deren Überlebenskampf, der in der Politik wie in der Entwicklungsarbeit nur geringen Raum einnimmt.
Die Autoren schreiben über Zwangsprostitution und Versklavung in asiatischen Bordellen, in denen Mädchen gefangen gehalten und über Jahre fünf, zehn, fünfzehn Mal täglich an Freier verkauft werden. Wenn sie schwanger werden, nimmt man ihnen die Töchter weg und zieht diese groß, bis sie als kleine Jungfrauen wiederum verkauft werden können; Söhne werden zu Haussklaven gemacht. Wenn die Frauen zu fliehen versuchen, werden sie gefoltert oder eingesperrt, bis sie nicht mehr sprechen, nicht mehr laufen können.
Kristof und WuDunn schreiben über Genitalbeschneidungen, Brautverbrennungen, Mädchenmord. In den vergangenen 50 Jahren wurden „mehr Mädchen getötet, nur weil sie Mädchen waren, als die Gesamtzahl aller Männer, die in den Schlachten des zwanzigsten Jahrhunderts zu Tode gekommen sind. In jedem einzelnen Jahrzehnt wurden bei diesem alltäglichen Genderzid mehr Mädchen getötet als die Gesamtzahl der Menschen, die den Genoziden des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind“.
Die Autoren schreiben über Massenvergewaltigungen als Kriegsmittel. „Die Zahl der Massenvergewaltigungen in Bürgerkriegen ist atemberaubend. In Sierra Leone wurden im Laufe der Kämpfe der letzten Jahre die Hälfte der Frauen Opfer sexueller Gewalt; in Liberia wurden einem Bericht der UN zufolge während des dortigen Bürgerkrieges sogar 90 Prozent aller über drei Jahre alten Mädchen und Frauen sexuell missbraucht.“ Verbreitet ist auch die Vergewaltigung einzelner Frauen durch Gruppen von Männern als Disziplinierungsmethode in lokalen oder familiären Konflikten. Die Autoren nennen das „Ehrenvergewaltigungen“ in Anlehnung an „Ehrenmorde“. Sexuelle Ehrenkodizes, so Kristof und WuDunn, also die „heilige weibliche Keuschheit“, wirkten auf den ersten Blick so, als schützten sie Frauen vor Übergriffen, tatsächlich aber schafften sie die Voraussetzung dafür, „dass mit der systematischen Entehrung von Frauen Macht gewonnen und demonstriert wird“.
Das Buch, das den Leser zunehmend verstört, beschreibt Fallgeschichten von „Ehrenmorden“ und Säure-Attentaten. Es schildert den Alltag in jenen Ländern, in denen kranke Frauen regelmäßig sterben, weil man sie nicht für wert befindet, gerettet zu werden. Es erzählt von der weltweit so sehr verbreiteten und so sehr ignorierten Müttersterblichkeit, weil man lieber eine Frau im Kindbett verrecken lässt, als Aufwand für Mutter und Baby zu treiben. Es handelt von dem verdrängten, vergessenen Drama der „Fisteln“. Eine Unterleibsfistel ist ein Loch in der Gebärmutter oder im Rektum, durch das Kot oder Urin in die Vagina läuft; sie entsteht bei Geburtskomplikationen oder durch äußere Gewalt. Die Opfer stinken erbärmlich, sie werden aus den Dorfgemeinschaften ausgeschlossen, von ihren Familien verstoßen, sie sind die „Aussätzigen unserer Zeit“. Eine Fistel zu nähen, ist ein relativ einfacher, preiswerter Eingriff. Doch allein in Afrika gibt es alljährlich rund 130 000 neue Fistel-Patientinnen, die nicht behandelt werden.
Gleichwohl ist „Die Hälfte des Himmels“ mehr als eine Weltreise zu den Gepeinigten und Erniedrigten dieser Welt. Für jedes entsetzliche Schicksal, das die weitgereisten Autoren aus eigener Anschauung schildern, präsentieren sie auch eine Geschichte, die von Hoffnung kündet. Sie erzählen von Frauen, die davongekommen sind, von Frauen, die sich gegen ihre Peiniger erhoben haben, die selbst Schulen, Krankenhäuser, Hilfseinrichtungen gegründet haben. Sie stellen kleine Projekte vor, die an vergessenen Orten vergessene Menschen versorgen. Sie zeigen beispielhaft, dass gezielte Hilfe von „unten“, auf dem Land, in entlegenen Dörfern, oft mehr bewirkt als Schaufensterprojekte von „oben“, in den Städten.
Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn ermöglichen mit ihrem Buch einen langen Blick in die Hölle – und einen kurzen auf Verhältnisse, die in Europa normal sind, sich für die Betroffenen aber wie himmlische Zustände ausnehmen. CATHRIN KAHLWEIT
NICHOLAS D. KRISTOF, SHERYL WUDUNN: Die Hälfte des Himmels . Wie Frauen um eine bessere Welt kämpfen. Vorwort von Margot Käßmann. Aus dem Amerikanischen von Karl H. Siber. C.H. Beck, München 2010. 360 S., 19, 95 Euro.
Die Sorge: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, eher lernen Giraffen fliegen, als dass Frauen anständig behandelt werden.
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Vielerorts werden sie schlechter behandelt als Vieh: Zwei Reporter erzählen von Unterdrückung und Aufbegehren der Frauen
Vor wenigen Monaten haben die Vereinten Nationen, von der Welt kaum zur Kenntnis genommen, eine neue Unterorganisation gegründet: UN Women. Michelle Bachelet, die einstige chilenische Präsidentin, wird das Projekt leiten, das sich der „Geschlechtergleichheit“ verschrieben hat. Generalsekretär Ban Ki Moon verkündete bei ihrer Ernennung: „Gleichheit für Frauen und Mädchen ist nicht nur ein Menschenrecht, sie ist auch ein sozialer und ökonomischer Imperativ. Wo Frauen ausgebildet und gestärkt werden, sind Ökonomien starker und produktiver. Wo Frauen gut repräsentiert sind, sind auch Gesellschaften stabiler und friedlicher.“ Das klingt schön und feierlich – und sehr modern. Frauenrechte und Frauen-Karrieren haben Konjunktur – jedenfalls in der westlichen Welt und in ihren Medien.
Und da kommt nun dieses Buch vom C.H. Beck Verlag, dummerweise aufgemacht wie ein Multikulti-Werbeprospekt für die Unesco, betitelt wie ein Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung. Doch konterkariert das Buch alles, was an westlicher Selbstbespiegelung und Was-haben-wir-nicht-schon-alles-erreicht-Euphorie derzeit kursiert. Die Autoren, Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn, sind als Ehepaar für ihre Berichterstattung über China für die New York Times gemeinsam mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden; sie verbinden die amerikanische journalistische Tugend lebendigen, beispielhaften Erzählens mit klugen Analysen und einer klaren Meinung.
In ihrem überaus stoffreichen Buch geht es um Frauen als Opfer. Mitunter geht es auch um Frauen, die zu Täterinnen werden, dies zumeist in Kulturen, in denen Frauen selbst in den Augen ihres eigenen Geschlechts wenig wert sind. Es geht um Millionen, ja Milliarden vergessene Frauen und deren Überlebenskampf, der in der Politik wie in der Entwicklungsarbeit nur geringen Raum einnimmt.
Die Autoren schreiben über Zwangsprostitution und Versklavung in asiatischen Bordellen, in denen Mädchen gefangen gehalten und über Jahre fünf, zehn, fünfzehn Mal täglich an Freier verkauft werden. Wenn sie schwanger werden, nimmt man ihnen die Töchter weg und zieht diese groß, bis sie als kleine Jungfrauen wiederum verkauft werden können; Söhne werden zu Haussklaven gemacht. Wenn die Frauen zu fliehen versuchen, werden sie gefoltert oder eingesperrt, bis sie nicht mehr sprechen, nicht mehr laufen können.
Kristof und WuDunn schreiben über Genitalbeschneidungen, Brautverbrennungen, Mädchenmord. In den vergangenen 50 Jahren wurden „mehr Mädchen getötet, nur weil sie Mädchen waren, als die Gesamtzahl aller Männer, die in den Schlachten des zwanzigsten Jahrhunderts zu Tode gekommen sind. In jedem einzelnen Jahrzehnt wurden bei diesem alltäglichen Genderzid mehr Mädchen getötet als die Gesamtzahl der Menschen, die den Genoziden des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind“.
Die Autoren schreiben über Massenvergewaltigungen als Kriegsmittel. „Die Zahl der Massenvergewaltigungen in Bürgerkriegen ist atemberaubend. In Sierra Leone wurden im Laufe der Kämpfe der letzten Jahre die Hälfte der Frauen Opfer sexueller Gewalt; in Liberia wurden einem Bericht der UN zufolge während des dortigen Bürgerkrieges sogar 90 Prozent aller über drei Jahre alten Mädchen und Frauen sexuell missbraucht.“ Verbreitet ist auch die Vergewaltigung einzelner Frauen durch Gruppen von Männern als Disziplinierungsmethode in lokalen oder familiären Konflikten. Die Autoren nennen das „Ehrenvergewaltigungen“ in Anlehnung an „Ehrenmorde“. Sexuelle Ehrenkodizes, so Kristof und WuDunn, also die „heilige weibliche Keuschheit“, wirkten auf den ersten Blick so, als schützten sie Frauen vor Übergriffen, tatsächlich aber schafften sie die Voraussetzung dafür, „dass mit der systematischen Entehrung von Frauen Macht gewonnen und demonstriert wird“.
Das Buch, das den Leser zunehmend verstört, beschreibt Fallgeschichten von „Ehrenmorden“ und Säure-Attentaten. Es schildert den Alltag in jenen Ländern, in denen kranke Frauen regelmäßig sterben, weil man sie nicht für wert befindet, gerettet zu werden. Es erzählt von der weltweit so sehr verbreiteten und so sehr ignorierten Müttersterblichkeit, weil man lieber eine Frau im Kindbett verrecken lässt, als Aufwand für Mutter und Baby zu treiben. Es handelt von dem verdrängten, vergessenen Drama der „Fisteln“. Eine Unterleibsfistel ist ein Loch in der Gebärmutter oder im Rektum, durch das Kot oder Urin in die Vagina läuft; sie entsteht bei Geburtskomplikationen oder durch äußere Gewalt. Die Opfer stinken erbärmlich, sie werden aus den Dorfgemeinschaften ausgeschlossen, von ihren Familien verstoßen, sie sind die „Aussätzigen unserer Zeit“. Eine Fistel zu nähen, ist ein relativ einfacher, preiswerter Eingriff. Doch allein in Afrika gibt es alljährlich rund 130 000 neue Fistel-Patientinnen, die nicht behandelt werden.
Gleichwohl ist „Die Hälfte des Himmels“ mehr als eine Weltreise zu den Gepeinigten und Erniedrigten dieser Welt. Für jedes entsetzliche Schicksal, das die weitgereisten Autoren aus eigener Anschauung schildern, präsentieren sie auch eine Geschichte, die von Hoffnung kündet. Sie erzählen von Frauen, die davongekommen sind, von Frauen, die sich gegen ihre Peiniger erhoben haben, die selbst Schulen, Krankenhäuser, Hilfseinrichtungen gegründet haben. Sie stellen kleine Projekte vor, die an vergessenen Orten vergessene Menschen versorgen. Sie zeigen beispielhaft, dass gezielte Hilfe von „unten“, auf dem Land, in entlegenen Dörfern, oft mehr bewirkt als Schaufensterprojekte von „oben“, in den Städten.
Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn ermöglichen mit ihrem Buch einen langen Blick in die Hölle – und einen kurzen auf Verhältnisse, die in Europa normal sind, sich für die Betroffenen aber wie himmlische Zustände ausnehmen. CATHRIN KAHLWEIT
NICHOLAS D. KRISTOF, SHERYL WUDUNN: Die Hälfte des Himmels . Wie Frauen um eine bessere Welt kämpfen. Vorwort von Margot Käßmann. Aus dem Amerikanischen von Karl H. Siber. C.H. Beck, München 2010. 360 S., 19, 95 Euro.
Die Sorge: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, eher lernen Giraffen fliegen, als dass Frauen anständig behandelt werden.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Oliver Jungens persönliche Erschütterung über die Frauenschicksale, die die amerikanischen Autoren Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn in ihrem Buch über Frauenunterdrückung und Frauenemanzipation in den ärmsten Ländern der Welt in Fallbeispielen beschreiben, dringt aus jeder Zeile seiner Rezension. Dieses Buch sei ein "Ereignis", nicht nur weil es bei seinem Erscheinen im amerikanischen Original viel Wirbel machte (Kritiker vergaßen ihren Neutralität!, staunt Jungen), sondern weil es so aufrüttelnd sei, betont der Rezensent. Jungen nennt kurz bestürzende Fälle von Gewalt gegen Frauen. Er schreibt dem Buch aber dennoch zu, trotz der immer unvorstellbaren Gewaltakte wie der Tötung ungewollter Mädchen, Brautverbrennung, Genitalverstümmelung oder Ehrenmorde "Hoffnung" zu machen auf Veränderungen. Was die Autoren diesbezüglich vorschlagen, ist in den Augen des Rezensenten zwar nicht unbedingt neu, das Aufrüttelungspotenzial dieses Buches aber und zudem das undogmatische Auftreten von Kristof und WuDunn machen es dennoch zur eminent wichtigen Lektüre, die zu aktivem Einschreiten aufruft, wie Jungen beschwört.
© Perlentaucher Medien GmbH
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