Als Partys noch Feten hießen
Zwischen der Karl-Marx-Straße in Neukölln, Ku damm-Kinos und KaDeWe, zwischen dem Schrebergarten in Britz, Forum Steglitz und Europa-Center eine Zeitreise zu einem verschwundenen Archipel und den Menschen, die ihn bewohnten: West-Berlin. Schillernd komische Geschichten aus der halben Stadt, die es nicht mehr gibt.
"Wenn einer eine Stadt wie Berlin volley nehmen kann, dann ist es Ulrike Sterblich." Wolfgang Herrndorf
"Wie absurd die Lage von Berlin (West) war, wird einem erst heute im Rückblick klar. Als Junge wusste ich nur, ich brauche keinen Kompass. Egal wohin man lief, es war immer Osten." Eckart von Hirschhausen
Zwischen der Karl-Marx-Straße in Neukölln, Ku damm-Kinos und KaDeWe, zwischen dem Schrebergarten in Britz, Forum Steglitz und Europa-Center eine Zeitreise zu einem verschwundenen Archipel und den Menschen, die ihn bewohnten: West-Berlin. Schillernd komische Geschichten aus der halben Stadt, die es nicht mehr gibt.
"Wenn einer eine Stadt wie Berlin volley nehmen kann, dann ist es Ulrike Sterblich." Wolfgang Herrndorf
"Wie absurd die Lage von Berlin (West) war, wird einem erst heute im Rückblick klar. Als Junge wusste ich nur, ich brauche keinen Kompass. Egal wohin man lief, es war immer Osten." Eckart von Hirschhausen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2012Literatur Es fängt mit einer großen Verblüffung an, darüber, dass auch Ost-Berlin "ganz normal mit drin war in meinem zerfledderten Falk-Plan", und hört mit einem Blick auf den Mercedesstern auf dem Europa-Center auf. Und zwischendrin geht es um "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt" (rororo, 9,99 Euro), um die Kindheit von Ulrike Sterblich in Berlin (West). Um Minigolf in Steglitz. Um GIs in Lichterfelde. Ums Ausgehen in Neukölln, als noch keiner wusste, dass das mal das nächste große Ding werden würde. Um eine Zeit, in der es in Berlin noch keine Wessis gab, weil Wessis die waren, die aus dem Rest der Republik kamen. Um "die große Gruppe derer, die im Berlin der Achtziger noch zu jung waren, um zu irgendeiner interessanten oder gesellschaftlich relevanten Gruppe zu gehören". All das musste dringend mal aufgeschrieben werden, und zwar genau so (erscheint am 1. Oktober).
stau
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2012Ick fass dit alles nich
Mauer, Dschungel, Helga Goetze: Ulrike Sterblich erzählt von einer Kindheit in West-Berlin
Es war an der Zeit, einmal wieder an Helga Goetze zu erinnern, jene wackere Künstlerin, die kaum einen Tag ausließ, Passanten zur Paarung oder wenigstens zur Onanie aufzufordern. Meist stand sie im Umkreis der Gedächtniskirche, ab und an auch vor der Mensa der Technischen Universität Berlin. Ihre Botschaft blieb all die Jahre die gleiche: „Ficken ist Frieden!“
Den Ostdeutschen, die im November und Dezember 1989 die ihnen bis dahin verbotene Stadt erkundeten, fiel Helga Goetze auf. Sie schien für eine kauzigere, unbekümmerte, rebellischere Lebensart zu stehen. „Die ist immer da“, „die hat mal mit Rosa von Praunheim zu tun gehabt“, bemerkten die coolen West-Berliner, und wer, aus dem Ostteil der Stadt kommend, nicht als Provinzler, nicht als „Wessi“ gelten wollte, lernte rasch, an der Oma, Jahrgang 1922, desinteressiert vorüberzugehen. Sie starb im Januar 2008.
Nun hat Helga Goetze als „die verrückte Oma“ einen Kurzauftritt in den Erinnerungen der Journalistin Ulrike Sterblich an ihre Kindheit in West-Berlin: „Sie hatte kurze graue Haare, war zweckmäßig und wetterfest gekleidet, trug eine praktische Tasche bei sich und saß oder stand auf den Stufen der Kirche mit mehreren Plakaten und Transparenten . . . “. Das Mädchen, von dessen Heranwachsen in der eingemauerten Stadt Sterblich erzählt, hat gerade ihr erstes Date: „Wir mussten sie also unbedingt meiden, zwei katholische Schüler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt . . .“.
Die Situation ist nicht ohne Reiz. Leicht ließe sich aus ihr etwas Interessantes entwickeln über die untergegangene Halb-Stadt, die nur versteht, wer Heinrich Lummer und David Bowie, Rio Reiser und Walter Momper, Wolfgang Antes und Peter Stein zusammenzudenken versucht. Ulrike Sterblich aber, Jahrgang 1970, knüpft kein Gefühl, keinen Gedanken an die Begegnung. Sie schlendert noch kurz durchs Europa-Center und schon ist auch dieses Kapitel vorüber und wird wie all die anderen mit knappen Stadtführer-Infos abgeschlossen.
Auf ein Buch wie dieses, das Erinnertes und Erfundenes zusammenspannt, hat man eigentlich gewartet, denn West-Berlin, Frontstadt, Schaufenster der Freiheit, „besondere politische Einheit“, vor allem aber ein Lebens- und Zeitgefühl, ist trotz F. C. Delius und Bernd Cailloux noch lange nicht auserzählt. Nur – so, wie es hier geschieht, geht es nicht. Als habe sie eine Liste von Pflichtaufgaben abzuarbeiten, stolpert Sterblich durch die Stadtteile, verknüpft überwiegend belanglose Schülerinnenerinnerungen mit zeithistorischen und touristischen Auskünften. Selbst ihre Schilderungen über Besuche in Ost-Berlin, das Austausch-Jahr in Amerika oder die Fahrt durch Geisterbahnhöfe bleiben vorhersehbar, ohne Spannung, ohne Witz. Gern erfährt man, dass ein Ortsgespräch in West-Berlin nur 23 Pfennige kostete und es keine Zeittaktung gab, auch nachdem den Bundesbürgern eine solche verordnet wurde. Ein Buch aber braucht Rhythmus, Takt, eine Erzählhaltung.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass man all dies hier vermisst, dass die Kleinmädchen-Perspektive, die Sterblich bis zum Schluss beibehält, besonders ärgert, wenn es um West-Berlin geht. Für DDR-Erinnerungen hat sie sich bewährt, da der Staat seine Untertanen in ein familiäres Verhältnis zwang und sie gern infantil gehalten hätte. Der Widerstreit von Kindersicht und Erziehungsdiktatur gibt für die DDR etwas her.
Aber für West-Berlin? Die Schrecken der Teilung, des Kalten Krieges waren hier ständig präsent, und doch entwickelte sich in Politik wie Kultur ein eigenartiger Kult des Uneigentlichen, des Lebens im Provisorium, im Entwurfsmodus. Ein paar Diskotheken und Amüsierbetriebe, darunter den grausam hellen „Dschungel“, erwähnt auch Sterblich. Aber ihr fehlt das Sensorium für Inszenierungen, für Camp und Boheme. Stattdessen beschreibt sie umständlich allgemein Ausgehvorbereitungen.
West-Berlin musste nach 1990 mit dem plötzlichen Entzug von Geld, Aufmerksamkeit und Liebe leben lernen. Sein Geist aber prägt die Berliner Republik mehr, als meist zugegeben wird. Warum das so ist, was heute an West-Berlin interessant sein könnte – dieses Buch erstickt jede Frage in Langeweile.
JENS BISKY
West-Berlin ist noch lange nicht
auserzählt – hier schon gar nicht
Ulrike Sterblich: Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2012. 368 Seiten, 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mauer, Dschungel, Helga Goetze: Ulrike Sterblich erzählt von einer Kindheit in West-Berlin
Es war an der Zeit, einmal wieder an Helga Goetze zu erinnern, jene wackere Künstlerin, die kaum einen Tag ausließ, Passanten zur Paarung oder wenigstens zur Onanie aufzufordern. Meist stand sie im Umkreis der Gedächtniskirche, ab und an auch vor der Mensa der Technischen Universität Berlin. Ihre Botschaft blieb all die Jahre die gleiche: „Ficken ist Frieden!“
Den Ostdeutschen, die im November und Dezember 1989 die ihnen bis dahin verbotene Stadt erkundeten, fiel Helga Goetze auf. Sie schien für eine kauzigere, unbekümmerte, rebellischere Lebensart zu stehen. „Die ist immer da“, „die hat mal mit Rosa von Praunheim zu tun gehabt“, bemerkten die coolen West-Berliner, und wer, aus dem Ostteil der Stadt kommend, nicht als Provinzler, nicht als „Wessi“ gelten wollte, lernte rasch, an der Oma, Jahrgang 1922, desinteressiert vorüberzugehen. Sie starb im Januar 2008.
Nun hat Helga Goetze als „die verrückte Oma“ einen Kurzauftritt in den Erinnerungen der Journalistin Ulrike Sterblich an ihre Kindheit in West-Berlin: „Sie hatte kurze graue Haare, war zweckmäßig und wetterfest gekleidet, trug eine praktische Tasche bei sich und saß oder stand auf den Stufen der Kirche mit mehreren Plakaten und Transparenten . . . “. Das Mädchen, von dessen Heranwachsen in der eingemauerten Stadt Sterblich erzählt, hat gerade ihr erstes Date: „Wir mussten sie also unbedingt meiden, zwei katholische Schüler, fünfzehn und sechzehn Jahre alt . . .“.
Die Situation ist nicht ohne Reiz. Leicht ließe sich aus ihr etwas Interessantes entwickeln über die untergegangene Halb-Stadt, die nur versteht, wer Heinrich Lummer und David Bowie, Rio Reiser und Walter Momper, Wolfgang Antes und Peter Stein zusammenzudenken versucht. Ulrike Sterblich aber, Jahrgang 1970, knüpft kein Gefühl, keinen Gedanken an die Begegnung. Sie schlendert noch kurz durchs Europa-Center und schon ist auch dieses Kapitel vorüber und wird wie all die anderen mit knappen Stadtführer-Infos abgeschlossen.
Auf ein Buch wie dieses, das Erinnertes und Erfundenes zusammenspannt, hat man eigentlich gewartet, denn West-Berlin, Frontstadt, Schaufenster der Freiheit, „besondere politische Einheit“, vor allem aber ein Lebens- und Zeitgefühl, ist trotz F. C. Delius und Bernd Cailloux noch lange nicht auserzählt. Nur – so, wie es hier geschieht, geht es nicht. Als habe sie eine Liste von Pflichtaufgaben abzuarbeiten, stolpert Sterblich durch die Stadtteile, verknüpft überwiegend belanglose Schülerinnenerinnerungen mit zeithistorischen und touristischen Auskünften. Selbst ihre Schilderungen über Besuche in Ost-Berlin, das Austausch-Jahr in Amerika oder die Fahrt durch Geisterbahnhöfe bleiben vorhersehbar, ohne Spannung, ohne Witz. Gern erfährt man, dass ein Ortsgespräch in West-Berlin nur 23 Pfennige kostete und es keine Zeittaktung gab, auch nachdem den Bundesbürgern eine solche verordnet wurde. Ein Buch aber braucht Rhythmus, Takt, eine Erzählhaltung.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass man all dies hier vermisst, dass die Kleinmädchen-Perspektive, die Sterblich bis zum Schluss beibehält, besonders ärgert, wenn es um West-Berlin geht. Für DDR-Erinnerungen hat sie sich bewährt, da der Staat seine Untertanen in ein familiäres Verhältnis zwang und sie gern infantil gehalten hätte. Der Widerstreit von Kindersicht und Erziehungsdiktatur gibt für die DDR etwas her.
Aber für West-Berlin? Die Schrecken der Teilung, des Kalten Krieges waren hier ständig präsent, und doch entwickelte sich in Politik wie Kultur ein eigenartiger Kult des Uneigentlichen, des Lebens im Provisorium, im Entwurfsmodus. Ein paar Diskotheken und Amüsierbetriebe, darunter den grausam hellen „Dschungel“, erwähnt auch Sterblich. Aber ihr fehlt das Sensorium für Inszenierungen, für Camp und Boheme. Stattdessen beschreibt sie umständlich allgemein Ausgehvorbereitungen.
West-Berlin musste nach 1990 mit dem plötzlichen Entzug von Geld, Aufmerksamkeit und Liebe leben lernen. Sein Geist aber prägt die Berliner Republik mehr, als meist zugegeben wird. Warum das so ist, was heute an West-Berlin interessant sein könnte – dieses Buch erstickt jede Frage in Langeweile.
JENS BISKY
West-Berlin ist noch lange nicht
auserzählt – hier schon gar nicht
Ulrike Sterblich: Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2012. 368 Seiten, 9,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eigentlich hat Jens Bisky auf so ein Buch gewartet: Eines über West-Berlin, das "Erinnertes und Erfundenes zusammenspannt", das die Entwurfartigkeit, die Unartigkeit der halben Stadt erfahrbar macht. Dieses Buch hat Ulrike Sterblich nicht geschrieben, bedauert er. Stattdessen wirken die Episoden in "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt" auf Bisky schematisch und größtenteils belanglos. Es kommt ihm vor, als hätte Sterblich eine "Liste von Pflichtaufgaben" geschrieben und abgearbeitet. Dabei seien schöne Ansätze vorhanden, doch sie mache nichts daraus. Stattdessen entscheide sie sich für eine kindliche Perspektive, die sich für die Beschreibung der DDR bewährt habe. Nur ist das Verhältnis der DDR zu ihren Bürgern auch eines gewesen, das diese etwas infantile Sicht hilfreich macht; genau so sollten die "Untertanen" sein, die Perspektive spiegelt das Verhältnis, erklärt der Rezensent. West-Berlin braucht eine andere Stimme, findet er. Es muss anderes präsent sein: die Teilung, der Kalte Krieg, das Gefühl eines "Lebens im Provisorium", Camp, Boheme. Sterblichs Erinnerungen in "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt" geben das nicht her, urteilt Bisky harsch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Wenn einer eine Stadt wie Berlin volley nehmen kann, dann ist es Ulrike Sterblich." -- Wolfgang Herrndorf
All das musste dringend mal aufgeschrieben werden, und zwar genau so. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung