Die sechsundsechzigtägige Reise des Offiziers Alfons van Worden gibt den Handlungsrahmen ab für Potockis phantastisch-phantasievolles Erzählwerk Die Handschrift von Saragossa. Seine Lust am Okkultismus wie die Lust am Galanten, gepaart mit einer intelligenten Immoralität, lassen den Roman ebenso reizvoll erscheinen wie seine Vorbilder Das Dekameron und Die Erzählungen aus den 1001. Nächten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.19971815
Jan Potocki "Die Handschrift von Saragossa"
Jan Potocki, ein polnischer Graf, der zweiundzwanzigjährig, nach ruhmreich bestandenen Kriegszügen, eine der schönsten Frauen seines Landes geheiratet habe, wie es heißt, ein großer Reisender und Beschreiber solcher Reisen (etwa durch Norddeutschland), ein berühmter Forscher (etwa der Urgeschichte Rußlands, der Geschichte der Slawen, mehrbändig), ein wissenschaftlich neugieriger Mann (er stieg in Blanchards Luftschiff), ein politischer Mensch (er ging 1791 zur Beobachtung der Revolution nach Paris und nimmt an Sitzungen der Gesetzgebenden Versammlung teil) - dieser so ungemein vielseitige Graf schrieb nebenher, man nimmt an seit ungefähr 1800, einen gewaltigen Roman, dessen erste Teile 1803 erschienen. Die weitere Publikationsgeschichte ist so wirr, daß man als Datum der Fertigstellung des Buchs nur das Todesjahr des Verfassers angeben kann: eben 1815, denn da - man sagt, weil er fürchtete, dem Wahnsinn zu verfallen - erschoß sich Jan Potocki, mit einer silbernen Kugel, die er sich selber zu diesem unseligen Zweck zurechtgefeilt hatte. Der gewaltige Roman erzählt die Erlebnisse eines Offiziers, der durch Spanien reist, und der dabei nicht bloß in Abenteuer von sehr gespensterreicher und schauriger Art verwickelt wird, sondern fast noch mehr in die unendliche Erzählung von andern Abenteuern ähnlicher, häufig erotisch-übermenschlicher Natur. Alle diese tausend Geschichten sind ineinander verwoben und verschachtelt, er muß - und wir nun mit ihm -, um durch eine einzige hindurchzukommen, zehn andere hören, deren jede wiederum ein halbes Dutzend Geschichten mit sich trägt, ehe sie in jene Geschichte münden kann, die dann ihrerseits vielleicht einmal jene abschließen wird, die einer zu erzählen anfing, als der Held gerade mitten in einer ganz andern war. So wird die Geisterwelt, deren Mitglieder fast jede Geschichte regieren, immer kompakter und unentrinnbarer; und während jede neu auftretende schöne Frau, die sich einem der vielen Erzähler hingibt, immer wieder, und immer wieder vergebens, hoffen läßt, sie werde sich ein einziges Mal wenigstens nicht in Moder und Schauer auflösen, werden nun die Gespenster-, Geisterund uralten Engelsscharen aus Mythengewebe und Aberglaube immer unbleicher sozusagen, immer realer. Und je länger Potocki erzählt, desto überzeugter, und dies immer weniger ängstlich, sind wir davon, daß die Luft über uns und unter dem Mond wirklich von einem wunderbaren geheimnisvollen Leben wimmelt. (Jan Potocki: "Die Handschrift von Saragossa". Herausgegeben von Roger Caillois, aus dem Französischen von Louise Eisler-Fischer, aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1975. 876 S., br., 36,- DM.) R.V.
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Jan Potocki "Die Handschrift von Saragossa"
Jan Potocki, ein polnischer Graf, der zweiundzwanzigjährig, nach ruhmreich bestandenen Kriegszügen, eine der schönsten Frauen seines Landes geheiratet habe, wie es heißt, ein großer Reisender und Beschreiber solcher Reisen (etwa durch Norddeutschland), ein berühmter Forscher (etwa der Urgeschichte Rußlands, der Geschichte der Slawen, mehrbändig), ein wissenschaftlich neugieriger Mann (er stieg in Blanchards Luftschiff), ein politischer Mensch (er ging 1791 zur Beobachtung der Revolution nach Paris und nimmt an Sitzungen der Gesetzgebenden Versammlung teil) - dieser so ungemein vielseitige Graf schrieb nebenher, man nimmt an seit ungefähr 1800, einen gewaltigen Roman, dessen erste Teile 1803 erschienen. Die weitere Publikationsgeschichte ist so wirr, daß man als Datum der Fertigstellung des Buchs nur das Todesjahr des Verfassers angeben kann: eben 1815, denn da - man sagt, weil er fürchtete, dem Wahnsinn zu verfallen - erschoß sich Jan Potocki, mit einer silbernen Kugel, die er sich selber zu diesem unseligen Zweck zurechtgefeilt hatte. Der gewaltige Roman erzählt die Erlebnisse eines Offiziers, der durch Spanien reist, und der dabei nicht bloß in Abenteuer von sehr gespensterreicher und schauriger Art verwickelt wird, sondern fast noch mehr in die unendliche Erzählung von andern Abenteuern ähnlicher, häufig erotisch-übermenschlicher Natur. Alle diese tausend Geschichten sind ineinander verwoben und verschachtelt, er muß - und wir nun mit ihm -, um durch eine einzige hindurchzukommen, zehn andere hören, deren jede wiederum ein halbes Dutzend Geschichten mit sich trägt, ehe sie in jene Geschichte münden kann, die dann ihrerseits vielleicht einmal jene abschließen wird, die einer zu erzählen anfing, als der Held gerade mitten in einer ganz andern war. So wird die Geisterwelt, deren Mitglieder fast jede Geschichte regieren, immer kompakter und unentrinnbarer; und während jede neu auftretende schöne Frau, die sich einem der vielen Erzähler hingibt, immer wieder, und immer wieder vergebens, hoffen läßt, sie werde sich ein einziges Mal wenigstens nicht in Moder und Schauer auflösen, werden nun die Gespenster-, Geisterund uralten Engelsscharen aus Mythengewebe und Aberglaube immer unbleicher sozusagen, immer realer. Und je länger Potocki erzählt, desto überzeugter, und dies immer weniger ängstlich, sind wir davon, daß die Luft über uns und unter dem Mond wirklich von einem wunderbaren geheimnisvollen Leben wimmelt. (Jan Potocki: "Die Handschrift von Saragossa". Herausgegeben von Roger Caillois, aus dem Französischen von Louise Eisler-Fischer, aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1975. 876 S., br., 36,- DM.) R.V.
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