»Als ginge es um eine Wette, / wie lange man noch vorhanden« - mit diesen Worten beschrieb Karl Krolow, was ihm gegen Ende seines Lebens geschah: Bis kurz vor seinem Tod am 21. Juni 1999 schrieb er oft mehrere Gedichte an einem Tag, über 700 in drei Jahren, 150 Gedichte allein in den letzten zwei Lebensmonaten. Die »tägliche Buchung«, wie er dieses Schreiben nannte, war ihm lebensnotwendig in einem ganz elementaren Sinn: es galt, sich der eigenen Existenz zu vergewissern und dem Tod - von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile - zu widerstehen. Es sind die Freuden des Lebens, die er, Abschied nehmend, noch einmal aufrief.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Letzte Lieder, liebesnah
Karl Krolows nachgelassene Gedichte / Von Harald Hartung
Karl Krolow, der beweglichste unserer Lyriker, war zugleich ein langsamer, ja ein zäher Mensch, der in einem Interview davon sprach, daß er gern bei dem bleibe, "was ich angefangen habe". Das hieß für ihn: beim Gedicht, beim Schreiben von Versen. Vor sechzig Jahren, mitten im Krieg, gab er sein Debüt mit dem Gedichtheftchen "Hochgelobtes gutes Leben". Im Sammelband "Im Diesseits verschwinden" und der kleinen Auswahl "Die Handvoll Sand" tönt noch einmal die Stimme des toten Dichters. Dazwischen ein Werk, das belegt, daß es in der zweiten Jahrhunderthälfte - außer Paul Celan - keinen Autor gegeben hat, der sein Schreiben und seine Existenz so sehr auf das Gedicht konzentriert hätte.
Dennoch war Krolow kein Dichter, den Apoll geschlagen hat. Er war ein Proteus der Poesie, wach und neugierig, immer auf dem Sprung, eine neue Möglichkeit der Lyrik zu probieren und einen Stoff, ein eben gefundenes Motiv an das nächste Gedicht weiterzugeben. Das erst machte eine umfangreiche Produktion möglich, führte aber auch zu Niveauschwankungen, zu wahrhaft faszinierenden Funden, aber auch zu den "glitzernden Perlen aus der Gablonzer Ecke seines Repertoires" (Peter Härtling). Krolow kam aus der Tradition der deutschen Naturlyrik, von Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. Doch er hat sich schon früh von internationalen Strömungen anregen lassen, vor allem aus der Romania. Erkennbar blieb das Temperament dessen, der sich gern als Zauberer und Artist, ja als ein Maître de plaisir verstand. Verse sollten so genießbar sein wie eine gute Mahlzeit, ein trinkbarer Wein.
Karl Krolow, der Epikureer und Melancholiker, hat lange Abschied genommen. Schon 1984 titelt er "Schönen Dank und vorüber", und 1988 klingt es bedrohlich "Als es soweit war". Vollends geisterhaft ein Titel von 1992 "Ich hörte mich sagen". Da heißt es: "Wer fragt: Was ist geblieben? / Ich sage: Die Reise ging schnell. / Und was ich aufgeschrieben, / ist zwischen den Fingern zerrieben." Es war wohl Krolows Zähigkeit, seine eiserne Labilität, die immer wieder das Ende hinausschob. Dieser Dichter schrieb wohl schon seit den achtziger Jahren um sein Leben.
Das letzte Gedicht, das wir lesen, ist auf den 13. Juni 1999 datiert - acht Tage vor Krolows Tod. 400 Gedichte sind in den letzten fünf, etwa 150 in den letzten beiden Lebensmonaten entstanden, oft mehrere an einem Tag. 50 von ihnen bringt das Insel-Büchlein "Die Handvoll Sand", immerhin 206 der Suhrkamp-Band "Im Diesseits verschwinden". Es gibt Überschneidungen. Etwa die Hälfte der Insel-Auswahl findet sich auch in dem größeren Sammelband. Dort wiederum fehlen die allerletzen Gedichte aus dem Sterbemonat Juni. "Die Handvoll Sand" bringt immerhin 7 daraus; darunter "Reste des Lebens", mit dem bedeutungsvollen Zusatz: "11.VI. 84 Jahre, 3 Monate." Die Schlußstrophe lautet: "Was ist von mir übriggeblieben, / erbärmlich genug, was ich treibe. / Oder ist's übertrieben? / Die Zeit vergeht mir: ich schreibe." Das letzte Gedicht fragt: "Was kann man dem Tod erwidern?"
Für Krolow ist das eine rhetorische Frage. Schreiben ist das dominierende Thema fast all dieser Gedichte. "Weiterschreiben als Zwang? / Es ist wie am Leben bleiben, / das noch einmal im Schreiben gelang." Er weiß um seine Obsession und hat auch die Gegenargumente parat, den Spott, und gegen ihn die Selbstironie. Er fürchtet, die Laune derer zu trüben, "die um mich sind". Zu lange hat er den Zauberer gegeben, der Singvögel unter seinem Hut hielt, um sie in einen eingebildeten Äther entweichen zu lassen, um nicht mit dem Mißmut jener Leser zu rechnen, die sich nicht unterhalten fühlen. Die Sonderrolle des Dichters betrachtet er mit Mißtrauen, nicht zuletzt Rilkes Vorstellung vom "eigenen Tod".
Und doch ist eines der schönsten dieser nachgelassenen Gedichte ein Selbstporträt. "Eine Büste" ist es überschrieben, und nur der Untertitel verrät, daß es sich um die "Büste K. K." handelt. Es nimmt die Distanz eines anonymen Betrachters ein, der sich mit Vermutungen begnügt, wer und wie der Dargestellte sei. Am Schluß steht die zusammenfassende Prägung: "Ein Mann der Empfindlichkeit". Es ist das letzte einer Reihe von Selbstporträts, deren erstes ein "Selbstbildnis 1945" war. Dieses letzte ist in seiner raffinierten Schlichtheit das eindrücklichste.
Über der existentiellen Problematik dessen, der um sein Leben schreibt, sollte man nicht vergessen, daß es nicht bloß um Konfession geht, sondern immer noch und vor allem um Kunst. Was Krolow als "Gekritzel" denunziert, "das manchmal noch gelingt", ist Produkt von Artistik. Oder sagen wir vorsichtiger: Handwerk. Manchmal schlägt dieser Stolz auf das Gutgemachte kräftig durch: "Worte mit leichten Silben, / aus Buchstaben gemacht, / wie von der Luft erdacht, / betroffen von keinem Vergilben." So variiert der dem Tod nahe Dichter noch einmal das Horazische "Dauerhafter als Erz". Er tut es immer noch mit "intellektueller Heiterkeit", dem Stichwort seiner Rede zum Büchner-Preis, in der es nicht um Lenz oder Woyzeck, sondern um Leonce und Lena ging: "Das Wort hatte sich gelockert. Es hatte Grazie."
Diese Grazie findet Krolow in der alten Form des dreistrophigen Reimgedichts, das sich auf das Volkslied, gerade auch das zersungene, zurückbezieht. Es ist eine Form, die sich seinen Bedürfnissen anbequemt, den gefühligen, ironischen, selbst den prosaischen. Diese Form hat Platz für das "Liebeslied (im alten Ton)", für die Volksliedart eines Ratschlags "Hast du etwas auf dem Herzen, / behalts für dich", für Anklänge an Eichendorff, aber auch für eine Gottfried-Benn-Pastiche: "Allein mit den Worten: allein." Krolow verschärft Benns "Altern als Problem für Künstler" zur Frage des Verschwindens im Diesseits. Sub specie mortis werden die Avantgarden eitel, kommen die alten Bestände noch einmal herauf. Sie retten nicht, aber sie machen manches leichter.
"Alles wird jetzt leichter mir vor Augen", heißt es in "Luft": "Kann es sein, daß ich mich darin täusche?" Das ist fern aller Verführung zur Regression. Krolow, der Liebhaber des Leichten, Luftigen, ist sich treu geblieben. Wer mit den Worten allein ist, kann mit ihnen immer noch spielen, eine Melodie machen. Jedenfalls lädt uns der Dichter ein, auf seine Melodie zu hören. Und diese Melodie von Liebe, Tod und Wiedersehen, nicht mehr artistisch, aber immer noch verführend, verdient es, ganz gehört zu werden: "Wie es ihr winkte, wie / man sich dann wiedersah: - / du kennst die Melodie, / ein Kinderlied beinah, // von Lippen hingesummt, / ist sie so kinderleicht, / wie sie zu Kopfe steigt, / im Kopf nicht mehr verstummt // als Lied so liebesnah, / die rechte Melodie, / eh man sich wiedersah. / Komm nur und höre sie."
Karl Krolow: "Im Diesseits verschwinden". Gedichte aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Peter Härtling und Rainer Weiss. Mit einem Nachwort von Peter Härtling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 240 S., geb., 19,-.
Karl Krolow: "Die Handvoll Sand". Gedichte aus dem Nachlaß. Auswahl und Nachwort von Charitas Jenny-Ebeling. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 71 S., geb., 11,80.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Krolows nachgelassene Gedichte / Von Harald Hartung
Karl Krolow, der beweglichste unserer Lyriker, war zugleich ein langsamer, ja ein zäher Mensch, der in einem Interview davon sprach, daß er gern bei dem bleibe, "was ich angefangen habe". Das hieß für ihn: beim Gedicht, beim Schreiben von Versen. Vor sechzig Jahren, mitten im Krieg, gab er sein Debüt mit dem Gedichtheftchen "Hochgelobtes gutes Leben". Im Sammelband "Im Diesseits verschwinden" und der kleinen Auswahl "Die Handvoll Sand" tönt noch einmal die Stimme des toten Dichters. Dazwischen ein Werk, das belegt, daß es in der zweiten Jahrhunderthälfte - außer Paul Celan - keinen Autor gegeben hat, der sein Schreiben und seine Existenz so sehr auf das Gedicht konzentriert hätte.
Dennoch war Krolow kein Dichter, den Apoll geschlagen hat. Er war ein Proteus der Poesie, wach und neugierig, immer auf dem Sprung, eine neue Möglichkeit der Lyrik zu probieren und einen Stoff, ein eben gefundenes Motiv an das nächste Gedicht weiterzugeben. Das erst machte eine umfangreiche Produktion möglich, führte aber auch zu Niveauschwankungen, zu wahrhaft faszinierenden Funden, aber auch zu den "glitzernden Perlen aus der Gablonzer Ecke seines Repertoires" (Peter Härtling). Krolow kam aus der Tradition der deutschen Naturlyrik, von Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. Doch er hat sich schon früh von internationalen Strömungen anregen lassen, vor allem aus der Romania. Erkennbar blieb das Temperament dessen, der sich gern als Zauberer und Artist, ja als ein Maître de plaisir verstand. Verse sollten so genießbar sein wie eine gute Mahlzeit, ein trinkbarer Wein.
Karl Krolow, der Epikureer und Melancholiker, hat lange Abschied genommen. Schon 1984 titelt er "Schönen Dank und vorüber", und 1988 klingt es bedrohlich "Als es soweit war". Vollends geisterhaft ein Titel von 1992 "Ich hörte mich sagen". Da heißt es: "Wer fragt: Was ist geblieben? / Ich sage: Die Reise ging schnell. / Und was ich aufgeschrieben, / ist zwischen den Fingern zerrieben." Es war wohl Krolows Zähigkeit, seine eiserne Labilität, die immer wieder das Ende hinausschob. Dieser Dichter schrieb wohl schon seit den achtziger Jahren um sein Leben.
Das letzte Gedicht, das wir lesen, ist auf den 13. Juni 1999 datiert - acht Tage vor Krolows Tod. 400 Gedichte sind in den letzten fünf, etwa 150 in den letzten beiden Lebensmonaten entstanden, oft mehrere an einem Tag. 50 von ihnen bringt das Insel-Büchlein "Die Handvoll Sand", immerhin 206 der Suhrkamp-Band "Im Diesseits verschwinden". Es gibt Überschneidungen. Etwa die Hälfte der Insel-Auswahl findet sich auch in dem größeren Sammelband. Dort wiederum fehlen die allerletzen Gedichte aus dem Sterbemonat Juni. "Die Handvoll Sand" bringt immerhin 7 daraus; darunter "Reste des Lebens", mit dem bedeutungsvollen Zusatz: "11.VI. 84 Jahre, 3 Monate." Die Schlußstrophe lautet: "Was ist von mir übriggeblieben, / erbärmlich genug, was ich treibe. / Oder ist's übertrieben? / Die Zeit vergeht mir: ich schreibe." Das letzte Gedicht fragt: "Was kann man dem Tod erwidern?"
Für Krolow ist das eine rhetorische Frage. Schreiben ist das dominierende Thema fast all dieser Gedichte. "Weiterschreiben als Zwang? / Es ist wie am Leben bleiben, / das noch einmal im Schreiben gelang." Er weiß um seine Obsession und hat auch die Gegenargumente parat, den Spott, und gegen ihn die Selbstironie. Er fürchtet, die Laune derer zu trüben, "die um mich sind". Zu lange hat er den Zauberer gegeben, der Singvögel unter seinem Hut hielt, um sie in einen eingebildeten Äther entweichen zu lassen, um nicht mit dem Mißmut jener Leser zu rechnen, die sich nicht unterhalten fühlen. Die Sonderrolle des Dichters betrachtet er mit Mißtrauen, nicht zuletzt Rilkes Vorstellung vom "eigenen Tod".
Und doch ist eines der schönsten dieser nachgelassenen Gedichte ein Selbstporträt. "Eine Büste" ist es überschrieben, und nur der Untertitel verrät, daß es sich um die "Büste K. K." handelt. Es nimmt die Distanz eines anonymen Betrachters ein, der sich mit Vermutungen begnügt, wer und wie der Dargestellte sei. Am Schluß steht die zusammenfassende Prägung: "Ein Mann der Empfindlichkeit". Es ist das letzte einer Reihe von Selbstporträts, deren erstes ein "Selbstbildnis 1945" war. Dieses letzte ist in seiner raffinierten Schlichtheit das eindrücklichste.
Über der existentiellen Problematik dessen, der um sein Leben schreibt, sollte man nicht vergessen, daß es nicht bloß um Konfession geht, sondern immer noch und vor allem um Kunst. Was Krolow als "Gekritzel" denunziert, "das manchmal noch gelingt", ist Produkt von Artistik. Oder sagen wir vorsichtiger: Handwerk. Manchmal schlägt dieser Stolz auf das Gutgemachte kräftig durch: "Worte mit leichten Silben, / aus Buchstaben gemacht, / wie von der Luft erdacht, / betroffen von keinem Vergilben." So variiert der dem Tod nahe Dichter noch einmal das Horazische "Dauerhafter als Erz". Er tut es immer noch mit "intellektueller Heiterkeit", dem Stichwort seiner Rede zum Büchner-Preis, in der es nicht um Lenz oder Woyzeck, sondern um Leonce und Lena ging: "Das Wort hatte sich gelockert. Es hatte Grazie."
Diese Grazie findet Krolow in der alten Form des dreistrophigen Reimgedichts, das sich auf das Volkslied, gerade auch das zersungene, zurückbezieht. Es ist eine Form, die sich seinen Bedürfnissen anbequemt, den gefühligen, ironischen, selbst den prosaischen. Diese Form hat Platz für das "Liebeslied (im alten Ton)", für die Volksliedart eines Ratschlags "Hast du etwas auf dem Herzen, / behalts für dich", für Anklänge an Eichendorff, aber auch für eine Gottfried-Benn-Pastiche: "Allein mit den Worten: allein." Krolow verschärft Benns "Altern als Problem für Künstler" zur Frage des Verschwindens im Diesseits. Sub specie mortis werden die Avantgarden eitel, kommen die alten Bestände noch einmal herauf. Sie retten nicht, aber sie machen manches leichter.
"Alles wird jetzt leichter mir vor Augen", heißt es in "Luft": "Kann es sein, daß ich mich darin täusche?" Das ist fern aller Verführung zur Regression. Krolow, der Liebhaber des Leichten, Luftigen, ist sich treu geblieben. Wer mit den Worten allein ist, kann mit ihnen immer noch spielen, eine Melodie machen. Jedenfalls lädt uns der Dichter ein, auf seine Melodie zu hören. Und diese Melodie von Liebe, Tod und Wiedersehen, nicht mehr artistisch, aber immer noch verführend, verdient es, ganz gehört zu werden: "Wie es ihr winkte, wie / man sich dann wiedersah: - / du kennst die Melodie, / ein Kinderlied beinah, // von Lippen hingesummt, / ist sie so kinderleicht, / wie sie zu Kopfe steigt, / im Kopf nicht mehr verstummt // als Lied so liebesnah, / die rechte Melodie, / eh man sich wiedersah. / Komm nur und höre sie."
Karl Krolow: "Im Diesseits verschwinden". Gedichte aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Peter Härtling und Rainer Weiss. Mit einem Nachwort von Peter Härtling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 240 S., geb., 19,-
Karl Krolow: "Die Handvoll Sand". Gedichte aus dem Nachlaß. Auswahl und Nachwort von Charitas Jenny-Ebeling. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 71 S., geb., 11,80
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2002Holterdiefolter
„Die Handvoll Sand”: Gedichte
aus dem Nachlass von Karl Krolow
In seinen Minuten-Aufzeichnungen hat Karl Krolow einmal einen hellen Glücksmoment beschrieben, der konkret und flüchtig zugleich ist. Dem Schreibenden, erzählt Krolow, verwandeln sich die Minuten kurzzeitig in kompakte, verfügbare Körper. Sie erscheinen somit greifbar und vermitteln dem Schriftsteller das berauschende Gefühl, über die Zeit zu verfügen. Krolow beschreibt sie als Momente des Übermuts, „in denen man unbedacht genug ist, um auf die Nachtigall zu warten, die zwischen den Zeilen singt”. Allerdings: Diese probat portionierte „Handvoll Zeit” rächt sich durch Täuschung. Sie gaukelt Leichtigkeit und Gelingen vor und versetzt den Schriftsteller in einen Zustand der Unbeschwertheit, der sich in der Folge nicht halten lässt. Denn das eigentliche, das Weltgewicht der Worte und der Zeit wird wiederkommen und den mit Leichtigkeit Verwöhnten lähmen. Die Welt, schreibt Krolow, wird ja nicht von Halluzinativem, sondern von den schweren Gliedern der Realität bewegt: der Geschäfte, Kriege und Folgerichtigkeiten.
Kurze Ewigkeit
Dieser kurzen Zeit, in der ein Schreibender „zwischen die Zeilen” gerät, hat Karl Krolow damals misstraut. Er, dessen luft- und lichtdurchlässige Poesie so oft gepriesen, dem – misstrauisch – zuweilen gar rokokohafte Eleganz attestiert wurde, und dessen lyrische Häutungen durch mehr als fünf Jahrzehnte ein Gesamtwerk heranwachsen ließen, wie es heterogener kaum vorstellbar scheint. Ein Lyriker, der sich von Gedicht zu Gedicht hangelte mit wechselnden Formen, Techniken und immer anderen poetischen Sprachen. Karl Krolows Gedichtproduktionen waren Einübungen in die Selbstvergewisserung, „dass ich vorkomme”. In einem Interview hat er einmal ein schönes unbestimmtes Wort gefunden, das die Erzeugnisse dieser täglichen Übungen vor zu rascher Begriffsbildung schützen sollte: „Empfindlichkeitsresultate”.
Zweieinhalb Jahre nach seinem Tod im Juni 1999 sammelt ein schmales Insel-Bändchen Krolows Empfindlichkeitsresultate aus den letzten Lebensjahren unter dem Titel „Die Handvoll Sand”. Die kühne Minutenfantasie von 1968 kehrt hier übrigens als durchgängige Schreibhaltung wieder, allerdings ohne Nachtigall. Denn es geht um die Ironie einer bewussten Selbsttäuschung: darum, sich kurzzeitig einzurichten in der „täglichen Buchung”, dem Schreiben: „Wer zwischen Zeilen gerät/ lebt in der anderen Zeit. / In ihr ists nie zu spät/ für kurze Ewigkeit.”
Die fünfzig Gedichte bilden nur eine Auswahl aus dem Nachlass Krolows. Charitas Jenny-Ebeling hat diese Texte aus einem Konvolut von mehr als siebenhundert Seiten ausgewählt und mit einem kurzen und präzisen Kommentar versehen. Es sind – bis auf eine Ausnahme – allesamt Reimgebilde, dreihebig mit variierten Versschemata und mit dem Datum der Niederschrift versehen. Jeweils am elften eines Monats – der elfte März ist Krolows Geburtstag – notiert der Gedichtschreiber den genauen Stand seines Alters: „84 Jahre, 2 Monate” steht unter dem Gedicht „Das Leichte: Manchmal spürt man, wie federleicht,/ was in der Luft verschwindet,/ wenn man die Worte findet/ als etwas, das entweicht.”
Kopf und Kragen
Krolows späte Gedichte sind Kurzprotokolle eines langen Abschieds von dem, was in dieser Welt erfahrbar und greifbar ist. Im Grunde genau das, was Krolow Zeit seines Dichtens getan hat. Mit wechselnden Stimmen, aber immer mit Distanz zum Thema des Gedichts wie zum Gedicht selbst. Das Leben als Vorgang verfolgen – Krolows Verfahren funktioniert bis zum letzten Vers. Nur, dass es in diesen letzten Texten statt des sich fortsetzenden Alltags nur noch Trümmer zu besichtigen gibt. Die Zeugnisse des eigenen Lebens verwandeln sich in museale Überbleibsel: „Täglich um mich die Reste/ des Lebens, das meines war.” Und was darüber hinaus stattfindet, ist Holterdiepolter, Krolows Reimwort auf Folter.
Das einzige, was noch physisch erfahrbar bleibt, gewissermaßen als der letzte greifbare Stoff , ist die Handvoll Sand – das Material, mit dem sich für eine kurze Frist die Uhr in Gang halten lässt. Für diese Zeitspanne rekrutiert Krolow sein letztes Aufgebot: die Worte, „die unentdeckten Sätze”. Damit ließe sich noch etwas anfangen. Sie könnten am Schluss zu einer Haltung führen, die der Leichtigkeit verwandt ist. Die Waffen der Worte „sind Geschwister der Ironie.” Der Tod dagegen hat keine Sprache.
Diese letzten Gedichte des lyrischen Maitre de plaisir Krolow leben trotz ihrer Bitternis auch vom Spiel mit einem alten Topos, der Überlegenheit des Dichters gegenüber der flüchtigen Gegenwart: „Wie lebt sichs in einer Welt, / in der es um Kopf und Kragen/ geht oder um Wohlbehagen.” So kann man nur fragen, wenn man zwischen den Zeilen sitzt und die Worte mit der Hand fängt, „ohne Netz und Köder”, wie es in den Minuten-Aufzeichnungen heißt. Und das Gedicht ist die enge Loge mit Blick auf ein Leben, das einem kaum noch gehört: „Nimm das alles mit und/ lass mich Zuschauer sein/ bei deinem Verschwinden.” Ein lyrisches Endspiel, aber eben auch ein Spiel.
HILMAR KLUTE
KARL KROLOW: Die Handvoll Sand. Gedichte aus dem Nachlass. Auswahl und Nachwort von Charitas Jenny-Ebeling. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2001. 71 Seiten, 11,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Die Handvoll Sand”: Gedichte
aus dem Nachlass von Karl Krolow
In seinen Minuten-Aufzeichnungen hat Karl Krolow einmal einen hellen Glücksmoment beschrieben, der konkret und flüchtig zugleich ist. Dem Schreibenden, erzählt Krolow, verwandeln sich die Minuten kurzzeitig in kompakte, verfügbare Körper. Sie erscheinen somit greifbar und vermitteln dem Schriftsteller das berauschende Gefühl, über die Zeit zu verfügen. Krolow beschreibt sie als Momente des Übermuts, „in denen man unbedacht genug ist, um auf die Nachtigall zu warten, die zwischen den Zeilen singt”. Allerdings: Diese probat portionierte „Handvoll Zeit” rächt sich durch Täuschung. Sie gaukelt Leichtigkeit und Gelingen vor und versetzt den Schriftsteller in einen Zustand der Unbeschwertheit, der sich in der Folge nicht halten lässt. Denn das eigentliche, das Weltgewicht der Worte und der Zeit wird wiederkommen und den mit Leichtigkeit Verwöhnten lähmen. Die Welt, schreibt Krolow, wird ja nicht von Halluzinativem, sondern von den schweren Gliedern der Realität bewegt: der Geschäfte, Kriege und Folgerichtigkeiten.
Kurze Ewigkeit
Dieser kurzen Zeit, in der ein Schreibender „zwischen die Zeilen” gerät, hat Karl Krolow damals misstraut. Er, dessen luft- und lichtdurchlässige Poesie so oft gepriesen, dem – misstrauisch – zuweilen gar rokokohafte Eleganz attestiert wurde, und dessen lyrische Häutungen durch mehr als fünf Jahrzehnte ein Gesamtwerk heranwachsen ließen, wie es heterogener kaum vorstellbar scheint. Ein Lyriker, der sich von Gedicht zu Gedicht hangelte mit wechselnden Formen, Techniken und immer anderen poetischen Sprachen. Karl Krolows Gedichtproduktionen waren Einübungen in die Selbstvergewisserung, „dass ich vorkomme”. In einem Interview hat er einmal ein schönes unbestimmtes Wort gefunden, das die Erzeugnisse dieser täglichen Übungen vor zu rascher Begriffsbildung schützen sollte: „Empfindlichkeitsresultate”.
Zweieinhalb Jahre nach seinem Tod im Juni 1999 sammelt ein schmales Insel-Bändchen Krolows Empfindlichkeitsresultate aus den letzten Lebensjahren unter dem Titel „Die Handvoll Sand”. Die kühne Minutenfantasie von 1968 kehrt hier übrigens als durchgängige Schreibhaltung wieder, allerdings ohne Nachtigall. Denn es geht um die Ironie einer bewussten Selbsttäuschung: darum, sich kurzzeitig einzurichten in der „täglichen Buchung”, dem Schreiben: „Wer zwischen Zeilen gerät/ lebt in der anderen Zeit. / In ihr ists nie zu spät/ für kurze Ewigkeit.”
Die fünfzig Gedichte bilden nur eine Auswahl aus dem Nachlass Krolows. Charitas Jenny-Ebeling hat diese Texte aus einem Konvolut von mehr als siebenhundert Seiten ausgewählt und mit einem kurzen und präzisen Kommentar versehen. Es sind – bis auf eine Ausnahme – allesamt Reimgebilde, dreihebig mit variierten Versschemata und mit dem Datum der Niederschrift versehen. Jeweils am elften eines Monats – der elfte März ist Krolows Geburtstag – notiert der Gedichtschreiber den genauen Stand seines Alters: „84 Jahre, 2 Monate” steht unter dem Gedicht „Das Leichte: Manchmal spürt man, wie federleicht,/ was in der Luft verschwindet,/ wenn man die Worte findet/ als etwas, das entweicht.”
Kopf und Kragen
Krolows späte Gedichte sind Kurzprotokolle eines langen Abschieds von dem, was in dieser Welt erfahrbar und greifbar ist. Im Grunde genau das, was Krolow Zeit seines Dichtens getan hat. Mit wechselnden Stimmen, aber immer mit Distanz zum Thema des Gedichts wie zum Gedicht selbst. Das Leben als Vorgang verfolgen – Krolows Verfahren funktioniert bis zum letzten Vers. Nur, dass es in diesen letzten Texten statt des sich fortsetzenden Alltags nur noch Trümmer zu besichtigen gibt. Die Zeugnisse des eigenen Lebens verwandeln sich in museale Überbleibsel: „Täglich um mich die Reste/ des Lebens, das meines war.” Und was darüber hinaus stattfindet, ist Holterdiepolter, Krolows Reimwort auf Folter.
Das einzige, was noch physisch erfahrbar bleibt, gewissermaßen als der letzte greifbare Stoff , ist die Handvoll Sand – das Material, mit dem sich für eine kurze Frist die Uhr in Gang halten lässt. Für diese Zeitspanne rekrutiert Krolow sein letztes Aufgebot: die Worte, „die unentdeckten Sätze”. Damit ließe sich noch etwas anfangen. Sie könnten am Schluss zu einer Haltung führen, die der Leichtigkeit verwandt ist. Die Waffen der Worte „sind Geschwister der Ironie.” Der Tod dagegen hat keine Sprache.
Diese letzten Gedichte des lyrischen Maitre de plaisir Krolow leben trotz ihrer Bitternis auch vom Spiel mit einem alten Topos, der Überlegenheit des Dichters gegenüber der flüchtigen Gegenwart: „Wie lebt sichs in einer Welt, / in der es um Kopf und Kragen/ geht oder um Wohlbehagen.” So kann man nur fragen, wenn man zwischen den Zeilen sitzt und die Worte mit der Hand fängt, „ohne Netz und Köder”, wie es in den Minuten-Aufzeichnungen heißt. Und das Gedicht ist die enge Loge mit Blick auf ein Leben, das einem kaum noch gehört: „Nimm das alles mit und/ lass mich Zuschauer sein/ bei deinem Verschwinden.” Ein lyrisches Endspiel, aber eben auch ein Spiel.
HILMAR KLUTE
KARL KROLOW: Die Handvoll Sand. Gedichte aus dem Nachlass. Auswahl und Nachwort von Charitas Jenny-Ebeling. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2001. 71 Seiten, 11,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zweieinhalb Jahre nach dem Tod Karl Krolows hat der Insel Verlag nun eine Auswahl seiner letzten Gedichte veröffentlicht, genau genommen 50 aus einem Konvolut von mehr als siebenhundert Seiten aus dem Nachlass, von Charitas Jenny-Ebeling ausgewählt und "mit einem kurzen und präzisen Kommentar versehen", berichtet Hilmar Klute. Für den Rezensenten sind diese "Reimgebilde" "Kurzprotokolle eines langen Abschieds" von einer Welt, von der der Autor am Ende nur noch "Trümmer" beschreiben konnte. Diese letzten Gedichte lesen sich, so Klute, wie die letzten Worte des "lyrischen Maitre de plaisir". Aber sie spielten auch mit einem alten Topos: "der Überlegenheit des Dichters über die flüchtigen Gegenwart".
© Perlentaucher Medien GmbH
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