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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2009

Die Pest von Neapel
Matthias Habich liest Curzio Malapartes Roman „Die Haut”
Die Lebensmittel in Neapel sind teuer geworden in diesen Tagen. Aber dafür sinkt der Preis für Menschenfleisch stündlich. Das Kalenderblatt in der schummrigen Hotellobby, vor der die Stricherjungen ihre Zeit totschlagen, trägt das Jahr 1943. Die Amerikaner sind gekommen, um zu befreien, was in seinen Grundfesten zerstört ist. Statt Freiheit herrscht bald nur noch die moralische Pest in der Stadt. Dem jungen italienischen Verbindungsoffizier Malaparte, der amerikanische Militärs durch die Stadt führt, bietet sich ein nie da gewesenes Schauspiel menschlicher Niedrigkeiten: Hunger, Elend und Verzweiflung treiben die Bewohner des Landes, die sich nicht frei, sondern besiegt fühlen, in Prostitution, Menschenhandel und Verbrechen. Bei einem elfjährigem Mädchen darf man für zwei Dollar nachprüfen, ob sie wirklich noch Jungfrau ist, achtjährige Jungen werden auf dem Kindermarkt von ihren zahnlosen Müttern feilgeboten und gegen eine geringe Summe darf man einen „Neger” so lange misshandeln, wie man will.
Neapel ist zu Sodom und Gomorrha, zu einem „Haufen fauligen Fleisches” geworden. Hier versucht jeder nur noch, seine Haut zu retten, denn sie ist das einzig Sichere, das ihm geblieben ist. Die amerikanischen Sieger sind eigentlich „gute Kerle”, die beim Anblick dieses menschlichen Infernos verzweifeln, trotzdem halten nur wenige – von „Narcissus-Jünglingen” und „dargebotenen Schamhügeln” verführt – ihren moralischen Grundsätzen die Treue. Malaparte wandert durch die verkommenen Gassen Neapels und erinnert sich an seine eigenen Schreckenserfahrungen der letzten Jahre. Abends beim Dinner mit amerikanischen Generälen, das ihm wie ein „Picknick auf einem Grabe” vorkommt, erzählt er bei Wein und gutem Essen, wie er in Kroatien durch einen Wald voller gekreuzigter Juden geritten ist, die ihn um Erbarmen und einen Gnadenschuss anflehten. Oder von der eisigen Stille in einer Veterinärklinik, in der er seinen geliebten Hund noch lebendig, aber mit geöffnetem Brustkorb fand, nachdem ihm gerade die Stimmbänder durchgeschnitten worden waren . . .
Die realistischen Schreckensbeschreibungen des Ich-Erzählers liest Matthias Habich mit schockierend ruhiger Stimme in einer gekürzten Lesung des 1948 veröffentlichten Skandalromans. Bei Erscheinen war das Buch vom Vatikan wegen seines drastischen Realismus’ auf den Index gesetzt worden, und die Stadt Neapel verhängte einen Bann, weil sie die Menschen von Neapel im Buch verunglimpft sahen.
Von Ekel und Widerwillen wird man beim Hören auch heute immer wieder gepackt. Man hofft geradezu, dass einem die detaillierte Beschreibung der Vergewaltigungen und Gräueltaten erspart bleiben oder wenigstens schnell vorübergehen, aber Habich stellt die Sätze des Grauens erbarmungslos langsam aus, er gibt dem Ekel eine eindrucksvolle Stimme, der man sich nicht entziehen kann. Er zwingt die Bilder in all ihrer Grausamkeit in den Kopf des Hörers. SIMON STRAUSS
CURZIO MALAPARTE: Die Haut. Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig. Gelesen von Matthias Habich. Osterwold, Hamburg 2009. 6 CDs, ca. 413 Minuten, 29,95 Euro.
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