Anfang der siebziger Jahre wirkt der einzige Italiener an der Schule wie ein außerirdisches Wesen. In den Achtzigern sind es die Türken, die zum ersten Mal die Tische vor die Wirtschaft stellen. Während die Wetterauer den ersten Döner im Landkreis als Widerstandsnahrung feiern, erobert der lange verschwundene Hitler den öffentlichen Raum in Funk und Fernsehen. In den Neunzigern träumt der Erzähler seinen großen Traum vom Wetterauer Land, verschwindet allerdings erst mal mit seiner Cousine unter einer Bettdecke am Ostrand der neuen Republik, während im Ort immerhin der Grundriss der 1938 niedergebrannten Synagoge wiederhergestellt wird. Aber noch im neuen Jahrtausend will niemand vom früheren Leben in der konkreten Heimat wissen, als es die noch gab, die es seit ihrer Deportation nicht mehr gab.
Mit untrüglichem Gespür für alles Abgründige erzählt Andreas Maier davon, wie es sich die Menschen gemütlich machen in vierzig Jahren Geschichte. Unbestechlich ist sein Blick auf eine Heimat, die seit jeher Fiktion ist.
Mit untrüglichem Gespür für alles Abgründige erzählt Andreas Maier davon, wie es sich die Menschen gemütlich machen in vierzig Jahren Geschichte. Unbestechlich ist sein Blick auf eine Heimat, die seit jeher Fiktion ist.
»Wer wissen möchte, in was für einem Land wir leben, und wie man darüber Literatur schreiben kann, der lese dieses Buch.« Dirk Knipphals taz. die tageszeitung 20230526
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ebenso "intim wie ausschweifend" ist der neunte Band von Andreas Maiers Erzählzyklus "Ortsumgehung" Rezensent Paul Jandl zufolge. Der Autor setzt sich mit seiner Kindheit und Jugend in der Wetterau bei Frankfurt auseinander und zeichnet gleichzeitig ein Bild Deutschlands von den siebziger bis zu den neunziger Jahren, lesen wir. Maier wirft dabei anekdotische Schlaglichter, so Jandl auf eine "linksutopische Jugend mit Batiktüchern", die Aufklärung über den Holocaust in der Schule, den Mauerfall. Der Roman wird dabei durchzogen von der Frage, was Heimat sein kann und wem man die Definition von Heimat gerade nicht überlassen sollte, schreibt der Kritiker, nämlich denen, die mit ihr nur "herumtümeln" wollen. Vor allem die Erinnerung selbst wird in diesem Roman zur Heimat, schließt Jandl.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2023Hitler, wer soll das sein?
Ortsumgehung: Andreas Maier auf Heimatsuche
Das Buchcover zeigt ein zerschnittenes Foto von Elvis Presley in der Uniform eines US-Soldaten, aufgenommen 1959 in Bad Nauheim, wo der damals schon berühmte Musiker während seines Militärdienstes bei der 3. US-Panzerdivision im nahen Friedberg wohnte. Der Icherzähler von Andreas Maiers neuem Roman "Die Heimat" weiß zu berichten, dass seine Mutter den Star hin und wieder nach hinten über den Zaun des Nachbargrundstücks entkommen sah, während sich vor dem Haus eine Bad Nauheimer Mädchenschar drängte.
"Die Heimat" ist der neunte Band der autofiktionalen Serie "Ortsumgehung", die Maier 2010 mit "Das Zimmer" begonnen hat und insgesamt elf Bände umfassen soll. In "Das Zimmer" ist der Icherzähler noch ein Kind, doch im heimatlichen Friedberg wird der Autoverkehr zunehmend dichter, und unter den im Stau Stehenden wird alsbald der Ruf nach einer Ortsumgehung laut. Im neuen Roman wird diese tatsächlich gebaut, und sie wird zum Bild nicht nur für den vermeintlichen Fortschritt und die Zerstörung der Wetterauer Landschaft, sondern auch für die Reproduktion des Gewesenen, in dessen schreibendem Vollzug der Icherzähler seine Heimat findet. Die nämlich sei "an einer Pissrinne" geboren, heißt es gleich im ersten Satz, und an ebendieser Pissrinne endet der Roman auch, der den Erzähler an die Orte und zu den Gerüchen seiner Kindheit zurückführt.
Das Buch ist bisweilen drastisch, bisweilen sentimental, oft genug komisch und auch ein bisschen didaktisch. In jedem Fall aber beschreibt es Heimat als etwas Unheimliches. "Heimat" ist in der Kindheit und Jugend des Erzählers ein Wort, das vor allem im Zusammenhang mit denen verwendet wird, die keine Heimat haben. Ebendiesen Heimatlosen setzt Maier, der sein Buch Edgar Reitz widmet, ein Denkmal: den "Heimatvertriebenen", den "Gastarbeitern", den "Ausländern", an deren Gegenwart sich die Wetterauer zunehmend gewöhnen müssen. Nach 1989 sind es dann die Ostdeutschen, die ihre Heimat DDR verloren haben.
Wem er allerdings kein Denkmal setzen kann, das sind die jüdischen Bewohner der Stadt, die er, so muss der Erzähler feststellen, in seinem Roman nicht mehr auftreten lassen kann, weil sie nicht mehr da sind und man noch nicht einmal über sie spricht. Heimat ist in Maiers Erzählung eine Landschaft des Verschweigens. Das kollektive Schweigen der Erwachsenen verunsichert die Jugendlichen und vermittelt ihnen das Gefühl, dass die Nazis eine Gruppe waren, "die, von irgendwoher gekommen, ihr dämonisches Unheil angerichtet hatte, aber irgendeine konkrete Vorstellung, worum es sich handeln konnte, war nicht vorhanden".
Dass unter der bundesrepublikanischen Friedhofsruhe Ungeheuerliches gärt, wird indessen geradezu körperlich spürbar, zum Beispiel wenn in der Schule der Dokumentarfilm über die deutschen Konzentrationslager "Nacht und Nebel" gezeigt wird, in dem Hut tragende Deutsche gezwungen werden, die Leichenberge der Nazis anzuschauen, und sie sich dabei Taschentücher vor die Nase halten, um sich gegen den Leichengestank zu schützen. Eine andere Beunruhigung unter den Erwachsenen stellt die Ankündigung der Fernsehserie "Holocaust" dar. Auch die verunglückte Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger im November 1988 löst ein gesellschaftliches Knistern aus.
Es sind diverse Dämonen, von denen die bundesdeutsche Normalität heimgesucht wird. Einer, der allgegenwärtig ist und dessen Name besser nicht genannt wird, ist Adolf Hitler. Er tritt in vielerlei Gestalt auf: als Chaplins großer Diktator, als von den Jugendlichen parodierter Hitlergruß und lustvoll gerolltes R ("Blitzkrrrieg"), in Joachim Fests Dokumentarfilm "Hitler - Eine Karriere", in Gestalt von Bruno Ganz als Hitlerdarsteller in "Der Untergang" oder in Walter Moers' Bonker-Version. Aber auch Holger Meins und Andreas Baader sind "Teufel auf Erden", wie den Heranwachsenden vermittelt wird.
Bei so viel Fremdheit in der Heimat ist es nur stimmig und eine gelungene Schlusspointe, wenn sich im Epilog die Fremdarbeiter, die an der Ortsumgehung bauen, über den Icherzähler als Repräsentanten dieser seltsamen Deutschen unterhalten. Dessen Frage, wie er wohl über die Baustelle kommt, weil er wie früher zu Fuß nach Ockstadt möchte, verstehen sie nicht - und er wiederum missversteht ihre Handbewegungen, mit denen sie ihn zu verscheuchen suchen, als einander widersprechende Richtungsanzeigen. Während die Arbeiter ihre Arbeit wieder aufnehmen, verschwindet der Erzähler desorientiert im Wetterauer Landschaftsbild. MARTINA WAGNER-EGELHAAF
Andreas Maier: "Die Heimat". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 245 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ortsumgehung: Andreas Maier auf Heimatsuche
Das Buchcover zeigt ein zerschnittenes Foto von Elvis Presley in der Uniform eines US-Soldaten, aufgenommen 1959 in Bad Nauheim, wo der damals schon berühmte Musiker während seines Militärdienstes bei der 3. US-Panzerdivision im nahen Friedberg wohnte. Der Icherzähler von Andreas Maiers neuem Roman "Die Heimat" weiß zu berichten, dass seine Mutter den Star hin und wieder nach hinten über den Zaun des Nachbargrundstücks entkommen sah, während sich vor dem Haus eine Bad Nauheimer Mädchenschar drängte.
"Die Heimat" ist der neunte Band der autofiktionalen Serie "Ortsumgehung", die Maier 2010 mit "Das Zimmer" begonnen hat und insgesamt elf Bände umfassen soll. In "Das Zimmer" ist der Icherzähler noch ein Kind, doch im heimatlichen Friedberg wird der Autoverkehr zunehmend dichter, und unter den im Stau Stehenden wird alsbald der Ruf nach einer Ortsumgehung laut. Im neuen Roman wird diese tatsächlich gebaut, und sie wird zum Bild nicht nur für den vermeintlichen Fortschritt und die Zerstörung der Wetterauer Landschaft, sondern auch für die Reproduktion des Gewesenen, in dessen schreibendem Vollzug der Icherzähler seine Heimat findet. Die nämlich sei "an einer Pissrinne" geboren, heißt es gleich im ersten Satz, und an ebendieser Pissrinne endet der Roman auch, der den Erzähler an die Orte und zu den Gerüchen seiner Kindheit zurückführt.
Das Buch ist bisweilen drastisch, bisweilen sentimental, oft genug komisch und auch ein bisschen didaktisch. In jedem Fall aber beschreibt es Heimat als etwas Unheimliches. "Heimat" ist in der Kindheit und Jugend des Erzählers ein Wort, das vor allem im Zusammenhang mit denen verwendet wird, die keine Heimat haben. Ebendiesen Heimatlosen setzt Maier, der sein Buch Edgar Reitz widmet, ein Denkmal: den "Heimatvertriebenen", den "Gastarbeitern", den "Ausländern", an deren Gegenwart sich die Wetterauer zunehmend gewöhnen müssen. Nach 1989 sind es dann die Ostdeutschen, die ihre Heimat DDR verloren haben.
Wem er allerdings kein Denkmal setzen kann, das sind die jüdischen Bewohner der Stadt, die er, so muss der Erzähler feststellen, in seinem Roman nicht mehr auftreten lassen kann, weil sie nicht mehr da sind und man noch nicht einmal über sie spricht. Heimat ist in Maiers Erzählung eine Landschaft des Verschweigens. Das kollektive Schweigen der Erwachsenen verunsichert die Jugendlichen und vermittelt ihnen das Gefühl, dass die Nazis eine Gruppe waren, "die, von irgendwoher gekommen, ihr dämonisches Unheil angerichtet hatte, aber irgendeine konkrete Vorstellung, worum es sich handeln konnte, war nicht vorhanden".
Dass unter der bundesrepublikanischen Friedhofsruhe Ungeheuerliches gärt, wird indessen geradezu körperlich spürbar, zum Beispiel wenn in der Schule der Dokumentarfilm über die deutschen Konzentrationslager "Nacht und Nebel" gezeigt wird, in dem Hut tragende Deutsche gezwungen werden, die Leichenberge der Nazis anzuschauen, und sie sich dabei Taschentücher vor die Nase halten, um sich gegen den Leichengestank zu schützen. Eine andere Beunruhigung unter den Erwachsenen stellt die Ankündigung der Fernsehserie "Holocaust" dar. Auch die verunglückte Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger im November 1988 löst ein gesellschaftliches Knistern aus.
Es sind diverse Dämonen, von denen die bundesdeutsche Normalität heimgesucht wird. Einer, der allgegenwärtig ist und dessen Name besser nicht genannt wird, ist Adolf Hitler. Er tritt in vielerlei Gestalt auf: als Chaplins großer Diktator, als von den Jugendlichen parodierter Hitlergruß und lustvoll gerolltes R ("Blitzkrrrieg"), in Joachim Fests Dokumentarfilm "Hitler - Eine Karriere", in Gestalt von Bruno Ganz als Hitlerdarsteller in "Der Untergang" oder in Walter Moers' Bonker-Version. Aber auch Holger Meins und Andreas Baader sind "Teufel auf Erden", wie den Heranwachsenden vermittelt wird.
Bei so viel Fremdheit in der Heimat ist es nur stimmig und eine gelungene Schlusspointe, wenn sich im Epilog die Fremdarbeiter, die an der Ortsumgehung bauen, über den Icherzähler als Repräsentanten dieser seltsamen Deutschen unterhalten. Dessen Frage, wie er wohl über die Baustelle kommt, weil er wie früher zu Fuß nach Ockstadt möchte, verstehen sie nicht - und er wiederum missversteht ihre Handbewegungen, mit denen sie ihn zu verscheuchen suchen, als einander widersprechende Richtungsanzeigen. Während die Arbeiter ihre Arbeit wieder aufnehmen, verschwindet der Erzähler desorientiert im Wetterauer Landschaftsbild. MARTINA WAGNER-EGELHAAF
Andreas Maier: "Die Heimat". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 245 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main