'Als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.'(Nietzsche)Die Umstände von Friedrich Nietzsches (1844-1900) Zusammenbruch im Januar 1889 hätten dramatischer kaum sein können: Innert weniger Tage versendet er Dutzende von Briefen, unterzeichnet mit 'Nietzsche Caesar', 'Der Gekreuzigte' oder 'Dionysos ', in denen er unter anderem seinen Willen verkündet, 'den jungen Kaiser füsillieren', 'alle Antisemiten' und 'Bismarck [...] erschießen' oder gar den 'Papst ins Gefängniß' werfen zu lassen. Kurz nach diesen sogenannten 'Wahnsinnszetteln' verfällt der Philosoph für den Rest seines Lebens in beinahe vollständige geistige Umnachtung. Fortan kümmert sich die Mutter liebevoll und aufopfernd um den Kranken - aber mitnichten selbstlos: Denn fast scheint es, als sei dessen Leiden für die Pastorenwitwe eine willkommene Gelegenheit, den an Atheismus und Freigeisterei verloren geglaubten Sohn auf die frommen Pfade des ländlichen Protestantismus, seiner geistlichen und familiären Heimat, zurückzuführen.Aus der Perspektive der Mutter, in der jedoch die Stimme des Sohnes unterschwellig hörbar bleibt, erzählt Die Heimholung von einem abgründigen, zutiefst ambivalenten Beziehungsdrama - und einer Liebesgeschichte.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2011Das todwunde, edle Tier
hat sich zurückgezogen
Neue Bücher über Friedrich Nietzsche führen es vor:
Bei keinem sind Denken und Leben schwerer zu trennen
Erst im Wahnsinn wurde der Philosoph Friedrich Nietzsche richtig berühmt. Nicht der Wahnsinn als solcher, der ihn zum Jahreswechsel 1888/1889 in Turin ergriff, hatte diese Wirkung; denn an irre Gewordenen und Seelenkranken gab es zur Zeit von „Europas Edelfäule“ (Gottfried Benn) ja keinen Mangel. Aber erst der Umstand, einen großen Kopf und einsamen Wanderer in rätselhafter Umnachtung zu wissen, verlieh für das zeitgenössische Publikum der denkerischen Freiheit und Ungeheuerlichkeit in Nietzsches Schriften ihren besonderen Reiz.
Zwar hatte die Mischung aus harter Unnahbarkeit und gesteigerter Feinfühligkeit, aus Hammer und Spiel, welche zumal in den Texten der letzten Jahre zu finden war, Nietzsches Bekanntheit schon vor seinem Zusammenbruch langsam zu weiten begonnen; so hatte ihn noch im Jahr des euphorischen Ausstoßes überspannter letzter Werke, im Jahr 1888, Georg Brandes in Kopenhagen zum großen europäischen Intellektuellen ausgerufen. Doch größeren Absatz fanden Nietzsches Bücher erst, als er selber keine mehr schreiben konnte; als der beurlaubte Basler Professor für Klassische Philologie von Italien aus zuerst in die Irrenanstalt in Basel, dann in die Irrenanstalt in Jena, dann heim nach Naumburg in die Pflege der Mutter und schließlich noch als zentrales Ausstellungsstück des neuen Nietzsche-Kultes zur Schwester nach Weimar gebracht wurde, wo er im August 1900 nun auch leiblich verstarb.
Es waren also jene Jahre, als Nietzsche, zwischen Phasen von verwirrter, aber ausnehmender Höflichkeit, laut herumbrüllte und nackt herumtanzte, bis er in immer größerer Stille des Bewusstseins dahindämmerte – es waren gerade jene Jahre, in denen der Autor des „Zarathustra“ als bedeutender Philosoph und Prophet ins allgemeine Bewusstsein trat. Deshalb ist das Verhältnis von Krankheit und unerhörtem Denken des Wahrheitszertrümmerers seit jeher eine viel debattierte Frage der Interpretation: War der zerstörerische Wahnsinn ein Bruch? Oder etwa nur der Paukenschlag nach längerem Crescendo?
„Bis in die Wahnsinnszettel hinein ist der Geist gegenwärtig, durch den noch der Wahn einen Sinn erhält“, so formulierte es Karl Jaspers. Und Nietzsches Leben ist „ein lyrisch-tragisches Schauspiel von höchster Faszination“ – so Thomas Mann 1947 – erst recht deshalb, weil es ja ein entscheidender Wesenszug seiner antiakademischen und zeitgemäß unzeitgemäßen Philosophie ist, Leben und Denken zusammenzudenken. Wir sollten selbst die Dichter unseres Lebens werden, forderte Nietzsche; immer wieder reflektierte er, von allerlei Gebrechen geplagt, über den Umgang mit der Krankheit und stellte allgemeine ästhetische, psychologische und klimatische Bedingungen für große und vitale Philosophen auf, die er vor allem für sich selbst als günstig ansah; und in der unbescheidenen Selbstbeschreibung „Ecce homo“ von 1888 heißt es: „Ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie . . .“ Angesichts dieser komplexen Problemlage kann es nur als schlicht bezeichnet werden, wenn Nietzsches jüngste Biographin Sabine Appel zu seiner Zerrüttung ohne allzu viel weitere Überlegung postuliert: „Nichts von diesem Wahn ist ohne Zusammenhang mit Nietzsches Denken und Leben. Es ist so etwas wie die letzte Stufe davon.“
Äußerst skrupulös hingegen versuchte sich Nietzsches bester, treuester und öffentlich unauffälligster Freund, der Basler Theologe Franz Overbeck, über den verlorenen Freund und seine Beziehung zu ihm im Klaren zu werden. Overbeck, ein paar Jahre älter, hatte im Jahr 1870 mit dem philologischen Wunderkind in Basel eine Professoren-WG bezogen, Adresse: Schützengraben Nr. 45, „Baumannshöhle“ genannt nach dem Namen der Vermieterin. Fünf Jahre wohnten beide dort, bis Overbeck heiratete, und sie hielten weiter zusammen, als Nietzsche auf seine Wanderschaft in felsige Höhen ging und Overbeck von Basel aus als sein Briefpartner, Finanzassistent, Literaturagent und Seelenberater fungierte.
In seinen Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, an denen der glaubenslose Theologe bis zu seinem eigenen Tod im Juni 1905 arbeitete, wollte Overbeck die festlegende Deutung Nietzsches von der Katastrophe des Wahnsinns her – beziehungsweise die festlegende Deutung des Wahnsinns von Nietzsches Werken her – tunlichst vermeiden. Denn die Zurückweisung Nietzsches wie auch die unkritische Heroisierung arbeiteten beide jeweils gerne mit der vulgärpsychologischen Betonung jenes Zusammenhangs.
Die selbstauferlegte Distanznahme war indes eine fast übermenschliche Aufgabe, stand doch besonders Overbeck unter dem Eindruck der letzten Jahre. Nietzsche hatte ihm noch am 13. November 1888 von jenseits der Alpen geschrieben: „Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune“, aber dann war es wenige Wochen später derselbe Overbeck, der den zusammengebrochenen Nietzsche aus Turin abholte, der sich rührend um seine Unterbringung in den Kliniken und vieles andere kümmerte, der ihn 1895 nach fünf Jahren Pause in Naumburg wiedersah und dort „den Eindruck eines todeswunden, edlen Tieres“ empfing, „das sich in den Winkel zurückgezogen in dem es nur noch zu verenden denkt“. Gerade die letzten grässlichen Bilder des Freundes aber will Overbeck im Schreiben über Nietzsche in die richtige Relation zum Ganzen setzen, indem er eine ausgewogene Gesamtwürdigung versucht.
Um der Aufgabe Herr zu werden, will Overbeck einerseits natürlich der Bedeutung Nietzsches gerecht werden – er erkennt ausdrücklich dessen Überlegenheit an –, andererseits aber will er, mit den philologischen Mitteln des modernen Kirchenhistorikers ausgestattet, Kritikfähigkeit beweisen. (Die Kirchengeschichte ist, schrieb Overbeck einmal, „die eigentliche Schule des Scepticismus für Theologen.“) Solche schonungslose Unbestechlichkeit meinte Franz Overbeck gleich drei Instanzen schuldig zu sein: erstens Nietzsche, denn wahre Freundschaft heißt zwischen kritischen Intellektuellen, ohne Rücksicht auch Skepsis zu formulieren, und wenn es posthum geschieht; zweitens sich selbst, denn mit dem Freundschaftsporträt geht auch immer wieder die Bilanzierung der eigenen Geschichte einher; und drittens der Vereinnahmung durch das „Nietzsche-Archiv“ der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar, wo an der Umwandlung des Philosophen in eine völkisch-antisemitische Heldenfigur gearbeitet wurde.
So kommt es, dass sich in Overbecks einsichtsvollem Text über Nietzsche auch ebenso einsichtsvolle Einschränkungen finden wie diese: „Seine Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen.“ – „Die Neukultivierung der Menschheit, die er unternommen, ist nur unter dem Zeichen der Desperation zu unternehmen: das beweist Nietzsche nicht am wenigsten eindringlich mit dem Einfall, sich mit dem Übermenschen zu identifizieren, und der praktischen Durchführung, die er ihm in seinem Leben gegeben hat.“ – „Er hat vielleicht den ,Willen zur Macht‘ mit solcher Beredsamkeit zum Ideal entwickelt, wie es nur einem möglich war, dem dieses Ideal so sehr als solches vorschwebte und in ihm selbst nicht eigentlich Fleisch geworden war.“ Das Wort „Ideal“ ist da beinahe gemein, denn nichts wollte Nietzsche weniger sein als ein Idealist („Jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus“, hieß es in einem Brief).
Wenn die Kontextualisierung in wissenschaftlicher Manier für Overbeck eine Ordnungs- und Trostfunktion haben sollte, so tat er sich doch mit der Ausführung nicht leicht. In der kritischen Ausgabe der Werke Overbecks, wo sie vor einigen Jahren ediert wurden, nehmen die disparaten Nietzsche-Notizen mehrere hundert Seiten ein. Daraus machte Carl Albrecht Bernoulli, Overbecks Schüler und von diesem dazu autorisiert, eine bündige Lesefassung, die 1906, nach Overbecks Tod, in der Neuen Rundschau publiziert wurde. Auch Bernoulli hatte die Schule der neutestamentlichen Philologie durchlaufen: Da lernt man nicht nur das Gespür für vielstimmiges, zu scheidendes Quellenmaterial, sondern eben auch umgekehrt das Gespür für die geschickte Redaktion zu einem Ganzen. Diese Lesefassung ist nun in einer der schönen Ausgaben des Berenberg Verlages neu zu lesen, zusammen mit den Briefen an Heinrich Köselitz (Peter Gast) und einem Nachwort des Germanisten Heinrich Detering; dieser stellt die hübsche Frage, was wohl herausgekommen wäre, wenn Friedrich Nietzsche umgekehrt einen derartigen Erinnerungstext über Franz Overbeck hätte schreiben sollen.
In solche Was-wäre-wenn-Sphären begibt sich auch Ludger Lütkehaus mit einem sonderbaren Text mit dem Titel „Die Heimholung“. Auch hier geht es um die Jahre des Wahns: Wie der große Antichrist Nietzsche in der Pflege der Mutter wieder zum kleinen Naumburger Pfarrerssohn wird, von der Witwe 1890 bis 1897 aufopferungsvoll umhegt. Lütkehaus, der die Briefe Nietzsches an die Mutter herausgegeben und sonst viel für das Verständnis von Nietzsche, Schopenhauer und anderen getan hat, probiert eine „Erzählung“ aus der Perspektive der Mutter; der erste Satz lautet: „Fast immer war er ihr guter Sohn, ihr innigst geliebtes Herzenskind gewesen . . .“ Das bis ins Vokabular zwitterhafte Ergebnis kann weder literarisch noch als Sachtext recht überzeugen, auch wenn wir immerhin lernen, dass Nietzsches Mutter offenbar von der Matriarchatstheorie Johann Jakob Bachofens, des Basler Kollegen Nietzsches, gehört hat.
Auch in der Läppischkeit ist Lütkehaus’ „Heimholung“ eine weitere Erinnerung, dass bei keinem Denker Philosophie und Biographie schwerer zu trennen sind. Bleibt also noch das dritte neue Nietzsche-Buch, die Biographie von Sabine Appel. Leider ist sie kaum der Rede wert. Das Buch ist arg oberflächlich (im negativen, nicht in dem positiven Sinne, in dem Nietzsche die Oberflächlichkeit der Griechen lobte), und es zeugt davon, dass man ohne gewisse Einblicke in zwei Disziplinen wohl keine befriedigende Nietzsche-Biographie schreiben kann: nämlich in Philologie und Theologie.
Aber es gibt ja noch Kilometer an Forschungsliteratur sowie den Philosophen selbst zu lesen. Aber Vorsicht – dessen Denken, warnt Karl Jaspers, „ist leer, wenn man etwas haben will, das gilt und besteht; es ist erfüllt, wenn man in die Teilnahme an der Bewegung kommt.“ JOHAN SCHLOEMANN
FRANZ OVERBECK: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und mit einem Essay von Heinrich Detering. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 156 Seiten, 20 Euro.
SABINE APPEL: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2011. 272 Seiten, 19,95 Euro.
LUDGER LÜTKEHAUS: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung. Schwabe Verlag, Basel 2011. 110 Seiten, 13,80 Euro.
„Ich machte aus meinem Willen
zur Gesundheit, zum Leben,
meine Philosophie . . .“
„Jeder Satz meiner Schriften
enthält die
Verachtung des Idealismus“
Der norwegische Maler Edvard Munch schrieb in einem Brief: „Es hat ja seine Schwierigkeiten, einen Toten zu malen – aber es wird ja leichter bei einem wie ihm, der in seinen Werken lebt.“ Und so malte er Friedrich Nietzsche – hier die Osloer Fassung von 1906.
Der Theologe Franz Overbeck (1837-1905) war Nietzsches treuester Freund.
Fotos: AKG / VG Bildkunst, Bonn 2011, Archiv der Universitätsbibliothek Basel
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
hat sich zurückgezogen
Neue Bücher über Friedrich Nietzsche führen es vor:
Bei keinem sind Denken und Leben schwerer zu trennen
Erst im Wahnsinn wurde der Philosoph Friedrich Nietzsche richtig berühmt. Nicht der Wahnsinn als solcher, der ihn zum Jahreswechsel 1888/1889 in Turin ergriff, hatte diese Wirkung; denn an irre Gewordenen und Seelenkranken gab es zur Zeit von „Europas Edelfäule“ (Gottfried Benn) ja keinen Mangel. Aber erst der Umstand, einen großen Kopf und einsamen Wanderer in rätselhafter Umnachtung zu wissen, verlieh für das zeitgenössische Publikum der denkerischen Freiheit und Ungeheuerlichkeit in Nietzsches Schriften ihren besonderen Reiz.
Zwar hatte die Mischung aus harter Unnahbarkeit und gesteigerter Feinfühligkeit, aus Hammer und Spiel, welche zumal in den Texten der letzten Jahre zu finden war, Nietzsches Bekanntheit schon vor seinem Zusammenbruch langsam zu weiten begonnen; so hatte ihn noch im Jahr des euphorischen Ausstoßes überspannter letzter Werke, im Jahr 1888, Georg Brandes in Kopenhagen zum großen europäischen Intellektuellen ausgerufen. Doch größeren Absatz fanden Nietzsches Bücher erst, als er selber keine mehr schreiben konnte; als der beurlaubte Basler Professor für Klassische Philologie von Italien aus zuerst in die Irrenanstalt in Basel, dann in die Irrenanstalt in Jena, dann heim nach Naumburg in die Pflege der Mutter und schließlich noch als zentrales Ausstellungsstück des neuen Nietzsche-Kultes zur Schwester nach Weimar gebracht wurde, wo er im August 1900 nun auch leiblich verstarb.
Es waren also jene Jahre, als Nietzsche, zwischen Phasen von verwirrter, aber ausnehmender Höflichkeit, laut herumbrüllte und nackt herumtanzte, bis er in immer größerer Stille des Bewusstseins dahindämmerte – es waren gerade jene Jahre, in denen der Autor des „Zarathustra“ als bedeutender Philosoph und Prophet ins allgemeine Bewusstsein trat. Deshalb ist das Verhältnis von Krankheit und unerhörtem Denken des Wahrheitszertrümmerers seit jeher eine viel debattierte Frage der Interpretation: War der zerstörerische Wahnsinn ein Bruch? Oder etwa nur der Paukenschlag nach längerem Crescendo?
„Bis in die Wahnsinnszettel hinein ist der Geist gegenwärtig, durch den noch der Wahn einen Sinn erhält“, so formulierte es Karl Jaspers. Und Nietzsches Leben ist „ein lyrisch-tragisches Schauspiel von höchster Faszination“ – so Thomas Mann 1947 – erst recht deshalb, weil es ja ein entscheidender Wesenszug seiner antiakademischen und zeitgemäß unzeitgemäßen Philosophie ist, Leben und Denken zusammenzudenken. Wir sollten selbst die Dichter unseres Lebens werden, forderte Nietzsche; immer wieder reflektierte er, von allerlei Gebrechen geplagt, über den Umgang mit der Krankheit und stellte allgemeine ästhetische, psychologische und klimatische Bedingungen für große und vitale Philosophen auf, die er vor allem für sich selbst als günstig ansah; und in der unbescheidenen Selbstbeschreibung „Ecce homo“ von 1888 heißt es: „Ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie . . .“ Angesichts dieser komplexen Problemlage kann es nur als schlicht bezeichnet werden, wenn Nietzsches jüngste Biographin Sabine Appel zu seiner Zerrüttung ohne allzu viel weitere Überlegung postuliert: „Nichts von diesem Wahn ist ohne Zusammenhang mit Nietzsches Denken und Leben. Es ist so etwas wie die letzte Stufe davon.“
Äußerst skrupulös hingegen versuchte sich Nietzsches bester, treuester und öffentlich unauffälligster Freund, der Basler Theologe Franz Overbeck, über den verlorenen Freund und seine Beziehung zu ihm im Klaren zu werden. Overbeck, ein paar Jahre älter, hatte im Jahr 1870 mit dem philologischen Wunderkind in Basel eine Professoren-WG bezogen, Adresse: Schützengraben Nr. 45, „Baumannshöhle“ genannt nach dem Namen der Vermieterin. Fünf Jahre wohnten beide dort, bis Overbeck heiratete, und sie hielten weiter zusammen, als Nietzsche auf seine Wanderschaft in felsige Höhen ging und Overbeck von Basel aus als sein Briefpartner, Finanzassistent, Literaturagent und Seelenberater fungierte.
In seinen Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, an denen der glaubenslose Theologe bis zu seinem eigenen Tod im Juni 1905 arbeitete, wollte Overbeck die festlegende Deutung Nietzsches von der Katastrophe des Wahnsinns her – beziehungsweise die festlegende Deutung des Wahnsinns von Nietzsches Werken her – tunlichst vermeiden. Denn die Zurückweisung Nietzsches wie auch die unkritische Heroisierung arbeiteten beide jeweils gerne mit der vulgärpsychologischen Betonung jenes Zusammenhangs.
Die selbstauferlegte Distanznahme war indes eine fast übermenschliche Aufgabe, stand doch besonders Overbeck unter dem Eindruck der letzten Jahre. Nietzsche hatte ihm noch am 13. November 1888 von jenseits der Alpen geschrieben: „Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune“, aber dann war es wenige Wochen später derselbe Overbeck, der den zusammengebrochenen Nietzsche aus Turin abholte, der sich rührend um seine Unterbringung in den Kliniken und vieles andere kümmerte, der ihn 1895 nach fünf Jahren Pause in Naumburg wiedersah und dort „den Eindruck eines todeswunden, edlen Tieres“ empfing, „das sich in den Winkel zurückgezogen in dem es nur noch zu verenden denkt“. Gerade die letzten grässlichen Bilder des Freundes aber will Overbeck im Schreiben über Nietzsche in die richtige Relation zum Ganzen setzen, indem er eine ausgewogene Gesamtwürdigung versucht.
Um der Aufgabe Herr zu werden, will Overbeck einerseits natürlich der Bedeutung Nietzsches gerecht werden – er erkennt ausdrücklich dessen Überlegenheit an –, andererseits aber will er, mit den philologischen Mitteln des modernen Kirchenhistorikers ausgestattet, Kritikfähigkeit beweisen. (Die Kirchengeschichte ist, schrieb Overbeck einmal, „die eigentliche Schule des Scepticismus für Theologen.“) Solche schonungslose Unbestechlichkeit meinte Franz Overbeck gleich drei Instanzen schuldig zu sein: erstens Nietzsche, denn wahre Freundschaft heißt zwischen kritischen Intellektuellen, ohne Rücksicht auch Skepsis zu formulieren, und wenn es posthum geschieht; zweitens sich selbst, denn mit dem Freundschaftsporträt geht auch immer wieder die Bilanzierung der eigenen Geschichte einher; und drittens der Vereinnahmung durch das „Nietzsche-Archiv“ der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar, wo an der Umwandlung des Philosophen in eine völkisch-antisemitische Heldenfigur gearbeitet wurde.
So kommt es, dass sich in Overbecks einsichtsvollem Text über Nietzsche auch ebenso einsichtsvolle Einschränkungen finden wie diese: „Seine Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen.“ – „Die Neukultivierung der Menschheit, die er unternommen, ist nur unter dem Zeichen der Desperation zu unternehmen: das beweist Nietzsche nicht am wenigsten eindringlich mit dem Einfall, sich mit dem Übermenschen zu identifizieren, und der praktischen Durchführung, die er ihm in seinem Leben gegeben hat.“ – „Er hat vielleicht den ,Willen zur Macht‘ mit solcher Beredsamkeit zum Ideal entwickelt, wie es nur einem möglich war, dem dieses Ideal so sehr als solches vorschwebte und in ihm selbst nicht eigentlich Fleisch geworden war.“ Das Wort „Ideal“ ist da beinahe gemein, denn nichts wollte Nietzsche weniger sein als ein Idealist („Jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus“, hieß es in einem Brief).
Wenn die Kontextualisierung in wissenschaftlicher Manier für Overbeck eine Ordnungs- und Trostfunktion haben sollte, so tat er sich doch mit der Ausführung nicht leicht. In der kritischen Ausgabe der Werke Overbecks, wo sie vor einigen Jahren ediert wurden, nehmen die disparaten Nietzsche-Notizen mehrere hundert Seiten ein. Daraus machte Carl Albrecht Bernoulli, Overbecks Schüler und von diesem dazu autorisiert, eine bündige Lesefassung, die 1906, nach Overbecks Tod, in der Neuen Rundschau publiziert wurde. Auch Bernoulli hatte die Schule der neutestamentlichen Philologie durchlaufen: Da lernt man nicht nur das Gespür für vielstimmiges, zu scheidendes Quellenmaterial, sondern eben auch umgekehrt das Gespür für die geschickte Redaktion zu einem Ganzen. Diese Lesefassung ist nun in einer der schönen Ausgaben des Berenberg Verlages neu zu lesen, zusammen mit den Briefen an Heinrich Köselitz (Peter Gast) und einem Nachwort des Germanisten Heinrich Detering; dieser stellt die hübsche Frage, was wohl herausgekommen wäre, wenn Friedrich Nietzsche umgekehrt einen derartigen Erinnerungstext über Franz Overbeck hätte schreiben sollen.
In solche Was-wäre-wenn-Sphären begibt sich auch Ludger Lütkehaus mit einem sonderbaren Text mit dem Titel „Die Heimholung“. Auch hier geht es um die Jahre des Wahns: Wie der große Antichrist Nietzsche in der Pflege der Mutter wieder zum kleinen Naumburger Pfarrerssohn wird, von der Witwe 1890 bis 1897 aufopferungsvoll umhegt. Lütkehaus, der die Briefe Nietzsches an die Mutter herausgegeben und sonst viel für das Verständnis von Nietzsche, Schopenhauer und anderen getan hat, probiert eine „Erzählung“ aus der Perspektive der Mutter; der erste Satz lautet: „Fast immer war er ihr guter Sohn, ihr innigst geliebtes Herzenskind gewesen . . .“ Das bis ins Vokabular zwitterhafte Ergebnis kann weder literarisch noch als Sachtext recht überzeugen, auch wenn wir immerhin lernen, dass Nietzsches Mutter offenbar von der Matriarchatstheorie Johann Jakob Bachofens, des Basler Kollegen Nietzsches, gehört hat.
Auch in der Läppischkeit ist Lütkehaus’ „Heimholung“ eine weitere Erinnerung, dass bei keinem Denker Philosophie und Biographie schwerer zu trennen sind. Bleibt also noch das dritte neue Nietzsche-Buch, die Biographie von Sabine Appel. Leider ist sie kaum der Rede wert. Das Buch ist arg oberflächlich (im negativen, nicht in dem positiven Sinne, in dem Nietzsche die Oberflächlichkeit der Griechen lobte), und es zeugt davon, dass man ohne gewisse Einblicke in zwei Disziplinen wohl keine befriedigende Nietzsche-Biographie schreiben kann: nämlich in Philologie und Theologie.
Aber es gibt ja noch Kilometer an Forschungsliteratur sowie den Philosophen selbst zu lesen. Aber Vorsicht – dessen Denken, warnt Karl Jaspers, „ist leer, wenn man etwas haben will, das gilt und besteht; es ist erfüllt, wenn man in die Teilnahme an der Bewegung kommt.“ JOHAN SCHLOEMANN
FRANZ OVERBECK: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und mit einem Essay von Heinrich Detering. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 156 Seiten, 20 Euro.
SABINE APPEL: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2011. 272 Seiten, 19,95 Euro.
LUDGER LÜTKEHAUS: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung. Schwabe Verlag, Basel 2011. 110 Seiten, 13,80 Euro.
„Ich machte aus meinem Willen
zur Gesundheit, zum Leben,
meine Philosophie . . .“
„Jeder Satz meiner Schriften
enthält die
Verachtung des Idealismus“
Der norwegische Maler Edvard Munch schrieb in einem Brief: „Es hat ja seine Schwierigkeiten, einen Toten zu malen – aber es wird ja leichter bei einem wie ihm, der in seinen Werken lebt.“ Und so malte er Friedrich Nietzsche – hier die Osloer Fassung von 1906.
Der Theologe Franz Overbeck (1837-1905) war Nietzsches treuester Freund.
Fotos: AKG / VG Bildkunst, Bonn 2011, Archiv der Universitätsbibliothek Basel
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Beatrice Eichmann-Leutenegger schwelgt in der eleganten Prosa des Autors, der hier sein gesammeltes Wissen über Nietzsche auf die spezielle Mutter-Sohn-Beziehung fokussiert. Die Art und Weise, wie Ludger Lütkehaus Nietzsches letzte Jahre in der Obhut seiner Mutter in die biografische Erzählung fasst, besticht laut Rezensentin durch eine überzeugende Darstellung von Einzelheiten aus dem Leben Franziska Nietzsches. So gelingt es Lütkehaus, ihren Gottesbegriff und ihren Verständnishorizont anschaulich zu machen. Ferner schätzt Eichmann-Leutenegger die atmosphärische Dichte der Erzählung und das in sie eingeflossene historische Wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH