Von April bis Anfang Juni 1979 kurz vor des Autors Unfalltod geschrieben, sind diese "Note sur la photographie" im Jahre 1985 auf deutsch veröffentlicht worden. Der Essay gliedert sich in 2mal 24 kurze Gedankenstücke in zwei überschriftlosen Abschnitten. In Teil I hat Barthes die Ergebnisse seines
Studiums aphoristisch niedergelegt, ohne nach seinem eigenen Urteil die Natur der PHOTOGRAPHIE (im…mehrVon April bis Anfang Juni 1979 kurz vor des Autors Unfalltod geschrieben, sind diese "Note sur la photographie" im Jahre 1985 auf deutsch veröffentlicht worden. Der Essay gliedert sich in 2mal 24 kurze Gedankenstücke in zwei überschriftlosen Abschnitten. In Teil I hat Barthes die Ergebnisse seines Studiums aphoristisch niedergelegt, ohne nach seinem eigenen Urteil die Natur der PHOTOGRAPHIE (im Text in Großbuchstaben), ihre Evidenz, ihr eigentümliches »Wesen«, ihr Noema zu entdecken. Also lässt uns der Autor an seinem gescheiterten Versuch teilhaben, trotz aller Einkreisungen und Abgrenzungen dem, was das PHOTO von anderen Darstellungen unterscheidet, näher gekommen zu sein.
Um dem Spezifikum der Fotografie wirklich auf die Spur zu kommen, brauchte Barthes erst einmal eine neue Einstellung zum Gegenstand. Und diese konnte er erst mit dem Tod, und zwar dem der geliebten Mutter, erlangen. Und nun nimmt uns der Autor im II. Teil seines Essays Schritt für Schritt mit auf der Suche nach dem (einen) Photo, welches die Wahrheit des Gesichts der Mutter enthält: und er findet es tatsächlich. Barthes entwickelt in den folgenden Abschnitten eine Fülle von klugen Beobachtungen, die das PHOTO vom Film, vom Gemälde und von anderen Künsten (Texten) unterscheidet und ihm einen einzigartigen Status einräumt. So banal und oberflächlich das fotografische Bild sei, im PHOTO gebe es eine notwendige Verbindung von Wirklichkeit und Vergangenheit, die ursprüngliche Anwesenheit des Gegenstands sei niemals metaphorisch; solche Aussagen, die bei den Konstruktivisten der 80er Jahre skandalös wirkten, brachten dem Autor zuletzt den Vorwurf ein, zum naiven Realismus zurückgekehrt zu sein.
Im Buch finden sich 25 Schwarzweissabzüge und wir suchen natürlich das entscheidende Foto seiner Mutter; aber Barthes zeigt uns ausgerechnet dieses nicht. Wenn wir verstanden haben, weshalb er es uns nicht zeigen kann (weil es für uns Leser völlig belanglos wäre), hätte Barthes sein Ziel erreicht. Nur ein Foto unserer eigenen Mutter oder eines anderen geliebten Menschen, der nicht mehr existiert, liesse uns ebenso wie Barthes das Wesen der PHOTOGRAPHIE verstehen. Die Konfrontation mit dem "Schwindel durch die zermalmte Zeit" zeigt die Spur, auf der wir zur Einzigartigkeit der PHOTOGRAPHIE gelangen können.
Eine hellsichtige und aktuelle Einsicht des Buches ist bereits auf dem Schutzumschlag zu lesen: daß nämlich fortgeschrittene Gesellschaften Bilder konsumieren und nicht, wie frühere Gesellschaften, Glaubensinhalte. Daher seien moderne Gesellschaften »liberaler, weniger fanatisch, dafür aber auch »falscher« (weniger »authentisch«) und Barthes folgert: schaffen wir die Bilderflut ab und retten das unmittelbare Begehren. Diese These erscheint erst als letzte 48. Bemerkung und wird nicht mehr näher erläutert.
Wenn man sich zur Lektüre der "hellen Kammer" (camera lucida) entschliesst, sollte man die bibliophile Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp bevorzugen, die einem zu Recht das Gefühl gibt, einen besonderen Text in Händen zu halten.