Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 55,00 €
  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Nomos
  • 2. Auflage
  • Deutsch
  • ISBN-13: 9783789072697
  • ISBN-10: 3789072699
  • Artikelnr.: 21979067
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.1999

Muster der Wende
In der "Heyde/Sawade-Affäre" steckt auch eine Karl-Binding-Affäre

Klaus-Detlev Godau-Schüttke: Die Heyde/Sawade-Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NS-Euthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998. 337 Seiten, 48,- Mark.

Werner Heyde wurde 1902 geboren, studierte Medizin, promovierte 1925 und habilitierte sich 1932 in Würzburg für Psychiatrie und Neurologie. Von 1940 bis 1945 war er als ordentlicher Professor Direktor der Nervenklinik in Würzburg. Ab 1933 war Heyde Mitglied der NSDAP, ab 1936 Mitglied der SS. Heyde war ab 1939 steuernd und leitend an der sogenannten "Erwachseneneuthanasie" des NS-Regimes beteiligt. Mindestens 100 000 Menschen wurden getötet. Nach Kriegsende wurde Heyde wegen Mordes verhaftet, konnte aber fliehen. Unter dem Namen "Dr. med. Fritz Sawade" lebte und arbeitete Heyde ab 1949 in Schleswig-Holstein. Viele Personen wußten, daß Sawade Heyde war. 1959 wurde das öffentlich. Heyde wurde verhaftet und in Frankfurt am Main wegen Mordes angeklagt. Er tötete sich 1964.

Godau-Schüttke stellt diesen Lebensweg genau und facettenreich dar. Der bis 1945 reichende Teil des Buches resümiert und erweitert den Stand des Wissens über die Tötung von Kindern und Erwachsenen unter dem Namen "Euthanasie" im NS-Regime und belegt den großen Einfluß Heydes in dieser Tötungsorganisation. Die grauenvollen Tötungsverfahren werden beschrieben, die abstoßenden Verschleierungstechniken ermittelt. Ohne Aufdringlichkeit macht der Text klar, welch große Zahl von Medizinern und medizinischem Hilfspersonal, Juristen und Verwaltungsbeamten technisch nötig und persönlich bereit war, die Massentötungen zu veranlassen und zu begehen.

Eine der wichtigsten Quellen für bedrängende Schicksale, für den ledernen Regelbürokratismus der "Euthanasie"-Massenmord-Organisation und für die Macht einzelner Funktionäre über Leben und Tod ist die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts in Frankfurt gegen Heyde vom 22. Mai 1962. Diese Anklageschrift - nach den Zitaten, die Godau-Schüttke vorlegt, dem Frankfurter Auschwitz-Urteil 1965 vergleichbar - sollte im Druck zugänglich werden.

Das Hauptinteresse Godau-Schüttkes gilt dem bürgerlich-angesehenen Leben Prof. Heydes als Dr. Sawade ab 1949. Die politische Situation, in der Heyde sich zunächst unbehelligt bewegen konnte, und das kongeniale Personen-Netzwerk, das Heyde trug, werden plastisch beschrieben. Es ist erstaunlich, in Detailstudien zu Behördenorganisationen in den fünfziger Jahren und zu beruflichen Nachkriegslaufbahnen von früheren NS-Mächtigen vorgeführt zu bekommen, wie dicht NS-Zeit und Nachkriegszeit verwoben waren. Erst 1959 ist nicht mehr zu unterdrücken, was Dr. Sawade als Prof. Heyde getan hat.

Akribisch wird über die Versuche berichtet, den "Heyde/Sawade"-Komplex juristisch zu bewältigen. Trotz sorgfältiger Überwachung bringt sich der Angeklagte Heyde in der Untersuchungshaft um. Zwei Untersuchungsausschüsse des Schleswig-Holsteinischen Landtags verhandeln ohne klare Ergebnisse. Die Strafverfahren wegen Begünstigung und Strafvereitelung gegen einflußreiche Personen, denen man mit guten Gründen vorhalten kann, sie hätten von Heydes Doppelexistenz gewußt, verlaufen ergebnislos. Einem Zeitungsredakteur wird vorgeworfen, in einem Artikel zu "Heyde/Sawade" einen Politiker verleumdet zu haben; das Strafverfahren endet mit der Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe.

Godau-Schüttkes Buch protokolliert präzise das Leben Heydes und das Leben Sawades. Die zeitgeschichtlichen Kräfte, die juristischen Organisationsformen, die Personen, die Atmosphären, die "Heyde/Sawade" bestimmen und die er nutzt, sind sorgfältig beschrieben - so sorgfältig, daß die vielen Leser, denen "Heyde/Sawade-Affäre" nichts mehr sagt, auf den Gedanken kommen können, alles sei geradezu normal vonstatten gegangen; anders hätte es nicht gehen können und müssen. Gegen das Entstehen dieses Eindrucks schützt sich Godau-Schüttke durch eine unverhohlene Empörung, die die Darstellung der Abläufe durchzieht. Also: ein genaues, empörtes Protokoll einer abgeschlossenen Affäre. Empörte Protokollierung bleibt allerdings hinter der Bedeutung des Vorgangs zurück; und abgeschlossen (historisch) ist die Sache nicht.

Godau-Schüttke beschreibt die Vorgänge als Besonderheiten des Übergangs vom NS-Regime zur Nachkriegszeit. Aber "Heyde/Sawade" ist ein modernes politisch-juristisches Muster, das zu großen und kleinen politischen Wenden im zwanzigsten Jahrhundert gehört. Dieses Muster besteht aus einer trotz der Wende weiterwirkenden politischen Atmosphäre und aus einem juristischen (personenrechtlichen, arbeitsrechtlichen, disziplinarrechtlichen, strafrechtlichen) Geflecht; die Summe aus beidem ermöglicht den mächtigen Vertretern aus Zeiten vor Wenden ein Weiterleben in den Kategorien der Nach-Wende-Zeit ohne Aufgabe der beruflichen und politischen Identität.

Das Muster findet sich im Anschluß an die Massaker in Armenien 1914/15, am Ende des Ersten und Zweiten Weltkrieges, nach der Beendigung der Herrschaft der Roten Khmer, nach dem Zusammenbruch der DDR, findet sich aktuell in Jugoslawien. Dabei spielt die größte Rolle eine Überzeugung der von den Wenden Getroffenen und ihrer Sympathisanten, die sich so zusammenfassen läßt: Was vor der Wende richtig war, ist auch jetzt, nachdem Staatskriminalität beendet und eigentlich umgewertet ist, noch richtig (oder könnte es zumindest sein, wenn man nicht politisch oder militärisch Pech gehabt hätte).

Bei Heyde ist das an vielen Einzelheiten, die Godau-Schüttke registriert, beispielhaft zu besichtigen. Bis in den Abschiedsbrief von 1964 hinein gibt er die Auffassung von der gesellschaftspolitischen Richtigkeit der Tötung schwer geisteskranker Menschen nicht auf. Daß diese Überzeugung offen oder unterschwellig auch nach 1945 geteilt wurde, hat Sawade getragen. Er versteht nicht, warum ihn der gleichgestimmte Kreis, in dem er nach dem Zweiten Weltkrieg gelebt hat, hat fallenlassen. Das ist auch nicht glatt zu verstehen. Eigentlich hätte Heyde davonkommen müssen.

Wie nahe Heyde dem Davonkommen war, zeigt sich an der Bedeutung des Strafrechtsprofessors Karl Binding (1841 bis 1920) für die Massentötung Geisteskranker im Dritten Reich und für den Lebensweg Heydes. Heyde verweist in seinem Abschiedsbrief vor der Selbsttötung darauf, er habe doch weniger getan, als nach Bindings verbreiteter Vokabel aus dem Jahr 1920 "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" möglich gewesen wäre - jener grausamen juristischen Vokabel, die den späteren NS-Tötungsaktionen einen professionellen Namen und eine Organisationsstruktur zur Verfügung gestellt hat. 1964 nimmt Heyde Binding für sich in Anspruch, mit guten Gründen. Nur: Heyde ist wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft, Binding gilt nach wie vor als großer Strafrechtstheoretiker. Wenn die politisch-juristischen Verläufe nach dem Zweiten Weltkrieg Karl Binding nicht umwerten, warum dann Heyde? Die Zusammenhänge zwischen der großen Normentheorie Bindings, seiner juristischen Begünstigung der "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" und seinen Tiraden gegen die Versuche des Versailler Vertrages 1919, ungerechte Staatenlenker als Kriegsverbrecher anzuklagen, sind so schwer nicht zu sehen. Godau-Schüttke bemerkt dieses Problem. Er muß, bei allem Zögern, Binding gegen Heyde retten. Aber die Rettung kann nicht gelingen. Weder war Binding, wie Godau-Schüttke meint, ahnungslos (Bindings Schrift von 1920, 2. Auflage 1922, setzt sich für eine Staatsorganisation zum Töten ein), noch bestand, wie Godau-Schüttke formuliert, Binding auf einem streng justizförmigen Verfahren bei der Auswahl der zu Tötenden (die Verfahrensüberlegungen Bindings sind dürftig und zielen auf die Beseitigung praktischer Hindernisse); und selbst das genaueste justizförmige Verfahren kann die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" nicht begründen. In der "Heyde/Sawade-Affäre" steckt auch eine Karl-Binding-Affäre. Heyde hat das klarer gesehen, als man es heute sieht.

Das Wichtigste an dem Heyde/Sawade-Muster ist, daß Heyde nicht davonkommt. Das hervorstechende Profilstück in diesem Muster ist, daß es sich im geachteten Weiterleben der Protagonisten von Staatskriminalität nach einer Wende eben nicht erschöpft. Dieses moderne Muster zeigt das regelmäßige Scheitern des Geachtetwerdens durch Eingriffe der nationalen und internationalen Strafjustiz. Godau-Schüttke schätzt die Bedeutung der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main gegen Heyde von 1962 viel zu gering ein. Diese Anklage ist der bedeutsamste Vorgang in "Heyde/Sawade" (und nicht etwa jenes Strafverfahren gegen einen Redakteur wegen politischer Verleumdung, ein Verfahren, dem Godau-Schüttkes ganze Empörung gilt). Diese Anklage kippt die Bewertung Heydes in der Nachkriegszeit, formuliert Kriterien für die strafrechtliche Beurteilung eines staats-, damit machtnahen Lebenslaufs, entzieht dem geachteten Weiterleben eines staatlich gestützten Massenmörders die Grundlage. Heydes Abschiedsbrief belegt, daß er das verstanden hat.

Die "Heyde/Sawade-Affäre" ist ein wichtiges Stück in der Bildung dieses politisch-juristischen Musters: menschenverachtende Machtausübung in einem Klima politisch-juristischer Zustimmung - Verlust dieser Zustimmung durch Verlust der Machtmittel - Weiterwirken in einem Klima stillschweigender Übereinstimmung über die ungebrochene Richtigkeit der früheren Machtausübung - Einbruch der Strafjustiz in dieses Einverständnis und Zerstörung dieses Einverständnisses.

WOLFGANG NAUCKE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr