Der virtuelle Raum ist keine Erfindung des elektronischen Zeitalters, sondern fest verwurzelt in der Geschichte der abendländischen Kultur. Margaret Wertheim lädt zu einer faszinierenden Reise durch die Geschichte des Raums ein - vom mittelalterlichen dualistischen Weltbild über die perpektivische Malerei der Renaissance bis hin zum relativistischen Raumkonzept Einsteins. Die Reise endet beim Cyberspace, der den Menschen eine schöne neue Welt verheißt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Die ihr einlogt, laßt jede Hoffnung fahren
Margaret Wertheim vermißt virtuelle Räume ganz ohne Grafikkarte / Von Bernhard Dotzler
Erneut bestätigt sich "Star Trek" als treuer Spiegel der Illusionen, die über die technologische Gegenwart herrschen. Captain Kirk und seine Crew verkörperten die Übertragung des amerikanischen Frontier-Mythos auf die Raumfahrt. Mit der Enterprise der nächsten Generation nahm die Fernsehserie die Projektion desselben amerikanischen Traums in die Multimedia-Regionen des Cyberspace vorweg. "Unendliche Weiten . . .": So tönt - von seiten der Anbieter nicht anders als vom größten Teil seiner selbsternannten Philosophen - die Reklame für das Internet. Die ganze Logik der "Star Trek"-Abenteuer gleicht der jener MUDs (Multi User Dungeons), die der Science-fiction-Autor William Gibson als Paradebeispiel für seine Idee einer netzbasierten kollektiven "Konsens-Halluzination" bezeichnet hat.
Was ein rechter Fan ist, möchte freilich auch wissen, ob und wie die phantastischen Expeditionen im Fernsehen mit der wirklichen Welt vereinbar sind. "Du kannst die Gesetze der Physik nicht ändern", führte nicht umsonst der Chefingenieur der ersten Enterprise, Montgomery Scott alias "Scotty", gern aus. Das muß man auch nicht. Den berühmt-berüchtigten Warp-Antrieb zum Beispiel, der Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit ermöglicht, hat man im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie durchaus für denkbar erklärt. Ein Team der Nasa, heißt es, spekuliere tatsächlich über vergleichbare Formen eines Weltraumantriebs. Die Fiktion ist also nicht ausschließlich fantasy, sondern berührt die seriöse Wissenschaft, und deswegen kann man der Enterprise immer wieder außerhalb der engeren Fangemeinde begegnen. So auch in Margaret Wertheims "Geschichte des Raums von Dante zum Internet".
Für sie bedeutet "Star Trek" dreierlei. Zunächst besiegelt die Serie durch Popularisierung das Weltbild der jüngeren und jüngsten Physik. Außerdem steht sie für die medialen Möglichkeiten des Cyberspace, dessen imaginäre Szenarien spielend über alle physikalischen Beschränkungen hinwegsehen lassen. Insoweit beschreiben die Abenteuer des Föderationenraumschiffs ein Übergangsphänomen, das bei überkommenen Sicherheiten ansetzt, dabei jedoch in die - für seinen Fall ja sprichwörtlich gewordenen - neuen Welten aufbricht. Drittens aber soll die Phantastik, die "Star Trek" mit den virtuellen Realitäten im Internet teilt, zugleich einen Brückenschlag weit zurück in die Vergangenheit erlauben. Wie "der Cyber-Bereich heute", schreibt Wertheim, war schon das "Leben nach dem Tode", an das man im Mittelalter glaubte, "eine kollektive Parallelwelt der Phantasie". Insbesondere Dantes "Göttliche Komödie" schildert in diesem Sinne "eine der ,sagenhaftesten' Welten, die je in Worten beschworen wurden": "In gewisser Weise ist es ein echt mittelalterliches MUD."
Was die Verheißungen der heutigen MUDs und des Internets im allgemeinen angeht, liefert Wertheim, so redlich sie sich müht, ab und zu bedächtig den Kopf zu wiegen, lediglich ein weiteres Beispiel für die branchenübliche Kunst des Schönredens. Allerdings nimmt sie die einfachste und verläßlichste der mit dem Internet einhergehenden Prognosen auf ungewöhnliche Weise ernst: "Da immer mehr Medien, Firmen, Zeitungen, Zeitschriften, Einkaufszentren, Hochschulkurse, Bibliotheken, Kataloge, Datenbanken und Spiele ins Internet gehen, werden wir zunehmend gezwungen sein, Zeit im Cyberspace zuzubringen - ob wir das wollen oder nicht."
Das beschäftigt Wertheim, und während ihre Gleichsetzung der Fantasy-Verliese heutiger Computerspiele mit dem Purgatorium Dantes von einiger Einfalt zeugt, kann man der Kernfrage, um die es dabei geht, doch eine gewisse Dringlichkeit nicht absprechen. Die Kinder und Enkel der jetzigen system builders "werden wie im Mittelalter zunehmend eine zweigeteilte (eine physikalische und eine virtuelle) Wirklichkeit bewohnen". Das ist der Punkt. Der Cyberspace soll als Lebensraum begriffen und dazu vor dem Hintergrund "einer allgemeinen Kulturgeschichte des Raumes" betrachtet werden.
In der "Geometrie des Raumes" vollendet sich, wie Wertheim meint, die "Erhöhung" des homogenisierten physikalischen Raums als "ontologischer Kategorie", zu der spätestens Galilei die Weichen stellte. In zwei frühen Vorträgen vor der Akademie in Florenz widmete dieser sich einer "Vermessung der Hölle Dantes". Aber so deutlich das belegt, welche Realität den von Dante beschriebenen Jenseitsreichen einst zukam, so endgültig besiegelte es deren Schicksal, indem er sie der Geometrie oder eben: der "Vermessung" unterwarf.
Für Dante dagegen waren die Hölle sowenig wie der Himmel vermeßbare Orte. Statt dessen schilderte er eine jenseitige, von den Schatten der Toten wie von Engeln bevölkerte Welt. An sie für eine Gemeinde zu erinnern, die sonst nur auf die Segnungen schnellerer Datenübertragungswege und verbesserter Grafikkarten achtet, ist vielleicht das Hauptverdienst dieses Buches. Wie Dante seinem Führer Vergil vertraut es sich dafür Kennern wie Jacques Le Goff und Samuel Y. Edgerton an. Der eine schrieb über die "Geburt des Fegefeuers", der andere über "Giotto und die Erfindung der dritten Dimension". Unter solcher Anleitung kann fast nichts schiefgehen.
Weil man nun aber inzwischen auch von den Dämonen im Cyberspace immer lauter reden hört, möchte Wertheim nicht hintanstehen und eine Art Wiederkehr der Zeiten feiern, in denen man von der parallelen Wirklichkeit eines Existenzraums jenseits des Reichs physikalischer Gesetzmäßigkeiten überzeugt war. Daß solche Zeiten zu fern sein könnten, um sie anders denn als unwiederbringlich verloren wahrzunehmen, reflektiert sie nicht. An dieser Stelle übernimmt wieder allein die Phantastik die Regie. In "Star Trek"-Manier kann man leicht die "neun Kreise der Hölle, neun Terrassen des Fegefeuers und neun Sphären des Himmels" mit dem vergleichen, was "auch in vielen MUDs mit mittelalterlicher Szenerie und Kämpfen" geschieht. Man kann sich genauso leicht vorstellen, von welcher beratenden Stimme sich Wertheim vor allem leiten ließ. Sie hat den Klang von Captain Jean-Luc Piccard, wenn er kommandiert: "Make it so!"
Margaret Wertheim: "Die Himmelstür zum Cyberspace". Eine Geschichte des Raums von Dante zum Internet. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann. Ammann Verlag, Zürich 2000. 364 S., Abb., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Margaret Wertheim vermißt virtuelle Räume ganz ohne Grafikkarte / Von Bernhard Dotzler
Erneut bestätigt sich "Star Trek" als treuer Spiegel der Illusionen, die über die technologische Gegenwart herrschen. Captain Kirk und seine Crew verkörperten die Übertragung des amerikanischen Frontier-Mythos auf die Raumfahrt. Mit der Enterprise der nächsten Generation nahm die Fernsehserie die Projektion desselben amerikanischen Traums in die Multimedia-Regionen des Cyberspace vorweg. "Unendliche Weiten . . .": So tönt - von seiten der Anbieter nicht anders als vom größten Teil seiner selbsternannten Philosophen - die Reklame für das Internet. Die ganze Logik der "Star Trek"-Abenteuer gleicht der jener MUDs (Multi User Dungeons), die der Science-fiction-Autor William Gibson als Paradebeispiel für seine Idee einer netzbasierten kollektiven "Konsens-Halluzination" bezeichnet hat.
Was ein rechter Fan ist, möchte freilich auch wissen, ob und wie die phantastischen Expeditionen im Fernsehen mit der wirklichen Welt vereinbar sind. "Du kannst die Gesetze der Physik nicht ändern", führte nicht umsonst der Chefingenieur der ersten Enterprise, Montgomery Scott alias "Scotty", gern aus. Das muß man auch nicht. Den berühmt-berüchtigten Warp-Antrieb zum Beispiel, der Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit ermöglicht, hat man im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie durchaus für denkbar erklärt. Ein Team der Nasa, heißt es, spekuliere tatsächlich über vergleichbare Formen eines Weltraumantriebs. Die Fiktion ist also nicht ausschließlich fantasy, sondern berührt die seriöse Wissenschaft, und deswegen kann man der Enterprise immer wieder außerhalb der engeren Fangemeinde begegnen. So auch in Margaret Wertheims "Geschichte des Raums von Dante zum Internet".
Für sie bedeutet "Star Trek" dreierlei. Zunächst besiegelt die Serie durch Popularisierung das Weltbild der jüngeren und jüngsten Physik. Außerdem steht sie für die medialen Möglichkeiten des Cyberspace, dessen imaginäre Szenarien spielend über alle physikalischen Beschränkungen hinwegsehen lassen. Insoweit beschreiben die Abenteuer des Föderationenraumschiffs ein Übergangsphänomen, das bei überkommenen Sicherheiten ansetzt, dabei jedoch in die - für seinen Fall ja sprichwörtlich gewordenen - neuen Welten aufbricht. Drittens aber soll die Phantastik, die "Star Trek" mit den virtuellen Realitäten im Internet teilt, zugleich einen Brückenschlag weit zurück in die Vergangenheit erlauben. Wie "der Cyber-Bereich heute", schreibt Wertheim, war schon das "Leben nach dem Tode", an das man im Mittelalter glaubte, "eine kollektive Parallelwelt der Phantasie". Insbesondere Dantes "Göttliche Komödie" schildert in diesem Sinne "eine der ,sagenhaftesten' Welten, die je in Worten beschworen wurden": "In gewisser Weise ist es ein echt mittelalterliches MUD."
Was die Verheißungen der heutigen MUDs und des Internets im allgemeinen angeht, liefert Wertheim, so redlich sie sich müht, ab und zu bedächtig den Kopf zu wiegen, lediglich ein weiteres Beispiel für die branchenübliche Kunst des Schönredens. Allerdings nimmt sie die einfachste und verläßlichste der mit dem Internet einhergehenden Prognosen auf ungewöhnliche Weise ernst: "Da immer mehr Medien, Firmen, Zeitungen, Zeitschriften, Einkaufszentren, Hochschulkurse, Bibliotheken, Kataloge, Datenbanken und Spiele ins Internet gehen, werden wir zunehmend gezwungen sein, Zeit im Cyberspace zuzubringen - ob wir das wollen oder nicht."
Das beschäftigt Wertheim, und während ihre Gleichsetzung der Fantasy-Verliese heutiger Computerspiele mit dem Purgatorium Dantes von einiger Einfalt zeugt, kann man der Kernfrage, um die es dabei geht, doch eine gewisse Dringlichkeit nicht absprechen. Die Kinder und Enkel der jetzigen system builders "werden wie im Mittelalter zunehmend eine zweigeteilte (eine physikalische und eine virtuelle) Wirklichkeit bewohnen". Das ist der Punkt. Der Cyberspace soll als Lebensraum begriffen und dazu vor dem Hintergrund "einer allgemeinen Kulturgeschichte des Raumes" betrachtet werden.
In der "Geometrie des Raumes" vollendet sich, wie Wertheim meint, die "Erhöhung" des homogenisierten physikalischen Raums als "ontologischer Kategorie", zu der spätestens Galilei die Weichen stellte. In zwei frühen Vorträgen vor der Akademie in Florenz widmete dieser sich einer "Vermessung der Hölle Dantes". Aber so deutlich das belegt, welche Realität den von Dante beschriebenen Jenseitsreichen einst zukam, so endgültig besiegelte es deren Schicksal, indem er sie der Geometrie oder eben: der "Vermessung" unterwarf.
Für Dante dagegen waren die Hölle sowenig wie der Himmel vermeßbare Orte. Statt dessen schilderte er eine jenseitige, von den Schatten der Toten wie von Engeln bevölkerte Welt. An sie für eine Gemeinde zu erinnern, die sonst nur auf die Segnungen schnellerer Datenübertragungswege und verbesserter Grafikkarten achtet, ist vielleicht das Hauptverdienst dieses Buches. Wie Dante seinem Führer Vergil vertraut es sich dafür Kennern wie Jacques Le Goff und Samuel Y. Edgerton an. Der eine schrieb über die "Geburt des Fegefeuers", der andere über "Giotto und die Erfindung der dritten Dimension". Unter solcher Anleitung kann fast nichts schiefgehen.
Weil man nun aber inzwischen auch von den Dämonen im Cyberspace immer lauter reden hört, möchte Wertheim nicht hintanstehen und eine Art Wiederkehr der Zeiten feiern, in denen man von der parallelen Wirklichkeit eines Existenzraums jenseits des Reichs physikalischer Gesetzmäßigkeiten überzeugt war. Daß solche Zeiten zu fern sein könnten, um sie anders denn als unwiederbringlich verloren wahrzunehmen, reflektiert sie nicht. An dieser Stelle übernimmt wieder allein die Phantastik die Regie. In "Star Trek"-Manier kann man leicht die "neun Kreise der Hölle, neun Terrassen des Fegefeuers und neun Sphären des Himmels" mit dem vergleichen, was "auch in vielen MUDs mit mittelalterlicher Szenerie und Kämpfen" geschieht. Man kann sich genauso leicht vorstellen, von welcher beratenden Stimme sich Wertheim vor allem leiten ließ. Sie hat den Klang von Captain Jean-Luc Piccard, wenn er kommandiert: "Make it so!"
Margaret Wertheim: "Die Himmelstür zum Cyberspace". Eine Geschichte des Raums von Dante zum Internet. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann. Ammann Verlag, Zürich 2000. 364 S., Abb., geb., 48,- DM.
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"Die Autorin hat eine faszinierende und köstlich zu lesende (Kultur-)Geschichte des Raums geschrieben, die einen profund argumentierten Bogen schlägt vom Mittelalter zum Digital Age. Für alle jene, die darüber nachdenken, ob sie nun beim Surfen im Paradies oder lost in space sind." (Süddeutsche Zeitung)