Produktdetails
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- Seitenzahl: 250
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 422g
- ISBN-13: 9783630879994
- ISBN-10: 3630879993
- Artikelnr.: 24139616
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2000Denn wir haben hier keine himmlische Stadt
Doch Paul Badde sucht sie trotzdem auf der Erde: Sein Jerusalem liegt an der Wurm
Der Traum von der gerechten Gesellschaft ist uralt, aber dennoch so aktuell, dass mit dem Versprechen "sozialer Gerechtigkeit" Bundestagswahlen gewonnen werden können. Wie eine mathematische Parabel ist das Ziel, gerechte gesellschaftliche Zustände zu schaffen, offensichtlich ein stetiges Annähern ohne endgültiges Erreichen. Viele und nicht unbedeutende Denker stieß die Suche nach dem idealen Gemeinwesen zu Entwürfen und Projektionen an.
Auch wenn jene Gesellschaftsentwürfe nach dem von Morus geprägten Kunstwort "Utopia" einen ou topos zu beschreiben scheinen, ist dieses "Nirgendwo" dennoch meist sehr konkret situiert: Eingebettet in ihre Zeit, entsprangen die Utopien immer aus einer kritischen Distanz zu ihrer Gegenwart, die immanent dem gezeichneten Idealbild antagonistisch gegenüberstand. Als Produkte ihrer Zeit variieren entsprechend die Auslegungen des Attributes Gerechtigkeit. Der gerechte Staat Platons sieht anders aus als die philosophische Republik Campanellas. Allen Entwürfen gemeinsam ist aber, dass die erdachten idealen Gesellschaften die Abgrenzung brauchen, um mögliche Außeneinflüsse zu vermeiden, die die Harmonie der perfekt austarierten Gesellschaft stören könnten. Daher sind sie meist auf einer Insel oder in einer Stadt angesiedelt.
Zwar mag der Leidensdruck, der seinerzeit dazu bewegte, zumindest gedankliche Alternativen zum England eines Morus, zum Frankreich eines Cabet oder zu der deutschen Gesellschaft eines Andreae zu entwerfen, heute unvergleichbar schwächer sein, dennoch ist auch in demokratischen Gesellschaften die Frage nach der Gerechtigkeit von unverminderter Bedeutung. Die Diskussion, mit welchen Konzepten möglichst gerechte Zustände geschaffen werden können, wird lebhaft und kontrovers geführt.
Wer nun aufgrund des Untertitels "Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft" von Paul Baddes Buch eine Herleitung dieser Idee, eine Zusammenfassung der Debatten, neue Erkenntnisse oder Schlussfolgerungen zu dem Thema der gerechten Gesellschaft erwartet, muss enttäuscht sein. Der Untertitel führt insofern in die Irre, weil der Autor gar nichts zur gerechten Gesellschaft und den philosophischen und politischen Hintergründen und Inhalten der Idee sagt. Allerdings, das wird nach der Lektüre klar, will er dazu auch nichts sagen. Sein Thema deckt sich mit dem Haupttitel: "Die Himmlische Stadt". Gemeint ist die "Heilige Stadt", "das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabgekommen", aus der Offenbarung des Johannes. Für Badde ist diese Vision der "Schlüssel zum Geheimnis Europas", und die Worte von Johannes betrachtet er als einen "verborgenen Code", der allen Umwälzungen Europas zu Grunde liegt.
Nun hat die Vision des Johannes freilich eine völlig andere Qualität als die utopischen Gesellschaftsentwürfe, und das Problem der Gerechtigkeit löst sich auf eigene Art: Die Heilige Stadt entspricht dem Zustand des erneuerten Paradieses, sie ist ein Ort jenseits des Bösen, ein Antagonismus zu allem irdisch Bekannten und zu allem bislang Gewesenen. Die Schilderung der endzeitlichen Gottesstadt ist von der Symbolik der Vollendung getragen: Die Maße sind genau ausgerechnet, so dass Länge, Höhe und Breite gleich sind; die Zahl Zwölf spielt eine zentrale Rolle. Ebenso wie in den utopischen Entwürfen die Städte durch ihre Mauern oder die Inseln durch das sie umgebende Wasser die Welt in ein ideales Inneres und anders beschaffenes Außen spalten, ist die Heilige Stadt des Johannes denen vorenthalten, "die eingetragen sind im Lebensbuch des Lammes", alles Unreine wird nicht hineingelassen.
Baddes Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, vielmehr ist es ein fast romanhafter Essay. Der Autor hat sich in vielen Reisen durch Europa und darüber hinaus auf die Suche nach jener Himmlischen Stadt gemacht. Er nimmt den Leser quasi an die Hand und lässt ihn Zeuge seines Spazierganges durch den Raum, aber auch durch die Zeit sein, denn seine Reise beginnt im Jerusalem 1000 vor bis 100 nach Christi Geburt und führt ihn in fünfzig Stationen bis in die Gegenwart.
Die Auswahl der Reisestationen wirft hin und wieder Fragezeichen auf. Manche Stadt oder manche Gegebenheit fehlt einem. So spricht Badde von Lorsch, dem Übersetzungslabor und Skriptorium, die Übersetzerschule von Toledo aber taucht nicht auf. Toledo vermisst man überhaupt, Alfons den Weisen und Isidor von Sevilla ebenfalls, der Pläne für eine heilige Stadt entwarf, weil er davon überzeugt war, dass das Christentum in einer heidnischen Stadt nicht praktiziert werden könne, sondern eine eigens für sie entworfene brauche. Auch Augustinus und sein "De civitate Dei" kommen zwar vor, doch zu kurz.
Aber komplett soll dieses Mosaik, das der Autor zusammenzusetzen versucht, letztlich nicht sein. Das Buch Baddes lebt nicht von dem Anspruch, Konzepte darzustellen, sondern von dem subjektiven Impuls seines Autors, von dessen Getriebensein, Zeichen und Spuren der Himmlischen Stadt zu finden und von dessen Faszination, solchen Spuren immer wieder zu begegnen.
In der Neuzeit verbindet Badde teilweise auch persönliche Erfahrungen mit der jeweils besuchten Stadt und lässt den Leser an seinen Empfindungen teilhaben. So in Aachen 1991: "In der Früh liegt ein silberner Schleier über der Stadt - der Atem der Quellen, denk ich mir. Der Hauch der Liebenden. Der Schweiß der Schlafenden. Aus den offenen Fenstern verbindet sich der Dunst zu einem Laken, das sich federleicht über alle Häuser um den Dom und das Rathaus legt. Gestern Abend hat sich Herbert nicht am Telefon gemeldet; heute werde ich ihn aufsuchen. Auf den Hügeln am Stadtrand beginnen die Vögel den Tag mit ihrem Geschrei. Da hinten am Waldrand habe ich vor einem Vierteljahrhundert einmal fünf Jahre lang gelebt, da vorn in der Innenstadt noch einmal drei Monate."
Diesen teilhabenden Stil kann man mögen oder nicht, auf jeden Fall spürt man, wie sehr sich der Autor in den Geist der Städte, in Personen und Ereignisse hineinversenkt. Hier und da, vor allem wenn man einen Ort selbst kennt, kommt einem der Besuch zu kurz, die Beschreibung nicht tiefgehend genug vor. Andere Räume lernt man erst durch Baddes emphatische Darstellung kennen und wird so dazu angestoßen, sie einmal in persona zu besuchen.
MARIANNE KNEUER
Paul Badde: "Die Himmlische Stadt". Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft. Luchterhand Verlag, München 1999. 251 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doch Paul Badde sucht sie trotzdem auf der Erde: Sein Jerusalem liegt an der Wurm
Der Traum von der gerechten Gesellschaft ist uralt, aber dennoch so aktuell, dass mit dem Versprechen "sozialer Gerechtigkeit" Bundestagswahlen gewonnen werden können. Wie eine mathematische Parabel ist das Ziel, gerechte gesellschaftliche Zustände zu schaffen, offensichtlich ein stetiges Annähern ohne endgültiges Erreichen. Viele und nicht unbedeutende Denker stieß die Suche nach dem idealen Gemeinwesen zu Entwürfen und Projektionen an.
Auch wenn jene Gesellschaftsentwürfe nach dem von Morus geprägten Kunstwort "Utopia" einen ou topos zu beschreiben scheinen, ist dieses "Nirgendwo" dennoch meist sehr konkret situiert: Eingebettet in ihre Zeit, entsprangen die Utopien immer aus einer kritischen Distanz zu ihrer Gegenwart, die immanent dem gezeichneten Idealbild antagonistisch gegenüberstand. Als Produkte ihrer Zeit variieren entsprechend die Auslegungen des Attributes Gerechtigkeit. Der gerechte Staat Platons sieht anders aus als die philosophische Republik Campanellas. Allen Entwürfen gemeinsam ist aber, dass die erdachten idealen Gesellschaften die Abgrenzung brauchen, um mögliche Außeneinflüsse zu vermeiden, die die Harmonie der perfekt austarierten Gesellschaft stören könnten. Daher sind sie meist auf einer Insel oder in einer Stadt angesiedelt.
Zwar mag der Leidensdruck, der seinerzeit dazu bewegte, zumindest gedankliche Alternativen zum England eines Morus, zum Frankreich eines Cabet oder zu der deutschen Gesellschaft eines Andreae zu entwerfen, heute unvergleichbar schwächer sein, dennoch ist auch in demokratischen Gesellschaften die Frage nach der Gerechtigkeit von unverminderter Bedeutung. Die Diskussion, mit welchen Konzepten möglichst gerechte Zustände geschaffen werden können, wird lebhaft und kontrovers geführt.
Wer nun aufgrund des Untertitels "Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft" von Paul Baddes Buch eine Herleitung dieser Idee, eine Zusammenfassung der Debatten, neue Erkenntnisse oder Schlussfolgerungen zu dem Thema der gerechten Gesellschaft erwartet, muss enttäuscht sein. Der Untertitel führt insofern in die Irre, weil der Autor gar nichts zur gerechten Gesellschaft und den philosophischen und politischen Hintergründen und Inhalten der Idee sagt. Allerdings, das wird nach der Lektüre klar, will er dazu auch nichts sagen. Sein Thema deckt sich mit dem Haupttitel: "Die Himmlische Stadt". Gemeint ist die "Heilige Stadt", "das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabgekommen", aus der Offenbarung des Johannes. Für Badde ist diese Vision der "Schlüssel zum Geheimnis Europas", und die Worte von Johannes betrachtet er als einen "verborgenen Code", der allen Umwälzungen Europas zu Grunde liegt.
Nun hat die Vision des Johannes freilich eine völlig andere Qualität als die utopischen Gesellschaftsentwürfe, und das Problem der Gerechtigkeit löst sich auf eigene Art: Die Heilige Stadt entspricht dem Zustand des erneuerten Paradieses, sie ist ein Ort jenseits des Bösen, ein Antagonismus zu allem irdisch Bekannten und zu allem bislang Gewesenen. Die Schilderung der endzeitlichen Gottesstadt ist von der Symbolik der Vollendung getragen: Die Maße sind genau ausgerechnet, so dass Länge, Höhe und Breite gleich sind; die Zahl Zwölf spielt eine zentrale Rolle. Ebenso wie in den utopischen Entwürfen die Städte durch ihre Mauern oder die Inseln durch das sie umgebende Wasser die Welt in ein ideales Inneres und anders beschaffenes Außen spalten, ist die Heilige Stadt des Johannes denen vorenthalten, "die eingetragen sind im Lebensbuch des Lammes", alles Unreine wird nicht hineingelassen.
Baddes Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, vielmehr ist es ein fast romanhafter Essay. Der Autor hat sich in vielen Reisen durch Europa und darüber hinaus auf die Suche nach jener Himmlischen Stadt gemacht. Er nimmt den Leser quasi an die Hand und lässt ihn Zeuge seines Spazierganges durch den Raum, aber auch durch die Zeit sein, denn seine Reise beginnt im Jerusalem 1000 vor bis 100 nach Christi Geburt und führt ihn in fünfzig Stationen bis in die Gegenwart.
Die Auswahl der Reisestationen wirft hin und wieder Fragezeichen auf. Manche Stadt oder manche Gegebenheit fehlt einem. So spricht Badde von Lorsch, dem Übersetzungslabor und Skriptorium, die Übersetzerschule von Toledo aber taucht nicht auf. Toledo vermisst man überhaupt, Alfons den Weisen und Isidor von Sevilla ebenfalls, der Pläne für eine heilige Stadt entwarf, weil er davon überzeugt war, dass das Christentum in einer heidnischen Stadt nicht praktiziert werden könne, sondern eine eigens für sie entworfene brauche. Auch Augustinus und sein "De civitate Dei" kommen zwar vor, doch zu kurz.
Aber komplett soll dieses Mosaik, das der Autor zusammenzusetzen versucht, letztlich nicht sein. Das Buch Baddes lebt nicht von dem Anspruch, Konzepte darzustellen, sondern von dem subjektiven Impuls seines Autors, von dessen Getriebensein, Zeichen und Spuren der Himmlischen Stadt zu finden und von dessen Faszination, solchen Spuren immer wieder zu begegnen.
In der Neuzeit verbindet Badde teilweise auch persönliche Erfahrungen mit der jeweils besuchten Stadt und lässt den Leser an seinen Empfindungen teilhaben. So in Aachen 1991: "In der Früh liegt ein silberner Schleier über der Stadt - der Atem der Quellen, denk ich mir. Der Hauch der Liebenden. Der Schweiß der Schlafenden. Aus den offenen Fenstern verbindet sich der Dunst zu einem Laken, das sich federleicht über alle Häuser um den Dom und das Rathaus legt. Gestern Abend hat sich Herbert nicht am Telefon gemeldet; heute werde ich ihn aufsuchen. Auf den Hügeln am Stadtrand beginnen die Vögel den Tag mit ihrem Geschrei. Da hinten am Waldrand habe ich vor einem Vierteljahrhundert einmal fünf Jahre lang gelebt, da vorn in der Innenstadt noch einmal drei Monate."
Diesen teilhabenden Stil kann man mögen oder nicht, auf jeden Fall spürt man, wie sehr sich der Autor in den Geist der Städte, in Personen und Ereignisse hineinversenkt. Hier und da, vor allem wenn man einen Ort selbst kennt, kommt einem der Besuch zu kurz, die Beschreibung nicht tiefgehend genug vor. Andere Räume lernt man erst durch Baddes emphatische Darstellung kennen und wird so dazu angestoßen, sie einmal in persona zu besuchen.
MARIANNE KNEUER
Paul Badde: "Die Himmlische Stadt". Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft. Luchterhand Verlag, München 1999. 251 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mehr als die Hälfte ihrer Besprechung widmet Marianne Kneuer dem Thema der Utopie wie sie es vielleicht angefasst hätte, - um dann dem Autor zu bescheinigen, dass er sich dieser eher wissenschaftlich verstandenen Umkreisung des Themas verschlossen hat. Vielmehr empfindet die Rezensentin sein Buch als "fast romanhaften Essay". Ausgangspunkt des Autors ist die Offenbarung des Johannes, dessen Vision für ihn der "Schlüssel zum Geheimnis Europas" ist. Als Methode hat er das Reisen als persönliche Spurensuche in Zeit und Raum gewählt, und damit auch eine Schreibweise, die von der Rezensentin wenig begeistert als "teilhabender Stil" bezeichnet wird. Auch hier kommt es dem Autor, wie sie kritisch anmerkt, offenbar nicht auf Vollständigkeit an, vielmehr biete er ein subjektiv ausgewähltes Mosaik von Städten und Textbezügen, beispielsweise Jerusalem, Aachen und Augustinus, nicht aber Toledo oder Sevilla. Die "Zeichen und Spuren der Himmlischen Stadt", wie Badde sie sucht und findet, werden für die Rezensentin am Ende fast zu einer Art Reiseführer, dessen Qualität sie dort bemängelt, wo die eigene Erfahrung tiefer geht, dessen Funde sie aber trotzdem lobt, nämlich dort, wo er ihr Unbekanntes vorführt und neue Erfahrung verspricht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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