Georgia, 1917. Der Farmer Pearl Jewett will sich durch seine Armut auf Erden einen Platz an der himmlischen Tafel verdienen - und seine drei Söhne darben mit ihm, ob sie wollen oder nicht. Nachdem Pearl von den Entbehrungen ausgezehrt stirbt, müssen sich die jungen Männer allein durchs Leben schlagen. Auf gestohlenen Pferden und schwer bewaffnet plündern sie sich ihren Weg durchs Land. Dabei folgen sie den Spuren ihres großen Helden "Bloody Bill Bucket", einem Bankräuber aus einem Groschenroman, neben der Bibel das einzige Buch, das die Jewett-Brüder kennen ... Einige Hundert Meilen entfernt, im Süden Ohios, wird Ellsworth Fiddler von einem Trickbetrüger um sein ganzes Geld gebracht. Als sein Weg den der schießwütigen Jewetts kreuzt, wendet sich sein Schicksal unerwartet zum Guten. Die Brüder hingegen müssen einsehen, dass der Himmel, den man sich gemeinhin ausmalt, oft schlimmer ist als die Hölle, der man entfliehen will.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
David Steinitz staunt über die Virtuosität, mit der Donald Ray Pollock seinen White-Trash-Kosmos bevölkert. Das Jahr 1917, in dem die Geschichte um drei gegen ihr Underdog-Dasein rebellierenden Brüder spielt, gibt allerdings die Richtung vor: Pollock liebt den Westen. Und so reiten die drei Antihelden los und überfallen eine Kleinstadt nach der nächsten. Das Bild der USA, das dabei entsteht, hat laut Rezensent nichts von Glamour und Lässigkeit, sondern ist geprägt von Verlierern und Träumern. Mit viel Komik und ohne Bloßstellung der Figuren gelingt dem Autor eine groteske Pulp-Fantasie, meint Steinitz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2016Wenn ich mal tot bin, dann fängt erst mein Leben an
Herzerweichendes Elend und derber Humor, aber doch viel mehr als Genreliteratur: Donald Ray Pollocks Roman "Die himmlische Tafel"
Die Leistung, die Donald Ray Pollock mit seinem Band "Knockemstiff" (auf Deutsch 2013 erschienen) für die Rettung einer schon totgeglaubten Variante der klassischen amerikanischen Kurzgeschichte erbracht hat, ist kaum hoch genug einzuschätzen. Ob seine Prosakunst, die dort stark vom Weglassen lebte, aber auch auf der langen Strecke eines Romans trägt? Sein neues Werk "Die himmlische Tafel", das von einer Räuberbande im amerikanischen Süden des Jahres 1917 handelt, nennt sich Roman, kann aber auch mit einigem Recht als Folge von Episoden betrachtet werden.
Obwohl es darin mit den drei Jewett-Brüdern Hauptfiguren gibt, deren Entwicklung von Tagelöhnern in bitterer Armut zu raubend und mordend durch die Lande ziehenden Kriminellen den roten Faden des Buches bildet, nimmt sich Pollock doch immer wieder viel Zeit für andere Figuren; der Weg des Lesers ähnelt also eher dem Gang durch eine Gemäldegalerie. Um es gleich zu sagen: Der Autor trägt in diesem Buch mehr als dick auf, es strotzt geradezu vor drastischen Eindrücken und derben Ausdrücken, enthält lauter minutiöse Schilderungen von Gewalt und Sex, droht manchmal fast in Schlamm, Blut oder anderen Körperflüssigkeiten zu ersticken.
Das Elend der Jewett-Familie, die so arm ist, dass sie mehr als nur sprichwörtlich Dreck fressen muss, wird auf so krasse Weise dargestellt, dass es herzerweichend ist. Die Mutter ist an einem Wurmbefall übel verreckt, die Schilderung ihres Todes vergisst man nicht mehr. Eine kuriose, fast magisch-realistisch anmutende Begegnung mit einem Eremiten führt den Vater Pearl Jewett dazu, sein mieses Dasein letztlich hinzunehmen in der Hoffnung, wenigstens nach dem Tod an der "himmlischen Tafel" dafür belohnt zu werden (der Buchtitel lässt damit auch die lieblichen Jenseitsversprechen amerikanischer Gospels anklingen). Nach Pearls Tod suchen seine Söhne allerdings trotzig genau das Gegenteil zu erreichen: nämlich irdische Erfüllung, zu der ihnen schließlich jedes Mittel recht ist. Auf ihrem Raubzug begegnen sie einem Figurenpanorama der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft, von reichen Landbesitzern bis zu Latrinenputzern, von Lebenskünstlern und Hochstaplern bis zu Soldaten und Huren, von Zirkusleuten bis zu Dorfschullehrern, die von einem Elternpaar gefragt werden, wo eigentlich dieses Deutschland liege, in dem Amerikas Söhne gerade im Krieg als Menschenmaterial aufgerieben werden.
Dass Pollock, der lange in einer Papiermühle gearbeitet hat und erst spät zum Schreiben kam, dabei immer eher die Verlierer des Lebens ins Visier nimmt, hat er jüngst im Gespräch mit dieser Zeitung auch mit persönlichen Erfahrungen begründet. Er habe immer schon "viel Empathie für die Verzweifelten" aufbringen können und wisse, "wie manchmal eine Gedankenlosigkeit oder ein Fehler zum Ruin führen kann".
Ob die kriminelle Karriere der Jewett-Brüder wirklich ihr Ruin ist oder doch vielmehr ein Triumph über die Gesellschaft, die sie vorher missachtet hat - das ist die moralische Frage, die der Roman aufwirft. Was seinen Tonfall angeht, muss man freilich einräumen, dass Pollock es manchmal mit der Derbheit übertreibt, so oft ist da von Hurenscheunen und stinkenden Ratten die Rede, und es lauern auch Klischees, wenn etwa ein alter zahnloser Banjospieler aufkreuzt.
Andererseits kann man nicht von der Hand weisen, dass Pollock gerade bei der Darstellung von Verkommenheit oft einen zynischen Humor beweist. Über den schmierigen Sklaventreiber namens Thaddeus Tardweller, den die Jewetts wenig später überfallen und ermorden, heißt es etwa: "Er genoss den gemütlichen Abend allein, trank im Dunkeln Brandy und dachte müßig an all die Frauen, die er im Laufe der Jahre belästigt hatte."
Und manchmal mündet die Bitterkeit der Erzählung auch in grotesken Witz: Gerade als sich der Latrinenwart, dessen Leben voller rauher Gewalt ist - erfahrener und ausgeübter -, einmal doch der Schöpfung erfreut und drauf und dran ist, den schönsten Sonnenuntergang, den er je gesehen hat, mit Gotteslob zu beantworten, sticht ihm eine Hornisse in die Nase und lässt ihn fluchen.
Dass es sich dennoch um mehr als bloße Genreliteratur handelt, merkt man gewissen Subtilitäten an. So ist die Tatsache, dass die Jewetts die Inspiration für ihre Verbrechen aus der Lektüre eines Groschenromans über einen Outlaw namens Bloody Bill Bucket ziehen, womöglich nicht nur eine metatextuelle Spielerei, sondern der Verweis auf die "puritanische Fiktionskritik", die dieser Tage in den Debatten über Amokläufe bisweilen wieder durchscheint. Und dass einer der Brüder dann noch Shakespeares "Richard III." zu lesen beginnt, wenn auch leider nicht vor seinem Tod beenden kann, verdient vielleicht noch eine eingehendere Interpretation.
JAN WIELE
Donald Ray Pollock: "Die himmlische Tafel". Roman.
Aus dem Englischen von
Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2016. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herzerweichendes Elend und derber Humor, aber doch viel mehr als Genreliteratur: Donald Ray Pollocks Roman "Die himmlische Tafel"
Die Leistung, die Donald Ray Pollock mit seinem Band "Knockemstiff" (auf Deutsch 2013 erschienen) für die Rettung einer schon totgeglaubten Variante der klassischen amerikanischen Kurzgeschichte erbracht hat, ist kaum hoch genug einzuschätzen. Ob seine Prosakunst, die dort stark vom Weglassen lebte, aber auch auf der langen Strecke eines Romans trägt? Sein neues Werk "Die himmlische Tafel", das von einer Räuberbande im amerikanischen Süden des Jahres 1917 handelt, nennt sich Roman, kann aber auch mit einigem Recht als Folge von Episoden betrachtet werden.
Obwohl es darin mit den drei Jewett-Brüdern Hauptfiguren gibt, deren Entwicklung von Tagelöhnern in bitterer Armut zu raubend und mordend durch die Lande ziehenden Kriminellen den roten Faden des Buches bildet, nimmt sich Pollock doch immer wieder viel Zeit für andere Figuren; der Weg des Lesers ähnelt also eher dem Gang durch eine Gemäldegalerie. Um es gleich zu sagen: Der Autor trägt in diesem Buch mehr als dick auf, es strotzt geradezu vor drastischen Eindrücken und derben Ausdrücken, enthält lauter minutiöse Schilderungen von Gewalt und Sex, droht manchmal fast in Schlamm, Blut oder anderen Körperflüssigkeiten zu ersticken.
Das Elend der Jewett-Familie, die so arm ist, dass sie mehr als nur sprichwörtlich Dreck fressen muss, wird auf so krasse Weise dargestellt, dass es herzerweichend ist. Die Mutter ist an einem Wurmbefall übel verreckt, die Schilderung ihres Todes vergisst man nicht mehr. Eine kuriose, fast magisch-realistisch anmutende Begegnung mit einem Eremiten führt den Vater Pearl Jewett dazu, sein mieses Dasein letztlich hinzunehmen in der Hoffnung, wenigstens nach dem Tod an der "himmlischen Tafel" dafür belohnt zu werden (der Buchtitel lässt damit auch die lieblichen Jenseitsversprechen amerikanischer Gospels anklingen). Nach Pearls Tod suchen seine Söhne allerdings trotzig genau das Gegenteil zu erreichen: nämlich irdische Erfüllung, zu der ihnen schließlich jedes Mittel recht ist. Auf ihrem Raubzug begegnen sie einem Figurenpanorama der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft, von reichen Landbesitzern bis zu Latrinenputzern, von Lebenskünstlern und Hochstaplern bis zu Soldaten und Huren, von Zirkusleuten bis zu Dorfschullehrern, die von einem Elternpaar gefragt werden, wo eigentlich dieses Deutschland liege, in dem Amerikas Söhne gerade im Krieg als Menschenmaterial aufgerieben werden.
Dass Pollock, der lange in einer Papiermühle gearbeitet hat und erst spät zum Schreiben kam, dabei immer eher die Verlierer des Lebens ins Visier nimmt, hat er jüngst im Gespräch mit dieser Zeitung auch mit persönlichen Erfahrungen begründet. Er habe immer schon "viel Empathie für die Verzweifelten" aufbringen können und wisse, "wie manchmal eine Gedankenlosigkeit oder ein Fehler zum Ruin führen kann".
Ob die kriminelle Karriere der Jewett-Brüder wirklich ihr Ruin ist oder doch vielmehr ein Triumph über die Gesellschaft, die sie vorher missachtet hat - das ist die moralische Frage, die der Roman aufwirft. Was seinen Tonfall angeht, muss man freilich einräumen, dass Pollock es manchmal mit der Derbheit übertreibt, so oft ist da von Hurenscheunen und stinkenden Ratten die Rede, und es lauern auch Klischees, wenn etwa ein alter zahnloser Banjospieler aufkreuzt.
Andererseits kann man nicht von der Hand weisen, dass Pollock gerade bei der Darstellung von Verkommenheit oft einen zynischen Humor beweist. Über den schmierigen Sklaventreiber namens Thaddeus Tardweller, den die Jewetts wenig später überfallen und ermorden, heißt es etwa: "Er genoss den gemütlichen Abend allein, trank im Dunkeln Brandy und dachte müßig an all die Frauen, die er im Laufe der Jahre belästigt hatte."
Und manchmal mündet die Bitterkeit der Erzählung auch in grotesken Witz: Gerade als sich der Latrinenwart, dessen Leben voller rauher Gewalt ist - erfahrener und ausgeübter -, einmal doch der Schöpfung erfreut und drauf und dran ist, den schönsten Sonnenuntergang, den er je gesehen hat, mit Gotteslob zu beantworten, sticht ihm eine Hornisse in die Nase und lässt ihn fluchen.
Dass es sich dennoch um mehr als bloße Genreliteratur handelt, merkt man gewissen Subtilitäten an. So ist die Tatsache, dass die Jewetts die Inspiration für ihre Verbrechen aus der Lektüre eines Groschenromans über einen Outlaw namens Bloody Bill Bucket ziehen, womöglich nicht nur eine metatextuelle Spielerei, sondern der Verweis auf die "puritanische Fiktionskritik", die dieser Tage in den Debatten über Amokläufe bisweilen wieder durchscheint. Und dass einer der Brüder dann noch Shakespeares "Richard III." zu lesen beginnt, wenn auch leider nicht vor seinem Tod beenden kann, verdient vielleicht noch eine eingehendere Interpretation.
JAN WIELE
Donald Ray Pollock: "Die himmlische Tafel". Roman.
Aus dem Englischen von
Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2016. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2016Die hohe Kunst des Schundromans
Unter Pennern, Puritanern und Plumpskloreinigern: Donald Ray Pollocks Hillbilly-Noir „Die himmlische Tafel“
Beginnen wir mit dem Plumpsklo-Inspektor. Dieser trägt in Donald Ray Pollocks Pulp-Roman „Die himmlische Tafel“ die Verantwortung für gut achtzehnhundert Außentoiletten, um deren Hygiene es im Jahr 1917 eher nicht so gut bestellt ist. Aber Jasper Cone, der eine typisch tragikomische Pollock-Figur ist, nimmt die Herausforderungen der Fäkalienobservation trotzdem mit großer Leidenschaft und Demut an: „Hauptsächlich kontrolliere ich den Pegel in den Plumpsklos, aber wenn ich dabei auf, sagen wir mal, eine Erdnatter stoße oder ein Spinnennest, eine Beutelratte oder was auch immer, dann kümmere ich mich drum. Sie wären überrascht, was auf einem Scheißhaus so alles geht.“
Wie ein freundlicher Geist stolpert dieser Jasper Cone mit seinem Inspekteursstock durch den Roman, taucht alle paar Kapitel auf und dann schnell wieder ab. Er wirkt wie das ferne Ein-Mann-Echo eines griechischen Chors, der die Schweinereien der anderen Protagonisten überwacht und kommentiert. Pollocks Buch spielt nominell zwar im Jahr 1917, die Amerikaner sind gerade dabei, sich in den Weltkrieg einzumischen, und die schnell hochgezogenen Rekrutierungslager des Militärs sorgen für eine rasante Plumpskloinflation. Aber da der Autor mit besonderer Leidenschaft der Kunst des Schundromans huldigt, handelt es sich eher um ein fiktives 1917, das in manchen Wildwestpassagen genauso gut 1817 spielen könnte.
Im Mittelpunkt stehen drei Brüder zwischen 17 und 23 Jahren; der eine ist klug, der andere dumm, der dritte verrückt. Die Jewett-Brüder haben das Leben bislang nur als endlose Aneinanderreihung zermarternder Aushilfsjobs auf den Farmen reicher Cowboy-Dandys erlebt. Arbeiten, die sie ihrem Vater zuliebe angenommen hatten, der dummerweise einst ein quasireligiöses Erweckungserlebnis hatte. Ein verrückter Mann mit jeder Menge Ungeziefer im Bart riet ihm damals, sein Leben möglichst voller Leid und Knechtschaft zu führen, weil er sich dadurch einen posthumen Platz an der „himmlischen Tafel“ sichern könne.
Nachdem der Alte eines Tages tot umkippt, beschließen die Jewett-Jungs, mit dem Leben als halbversklavte Proletarier zu brechen und den Weg zur himmlischen Tafel etwas abzukürzen. Sie satteln die Pferde und überfallen eine Kleinstadtbank nach der anderen. Dabei kreuzt sich ihr Weg mit einem Haufen anderer Räuber, Penner, Huren und Plumpskloreiniger, die ebenfalls alle einen irren Hunger haben, nicht nur nach Essen, sondern auch nach dem wilden Leben, und die sich ihren Platz beim göttlichen Gelage sichern wollen.
Donald Ray Pollock, heute 62 Jahre alt, hat erst spät mit dem Schreiben begonnen. Mit 45 verfasste er eine erste Kurzgeschichte, die von einem US-Magazin veröffentlicht wurde, woraufhin er beschloss, einen Schreibkurs zu belegen, um an seinem Stil zu feilen. Es folgte der Kurzgeschichtenband „Knockemstiff“ (2008) und sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“ (2012), in dem er die Geschichte eines Serienkillerpaars in den Sechzigern in Ohio erzählt. Zuvor arbeitete Pollock im tiefsten Mittleren Westen der USA auf einem Schlachthof, in einer Papiermühle und dann vor allem als Lkw-Fahrer. Die Welt, die er kennt und beschreibt, hat nichts mit der sonnigen Lässigkeit der Westküste oder dem intellektuellen Glamour der Ostküste zu tun. Pollock interessiert sich für die Abgehängten, die desillusionierten Säufer und die unverbesserlichen Träumer, deren Tragik er eine große Portion Komik abgewinnt, ohne seine Protagonisten jemals bloßzustellen.
Das funktioniert im historischen Gewand von „Die himmlische Tafel“ besonders gut, da das Wildwest-Ethos, das seine Jewett-Gang auf dem Ritt durch die USA (die Brüder wollen sich mit ihrer Beute nach Kanada absetzen) begleitet, quasi die Inspiration für andere White-Trash-Gestalten von heute darstellt. Das Amerika, das Pollock entwirft, ist noch deutlich näher am Wilden Westen als an der Moderne. Viele Landstriche sind reines Frontiergebiet, das komplett anderen Gesetzen unterworfen ist als die Großstadt.
Der beste humoristische Einfall des sehr talentierten Komödianten Pollock ist dabei, dass seine Pulp-Fantasie ihrerseits einer fiktiven Pulp-Fantasie zugrunde liegt. Seine drei Brüder werden nämlich zur praktischen wie ideologischen Ausübung ihres Daseins als Outlaws von einem zerfledderten Groschenroman mit dem Titel „The Life and Times of Bloody Bill Bucket“ inspiriert.
Dieser wurde, so referiert es Pollock in einem Extrakapitel, von einem gewissen Charles Foster Winthrop III. geschrieben – seine Zeichens „ein gescheiterter Dichter aus Brooklyn“. Dessen Biografie klingt so, als sei er der Urgroßvater aller Brooklyner Kreativhipster, die gerne mit Befindlichkeitsprosa berühmt werden würden, aber dummerweise als völlig untalentierte Schreiber in die große Stadt kommen. Winthrop, ein fast vergessenes Opfer des Darwinismus in der Literaturwelt, hinterlässt vor allem einen schlecht gelaunten Schundroman. Und in den hat er aus purer Wut „jegliche Art von Vergewaltigung, Raub und Mord gepackt, die sein zorniges, syphilitisches Hirn sich ausdenken konnte.“
Pollock ist ein notorischer Melancholiker, der für gescheiterte Historienexistenzen mehr übrig hat als für die Menschen von heute. „Was das Schreiben angeht“, sagt er, „interessiert mich die heutige Welt nicht sonderlich. Ich sage es ungern, weil es immer so düster klingt, aber ich befürchte, unsere besten Tage liegen längst hinter uns.“
Nun könnte man erwidern, dass die Gangster, Luden und Flittchen, über die er schreibt, noch einem Lebenskampf jenseits des triebbeschränkenden Gesellschaftsvertrags unterworfen sind, der auch nicht erstrebenswerter ist als die heutigen Verhältnisse. Aber genau darin liegt die knifflige Kunst dieses Romans: Pollock weiß seinen Außenseitern, die teilweise wirklich wortwörtlich in der Scheiße stecken, trotzdem eine romantische Grandezza zu verleihen, die sogar das perverse Chaosjahr 1917 als Sehnsuchtsort erscheinen lässt.
DAVID STEINITZ
Das Amerika dieses Romans
ist noch mehr vom Wilden Westen
geprägt als von der Moderne
Charles Foster Winthrop III.
ist der Urgroßvater aller
gescheiterten Künstlerhipster
Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind,
München 2016. 432 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Unter Pennern, Puritanern und Plumpskloreinigern: Donald Ray Pollocks Hillbilly-Noir „Die himmlische Tafel“
Beginnen wir mit dem Plumpsklo-Inspektor. Dieser trägt in Donald Ray Pollocks Pulp-Roman „Die himmlische Tafel“ die Verantwortung für gut achtzehnhundert Außentoiletten, um deren Hygiene es im Jahr 1917 eher nicht so gut bestellt ist. Aber Jasper Cone, der eine typisch tragikomische Pollock-Figur ist, nimmt die Herausforderungen der Fäkalienobservation trotzdem mit großer Leidenschaft und Demut an: „Hauptsächlich kontrolliere ich den Pegel in den Plumpsklos, aber wenn ich dabei auf, sagen wir mal, eine Erdnatter stoße oder ein Spinnennest, eine Beutelratte oder was auch immer, dann kümmere ich mich drum. Sie wären überrascht, was auf einem Scheißhaus so alles geht.“
Wie ein freundlicher Geist stolpert dieser Jasper Cone mit seinem Inspekteursstock durch den Roman, taucht alle paar Kapitel auf und dann schnell wieder ab. Er wirkt wie das ferne Ein-Mann-Echo eines griechischen Chors, der die Schweinereien der anderen Protagonisten überwacht und kommentiert. Pollocks Buch spielt nominell zwar im Jahr 1917, die Amerikaner sind gerade dabei, sich in den Weltkrieg einzumischen, und die schnell hochgezogenen Rekrutierungslager des Militärs sorgen für eine rasante Plumpskloinflation. Aber da der Autor mit besonderer Leidenschaft der Kunst des Schundromans huldigt, handelt es sich eher um ein fiktives 1917, das in manchen Wildwestpassagen genauso gut 1817 spielen könnte.
Im Mittelpunkt stehen drei Brüder zwischen 17 und 23 Jahren; der eine ist klug, der andere dumm, der dritte verrückt. Die Jewett-Brüder haben das Leben bislang nur als endlose Aneinanderreihung zermarternder Aushilfsjobs auf den Farmen reicher Cowboy-Dandys erlebt. Arbeiten, die sie ihrem Vater zuliebe angenommen hatten, der dummerweise einst ein quasireligiöses Erweckungserlebnis hatte. Ein verrückter Mann mit jeder Menge Ungeziefer im Bart riet ihm damals, sein Leben möglichst voller Leid und Knechtschaft zu führen, weil er sich dadurch einen posthumen Platz an der „himmlischen Tafel“ sichern könne.
Nachdem der Alte eines Tages tot umkippt, beschließen die Jewett-Jungs, mit dem Leben als halbversklavte Proletarier zu brechen und den Weg zur himmlischen Tafel etwas abzukürzen. Sie satteln die Pferde und überfallen eine Kleinstadtbank nach der anderen. Dabei kreuzt sich ihr Weg mit einem Haufen anderer Räuber, Penner, Huren und Plumpskloreiniger, die ebenfalls alle einen irren Hunger haben, nicht nur nach Essen, sondern auch nach dem wilden Leben, und die sich ihren Platz beim göttlichen Gelage sichern wollen.
Donald Ray Pollock, heute 62 Jahre alt, hat erst spät mit dem Schreiben begonnen. Mit 45 verfasste er eine erste Kurzgeschichte, die von einem US-Magazin veröffentlicht wurde, woraufhin er beschloss, einen Schreibkurs zu belegen, um an seinem Stil zu feilen. Es folgte der Kurzgeschichtenband „Knockemstiff“ (2008) und sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“ (2012), in dem er die Geschichte eines Serienkillerpaars in den Sechzigern in Ohio erzählt. Zuvor arbeitete Pollock im tiefsten Mittleren Westen der USA auf einem Schlachthof, in einer Papiermühle und dann vor allem als Lkw-Fahrer. Die Welt, die er kennt und beschreibt, hat nichts mit der sonnigen Lässigkeit der Westküste oder dem intellektuellen Glamour der Ostküste zu tun. Pollock interessiert sich für die Abgehängten, die desillusionierten Säufer und die unverbesserlichen Träumer, deren Tragik er eine große Portion Komik abgewinnt, ohne seine Protagonisten jemals bloßzustellen.
Das funktioniert im historischen Gewand von „Die himmlische Tafel“ besonders gut, da das Wildwest-Ethos, das seine Jewett-Gang auf dem Ritt durch die USA (die Brüder wollen sich mit ihrer Beute nach Kanada absetzen) begleitet, quasi die Inspiration für andere White-Trash-Gestalten von heute darstellt. Das Amerika, das Pollock entwirft, ist noch deutlich näher am Wilden Westen als an der Moderne. Viele Landstriche sind reines Frontiergebiet, das komplett anderen Gesetzen unterworfen ist als die Großstadt.
Der beste humoristische Einfall des sehr talentierten Komödianten Pollock ist dabei, dass seine Pulp-Fantasie ihrerseits einer fiktiven Pulp-Fantasie zugrunde liegt. Seine drei Brüder werden nämlich zur praktischen wie ideologischen Ausübung ihres Daseins als Outlaws von einem zerfledderten Groschenroman mit dem Titel „The Life and Times of Bloody Bill Bucket“ inspiriert.
Dieser wurde, so referiert es Pollock in einem Extrakapitel, von einem gewissen Charles Foster Winthrop III. geschrieben – seine Zeichens „ein gescheiterter Dichter aus Brooklyn“. Dessen Biografie klingt so, als sei er der Urgroßvater aller Brooklyner Kreativhipster, die gerne mit Befindlichkeitsprosa berühmt werden würden, aber dummerweise als völlig untalentierte Schreiber in die große Stadt kommen. Winthrop, ein fast vergessenes Opfer des Darwinismus in der Literaturwelt, hinterlässt vor allem einen schlecht gelaunten Schundroman. Und in den hat er aus purer Wut „jegliche Art von Vergewaltigung, Raub und Mord gepackt, die sein zorniges, syphilitisches Hirn sich ausdenken konnte.“
Pollock ist ein notorischer Melancholiker, der für gescheiterte Historienexistenzen mehr übrig hat als für die Menschen von heute. „Was das Schreiben angeht“, sagt er, „interessiert mich die heutige Welt nicht sonderlich. Ich sage es ungern, weil es immer so düster klingt, aber ich befürchte, unsere besten Tage liegen längst hinter uns.“
Nun könnte man erwidern, dass die Gangster, Luden und Flittchen, über die er schreibt, noch einem Lebenskampf jenseits des triebbeschränkenden Gesellschaftsvertrags unterworfen sind, der auch nicht erstrebenswerter ist als die heutigen Verhältnisse. Aber genau darin liegt die knifflige Kunst dieses Romans: Pollock weiß seinen Außenseitern, die teilweise wirklich wortwörtlich in der Scheiße stecken, trotzdem eine romantische Grandezza zu verleihen, die sogar das perverse Chaosjahr 1917 als Sehnsuchtsort erscheinen lässt.
DAVID STEINITZ
Das Amerika dieses Romans
ist noch mehr vom Wilden Westen
geprägt als von der Moderne
Charles Foster Winthrop III.
ist der Urgroßvater aller
gescheiterten Künstlerhipster
Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind,
München 2016. 432 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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»Als hätten sich Cormac McCarthy und David Vann zusammengetan und vorher ordentlich rabiat-schwarzen Humor getankt« Rainer Moritz, Die Welt / Literarische Welt