Einer der Helden erfindet gemeinsam mit seinem an Aids erkrankten Freund die Geschichte der Roccamatios in Helsinki und hält ihn so am Leben: Erzählen heißt Atmen. Der Vietnam-Veteran John Morton schrubbt nachts Büros und schreibt ein Konzert für Streicher, in der seine "dissonante" Violine den Heldenpart übernimmt, denn er weiß, wie die Geige ihm half, den Krieg zu überstehen. Der Leser lernt die Alchemie der Spiegel kennen und erfährt, wie erst das Ende den wahren Charakter einer Biographie enthüllt. Immer geht es in den Geschichten um den schmalen Spalt des Möglichen, den nur ein Erzähler entdeckt, der seine Figuren liebt und die zarte Farbe der Humanität versteht.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eher zurückhaltend äußert sich Rezensent Tilman Urbach über diese frühen Erzählungen Yann Martels, die jetzt in neuer Übersetzung wieder veröffentlicht wurden. Literarisch findet er die Qualität der Texte, die meist vom Sterben und dem Tod handeln, "durchwachsen". Er betrachtet sie eher als "Etüden, Kleinigkeiten, Erzählversuche", die den heute weltbekannten kanadischen Autor vor seinem Romanerfolg "Schiffbruch mit Tiger" zeigen. Als charakteristisch für den Band sieht Urbach die auf den Geschichten lastende "jugendliche Gedankenschwere". Die Texte dokumentieren für ihn zudem die stilistischen wie thematischen Umwege, die ein junger Schriftsteller zurücklegen muss, "bis sich die erzählerische Spreu vom Weizen zu trennen beginnt". Das Resümee des Rezensenten: "kein Meisterwerk - aber ein Einblick in die Anfänge eines Autors".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2005Die schrille Geige in der Putzkolonne
"Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios": Erzählungen von Yann Martel als Vorabdruck in der F.A.Z.
Was wissen wir schon voneinander, und was sagt das, was wir zu wissen meinen, tatsächlich aus? Über den kanadischen Schriftsteller Yann Martel, geboren 1963, vermerkt das Munzinger-Biographie-Archiv unter anderem: "M. lebt und arbeitet in Montreal. Er ist sozial engagiert und macht Yoga." Wer Martels Erzählungen und Romane liest, der glaubt, noch etwas anderes über ihn zu erfahren: daß dieser Autor das Erzählen für eine existentialistische Beschäftigung hält, die er mit seinen Figuren auch uns verordnet. Warum sonst würde jemand zusammen mit einem todkranken Freund die Geschichte einer gewissen Familie Roccamatio aus Helsinki erfinden und sie Tag für Tag, an den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts entlang, weiterspinnen?
Womöglich tut er dies aus denselben Gründen, aus denen ein indischer Junge namens Pi Patel in Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" ein hungriges Raubtier dressiert, mit dem er 227 Tage auf hoher See verbringen muß. Was für den einen die wundersame Rettung bedeutet, kann für den anderen den Krankenhausaufenthalt erträglich machen, selbst wenn es sein Leben nicht verlängert. Die Erzählung handelt vom Sterben und von Aids, doch eigentlich geht es Martel in dieser und in anderen Geschichten um die gedanklichen Mittel, mit denen wir uns am Leben erhalten.
Die Erzählungssammlung "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios", die wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, war bereits 1994 im Verlag Volk und Welt unter dem Titel "Aller Irrsinn dieses Seins" erschienen, seither jedoch vergriffen; für die jetzige Neuübersetzung von Manfred Allié hat der Schriftsteller die Texte seines Debüts komplett überarbeitet. Daß man diese frühen Erzählungen heute überdies mit besonderem Interesse lesen dürfte, liegt vor allem an "Schiffbruch mit Tiger", für den Yann Martel 2002 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Autor selbst bezeichnet dieses Werk, das zu einem globalen Bestseller wurde, als eine "Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann". Um so erstaunlicher, daß Gott in Martels frühen stories, deren gemeinsames Thema weniger das Sterben als unsere Wahrnehmung des Lebens Todgeweihter ist, nur als Abwesender vorkommt. Hier ist die Aufbewahrungsanstalt alles Lebens die Erzählung selbst, die nicht nach dem Sinn fragt, sondern von ihm erzählt.
Selbst der sichere Tod hat so viele Gesichter, daß letzte Gewißheit darüber nicht zu erlangen ist: Neun Briefe schreibt der Gefängnisdirektor Harry Parlington an Mrs. Barlow, neunmal spricht er ihr sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, neun unterschiedliche Versionen gibt er ihr von den letzten Stunden des Häftlings bis zur Vollstreckung der Todesstrafe durch den Strick. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal kichert er hysterisch, mal möchte er Kaviar und Champagner als Henkersmahlzeit, mal Cheeseburger, einmal spricht er zehn Minuten mit dem Pfarrer, dann die ganze Nacht lang. Zweimal stirbt er, bevor es zur Vollstreckung des Urteils kommt, siebenmal wird er hingerichtet. Man mag die Erzählung "1096 Arten zu sterben" als Plädoyer gegen die Todesstrafe lesen; zuallererst jedoch zeigt sie, daß sich dem Tod nicht nur auf vielfältige Weise begegnen, sondern auch davon erzählen läßt.
Eine andere Geschichte handelt von den Klängen einer dissonanten Geige, mit denen ein Vietnam-Veteran einst dem Krieg und später seiner trostlosen Arbeit in einer Putzkolonne trotzt. "Der Tag, an dem ich das Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", wie die Geschichte überschrieben ist, bleibt dem Erzähler unvergeßlich, der mit seinem Konzertbericht dem Komponisten ein Denkmal setzt so wie dieser seinem Kameraden Donald Rankin. Im Boot kommt es ganz auf Pis Verhältnis zu dem Tiger an, den er schließlich zähmt. In Martels frühen Erzählungen kann die Phantasie den Tod zwar nicht dressieren, aber sie hilft, ihm zu begegnen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios": Erzählungen von Yann Martel als Vorabdruck in der F.A.Z.
Was wissen wir schon voneinander, und was sagt das, was wir zu wissen meinen, tatsächlich aus? Über den kanadischen Schriftsteller Yann Martel, geboren 1963, vermerkt das Munzinger-Biographie-Archiv unter anderem: "M. lebt und arbeitet in Montreal. Er ist sozial engagiert und macht Yoga." Wer Martels Erzählungen und Romane liest, der glaubt, noch etwas anderes über ihn zu erfahren: daß dieser Autor das Erzählen für eine existentialistische Beschäftigung hält, die er mit seinen Figuren auch uns verordnet. Warum sonst würde jemand zusammen mit einem todkranken Freund die Geschichte einer gewissen Familie Roccamatio aus Helsinki erfinden und sie Tag für Tag, an den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts entlang, weiterspinnen?
Womöglich tut er dies aus denselben Gründen, aus denen ein indischer Junge namens Pi Patel in Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" ein hungriges Raubtier dressiert, mit dem er 227 Tage auf hoher See verbringen muß. Was für den einen die wundersame Rettung bedeutet, kann für den anderen den Krankenhausaufenthalt erträglich machen, selbst wenn es sein Leben nicht verlängert. Die Erzählung handelt vom Sterben und von Aids, doch eigentlich geht es Martel in dieser und in anderen Geschichten um die gedanklichen Mittel, mit denen wir uns am Leben erhalten.
Die Erzählungssammlung "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios", die wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, war bereits 1994 im Verlag Volk und Welt unter dem Titel "Aller Irrsinn dieses Seins" erschienen, seither jedoch vergriffen; für die jetzige Neuübersetzung von Manfred Allié hat der Schriftsteller die Texte seines Debüts komplett überarbeitet. Daß man diese frühen Erzählungen heute überdies mit besonderem Interesse lesen dürfte, liegt vor allem an "Schiffbruch mit Tiger", für den Yann Martel 2002 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Autor selbst bezeichnet dieses Werk, das zu einem globalen Bestseller wurde, als eine "Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann". Um so erstaunlicher, daß Gott in Martels frühen stories, deren gemeinsames Thema weniger das Sterben als unsere Wahrnehmung des Lebens Todgeweihter ist, nur als Abwesender vorkommt. Hier ist die Aufbewahrungsanstalt alles Lebens die Erzählung selbst, die nicht nach dem Sinn fragt, sondern von ihm erzählt.
Selbst der sichere Tod hat so viele Gesichter, daß letzte Gewißheit darüber nicht zu erlangen ist: Neun Briefe schreibt der Gefängnisdirektor Harry Parlington an Mrs. Barlow, neunmal spricht er ihr sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, neun unterschiedliche Versionen gibt er ihr von den letzten Stunden des Häftlings bis zur Vollstreckung der Todesstrafe durch den Strick. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal kichert er hysterisch, mal möchte er Kaviar und Champagner als Henkersmahlzeit, mal Cheeseburger, einmal spricht er zehn Minuten mit dem Pfarrer, dann die ganze Nacht lang. Zweimal stirbt er, bevor es zur Vollstreckung des Urteils kommt, siebenmal wird er hingerichtet. Man mag die Erzählung "1096 Arten zu sterben" als Plädoyer gegen die Todesstrafe lesen; zuallererst jedoch zeigt sie, daß sich dem Tod nicht nur auf vielfältige Weise begegnen, sondern auch davon erzählen läßt.
Eine andere Geschichte handelt von den Klängen einer dissonanten Geige, mit denen ein Vietnam-Veteran einst dem Krieg und später seiner trostlosen Arbeit in einer Putzkolonne trotzt. "Der Tag, an dem ich das Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", wie die Geschichte überschrieben ist, bleibt dem Erzähler unvergeßlich, der mit seinem Konzertbericht dem Komponisten ein Denkmal setzt so wie dieser seinem Kameraden Donald Rankin. Im Boot kommt es ganz auf Pis Verhältnis zu dem Tiger an, den er schließlich zähmt. In Martels frühen Erzählungen kann die Phantasie den Tod zwar nicht dressieren, aber sie hilft, ihm zu begegnen.
FELICITAS VON LOVENBERG
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