Einer der Helden erfindet gemeinsam mit seinem an Aids erkrankten Freund die Geschichte der Roccamatios in Helsinki und hält ihn so am Leben: Erzählen heißt Atmen. Der Vietnam-Veteran John Morton schrubbt nachts Büros und schreibt ein Konzert für Streicher, in der seine "dissonante" Violine den Heldenpart übernimmt, denn er weiß, wie die Geige ihm half, den Krieg zu überstehen. Der Leser lernt die Alchemie der Spiegel kennen und erfährt, wie erst das Ende den wahren Charakter einer Biographie enthüllt. Immer geht es in den Geschichten um den schmalen Spalt des Möglichen, den nur ein Erzähler entdeckt, der seine Figuren liebt und die zarte Farbe der Humanität versteht.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eher zurückhaltend äußert sich Rezensent Tilman Urbach über diese frühen Erzählungen Yann Martels, die jetzt in neuer Übersetzung wieder veröffentlicht wurden. Literarisch findet er die Qualität der Texte, die meist vom Sterben und dem Tod handeln, "durchwachsen". Er betrachtet sie eher als "Etüden, Kleinigkeiten, Erzählversuche", die den heute weltbekannten kanadischen Autor vor seinem Romanerfolg "Schiffbruch mit Tiger" zeigen. Als charakteristisch für den Band sieht Urbach die auf den Geschichten lastende "jugendliche Gedankenschwere". Die Texte dokumentieren für ihn zudem die stilistischen wie thematischen Umwege, die ein junger Schriftsteller zurücklegen muss, "bis sich die erzählerische Spreu vom Weizen zu trennen beginnt". Das Resümee des Rezensenten: "kein Meisterwerk - aber ein Einblick in die Anfänge eines Autors".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2005Die schrille Geige in der Putzkolonne
"Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios": Erzählungen von Yann Martel als Vorabdruck in der F.A.Z.
Was wissen wir schon voneinander, und was sagt das, was wir zu wissen meinen, tatsächlich aus? Über den kanadischen Schriftsteller Yann Martel, geboren 1963, vermerkt das Munzinger-Biographie-Archiv unter anderem: "M. lebt und arbeitet in Montreal. Er ist sozial engagiert und macht Yoga." Wer Martels Erzählungen und Romane liest, der glaubt, noch etwas anderes über ihn zu erfahren: daß dieser Autor das Erzählen für eine existentialistische Beschäftigung hält, die er mit seinen Figuren auch uns verordnet. Warum sonst würde jemand zusammen mit einem todkranken Freund die Geschichte einer gewissen Familie Roccamatio aus Helsinki erfinden und sie Tag für Tag, an den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts entlang, weiterspinnen?
Womöglich tut er dies aus denselben Gründen, aus denen ein indischer Junge namens Pi Patel in Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" ein hungriges Raubtier dressiert, mit dem er 227 Tage auf hoher See verbringen muß. Was für den einen die wundersame Rettung bedeutet, kann für den anderen den Krankenhausaufenthalt erträglich machen, selbst wenn es sein Leben nicht verlängert. Die Erzählung handelt vom Sterben und von Aids, doch eigentlich geht es Martel in dieser und in anderen Geschichten um die gedanklichen Mittel, mit denen wir uns am Leben erhalten.
Die Erzählungssammlung "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios", die wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, war bereits 1994 im Verlag Volk und Welt unter dem Titel "Aller Irrsinn dieses Seins" erschienen, seither jedoch vergriffen; für die jetzige Neuübersetzung von Manfred Allié hat der Schriftsteller die Texte seines Debüts komplett überarbeitet. Daß man diese frühen Erzählungen heute überdies mit besonderem Interesse lesen dürfte, liegt vor allem an "Schiffbruch mit Tiger", für den Yann Martel 2002 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Autor selbst bezeichnet dieses Werk, das zu einem globalen Bestseller wurde, als eine "Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann". Um so erstaunlicher, daß Gott in Martels frühen stories, deren gemeinsames Thema weniger das Sterben als unsere Wahrnehmung des Lebens Todgeweihter ist, nur als Abwesender vorkommt. Hier ist die Aufbewahrungsanstalt alles Lebens die Erzählung selbst, die nicht nach dem Sinn fragt, sondern von ihm erzählt.
Selbst der sichere Tod hat so viele Gesichter, daß letzte Gewißheit darüber nicht zu erlangen ist: Neun Briefe schreibt der Gefängnisdirektor Harry Parlington an Mrs. Barlow, neunmal spricht er ihr sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, neun unterschiedliche Versionen gibt er ihr von den letzten Stunden des Häftlings bis zur Vollstreckung der Todesstrafe durch den Strick. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal kichert er hysterisch, mal möchte er Kaviar und Champagner als Henkersmahlzeit, mal Cheeseburger, einmal spricht er zehn Minuten mit dem Pfarrer, dann die ganze Nacht lang. Zweimal stirbt er, bevor es zur Vollstreckung des Urteils kommt, siebenmal wird er hingerichtet. Man mag die Erzählung "1096 Arten zu sterben" als Plädoyer gegen die Todesstrafe lesen; zuallererst jedoch zeigt sie, daß sich dem Tod nicht nur auf vielfältige Weise begegnen, sondern auch davon erzählen läßt.
Eine andere Geschichte handelt von den Klängen einer dissonanten Geige, mit denen ein Vietnam-Veteran einst dem Krieg und später seiner trostlosen Arbeit in einer Putzkolonne trotzt. "Der Tag, an dem ich das Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", wie die Geschichte überschrieben ist, bleibt dem Erzähler unvergeßlich, der mit seinem Konzertbericht dem Komponisten ein Denkmal setzt so wie dieser seinem Kameraden Donald Rankin. Im Boot kommt es ganz auf Pis Verhältnis zu dem Tiger an, den er schließlich zähmt. In Martels frühen Erzählungen kann die Phantasie den Tod zwar nicht dressieren, aber sie hilft, ihm zu begegnen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios": Erzählungen von Yann Martel als Vorabdruck in der F.A.Z.
Was wissen wir schon voneinander, und was sagt das, was wir zu wissen meinen, tatsächlich aus? Über den kanadischen Schriftsteller Yann Martel, geboren 1963, vermerkt das Munzinger-Biographie-Archiv unter anderem: "M. lebt und arbeitet in Montreal. Er ist sozial engagiert und macht Yoga." Wer Martels Erzählungen und Romane liest, der glaubt, noch etwas anderes über ihn zu erfahren: daß dieser Autor das Erzählen für eine existentialistische Beschäftigung hält, die er mit seinen Figuren auch uns verordnet. Warum sonst würde jemand zusammen mit einem todkranken Freund die Geschichte einer gewissen Familie Roccamatio aus Helsinki erfinden und sie Tag für Tag, an den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts entlang, weiterspinnen?
Womöglich tut er dies aus denselben Gründen, aus denen ein indischer Junge namens Pi Patel in Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" ein hungriges Raubtier dressiert, mit dem er 227 Tage auf hoher See verbringen muß. Was für den einen die wundersame Rettung bedeutet, kann für den anderen den Krankenhausaufenthalt erträglich machen, selbst wenn es sein Leben nicht verlängert. Die Erzählung handelt vom Sterben und von Aids, doch eigentlich geht es Martel in dieser und in anderen Geschichten um die gedanklichen Mittel, mit denen wir uns am Leben erhalten.
Die Erzählungssammlung "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios", die wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, war bereits 1994 im Verlag Volk und Welt unter dem Titel "Aller Irrsinn dieses Seins" erschienen, seither jedoch vergriffen; für die jetzige Neuübersetzung von Manfred Allié hat der Schriftsteller die Texte seines Debüts komplett überarbeitet. Daß man diese frühen Erzählungen heute überdies mit besonderem Interesse lesen dürfte, liegt vor allem an "Schiffbruch mit Tiger", für den Yann Martel 2002 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Autor selbst bezeichnet dieses Werk, das zu einem globalen Bestseller wurde, als eine "Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann". Um so erstaunlicher, daß Gott in Martels frühen stories, deren gemeinsames Thema weniger das Sterben als unsere Wahrnehmung des Lebens Todgeweihter ist, nur als Abwesender vorkommt. Hier ist die Aufbewahrungsanstalt alles Lebens die Erzählung selbst, die nicht nach dem Sinn fragt, sondern von ihm erzählt.
Selbst der sichere Tod hat so viele Gesichter, daß letzte Gewißheit darüber nicht zu erlangen ist: Neun Briefe schreibt der Gefängnisdirektor Harry Parlington an Mrs. Barlow, neunmal spricht er ihr sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, neun unterschiedliche Versionen gibt er ihr von den letzten Stunden des Häftlings bis zur Vollstreckung der Todesstrafe durch den Strick. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal kichert er hysterisch, mal möchte er Kaviar und Champagner als Henkersmahlzeit, mal Cheeseburger, einmal spricht er zehn Minuten mit dem Pfarrer, dann die ganze Nacht lang. Zweimal stirbt er, bevor es zur Vollstreckung des Urteils kommt, siebenmal wird er hingerichtet. Man mag die Erzählung "1096 Arten zu sterben" als Plädoyer gegen die Todesstrafe lesen; zuallererst jedoch zeigt sie, daß sich dem Tod nicht nur auf vielfältige Weise begegnen, sondern auch davon erzählen läßt.
Eine andere Geschichte handelt von den Klängen einer dissonanten Geige, mit denen ein Vietnam-Veteran einst dem Krieg und später seiner trostlosen Arbeit in einer Putzkolonne trotzt. "Der Tag, an dem ich das Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", wie die Geschichte überschrieben ist, bleibt dem Erzähler unvergeßlich, der mit seinem Konzertbericht dem Komponisten ein Denkmal setzt so wie dieser seinem Kameraden Donald Rankin. Im Boot kommt es ganz auf Pis Verhältnis zu dem Tiger an, den er schließlich zähmt. In Martels frühen Erzählungen kann die Phantasie den Tod zwar nicht dressieren, aber sie hilft, ihm zu begegnen.
FELICITAS VON LOVENBERG
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2005Scheherazade-Trick
Yann Martel packt Fleisch aufs Erzählskelett
2003 konnte man von Yann Martel den Roman „Schiffbruch mit Tiger” lesen. Schiffbruch mit was? Tiger? Nicht im Ernst, oder? Die gewagte Konstellation des Romans klingt wie eine übermütige Wette des Autors. Nun verdankt die Literaturgeschichte ihre schönsten Bücher übermütigen Autorenwetten. Wetten, ich interessiere meinen Leser für einen hypersensiblen Pädophilen? „Lolita”. Wetten, ich stopfe einen gut Teil der abendländischen Kultur in einen einzigen Dubliner Werktag? „Ulysses”. Wetten, ich bekomme zwischen Zeugung und Geburt meines Helden mehr als zweihundert Abschweifungen? „Tristram Shandy”.
Es empfiehlt sich, nur sehr gut vorbereitet in solche unmöglichen Wetten zu gehen. In dem kleinen Erzählungsband „Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios” finden sich vier Beispiele für Martels Vorbereitungen für seine erste große Prosawette. In einem Vorwort berichtet der Autor von seinen literarischen Anfängen. Beherzt erzählt er, wie schlecht seine ersten Texte waren. Und wie sehr ihn alles andere als Schreiben langweilt. Die Schlusslektion dieser kurzen Werkstattauskunft ist, dass es letztlich nur eine einzige Maxime für einen Autor geben kann: Weitermachen. Egal, wie schlecht die ersten Texte sind, egal, wie unerträglich es ist, sie wiederlesen zu müssen - einfach immer weitermachen: „Aber ich würde mit dem Schreiben weitermachen, bis sich etwas anderes ergab. Es ergab sich nie etwas anderes, bis heute nicht - und ich bin froh darüber.”
Phantastische Höchstleistungen
Die Storys in diesem Band beobachten allesamt junge Männer beim Erwachsenwerden. Männer mit offenen Sinnen, bereit, sich Abenteuern zu stellen und ihr Gegenüber zu entdecken. Solchen Figuren folgt man gern. Martels junge Helden entdecken den Tod, die Schönheit und die Kraft der Erinnerung. Schon in seinen ersten Texten zeigt sich Martels Vorliebe für forcierte literarische Konstellationen. In der Titel gebenden Story pflegt ein junger Mann seinen an Aids erkrankten Freund. Beide beschließen, sich abwechselnd Geschichten zu erzählen. Sie versuchen sich an dem alten Scheherazade-Trick: Sie wollen den Tod durch die Kunst des Erzählens bannen. Die Struktur ihrer Erzählungen ist geschult an den Techniken der Oulipo, der Ouvrage de Litérature Potentielle, jenes literarischen Zirkels, der von der Prämisse ausgeht, dass nur größtmögliche formale Zwänge die Phantasie zu Höchstleistungen beflügeln.
So wählen die beiden Freunde historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts als Matrix ihrer knappen Erzählungen über die finnische Familie der Roccamatios aus. Martel erzählt nun nicht etwa diese Roccamatio-Chroniken, sondern collagiert in seinen ergreifenden Krankheitsbericht nur die Lexikon-Artikel, die den beiden Freunden als Vorlage und Inspirationsquelle zu ihren lebenserhaltenden Erzählungen dienen. So bewegt sich der Leser durch eine Spiegelflucht von Verweisen: Die Ereignisse des mörderischen Jahrhunderts spiegeln die Geschichten der Roccamatios, die wiederum die unterschiedlichen Stadien der Krankengeschichte spiegeln. Ein Artikel über die Erfindung des Reißverschlusses etwa deutet fast verschämt einen bescheidenen Optimismus des Erkrankten an. Die Verbindungen zwischen der Krankengeschichte und den Lexikonartikeln sind sehr diskret, und aus eben dieser Verhaltenheit beziehen sie ihre Kraft. Die fiktiven Roccamatios bleiben die großen Abwesenden in dieser Erzählung. Ihre Abenteuer sind der Phantasie des Lesers überlassen. So werden sie ein Abbild für all das Unsagbare in diesem langen Abschied von einem Freund.
Diese Konstruktion ist äußerst wirkungsvoll: Die staubtrockenen Lexikon-Einträge bilden einen ergreifenden Kontrast zu den aufwühlenden Zeugnissen über einen zerfallenden Körper. Hier offenbart sich das Talent des Autors, einer überkonstruierten literarischen Konstellation durch plastische Charaktere und glaubwürdige Schicksale Leben einzuhauchen. In Martels besten Texten setzt ein sehr formalistisches Skelett bald erzählerisches Fleisch an, so dass vor des Lesers Auge ein lebendiges, lockeres, leichtes Prosagebilde entsteht.
In „Spiegel für die Ewigkeit” findet der Erzähler im Keller seiner Großmutter eine phantastische Maschine, die aus den Zutaten Sand, Silber und Öl unter Beigabe von lebendig erzählten Erinnerungen Spiegel herstellt. Nicht im Ernst, oder? Wieder sticht als Erstes die bemüht konstruierte Grundidee des Textes ins Auge. Man muss solche parabelhafte Programmprosa nicht unbedingt mögen. Die allegorischen Zahnrädchen von Martels Spiegelmaschinen knirschen schon ziemlich penetrant, und manchmal schimmert die erbauliche, semi-philosophische Botschaft allzu heilversprechend und naseweis durch den Text. Im vorliegenden Fall lernen wir, dass sich das Selbstbild eines jeden Menschen nur im Spiegel lebendig gehaltener Erinnerungen konstituiert. Wer hätte das gedacht? Doch trotz aller Vorbehalte bleibt bewundernswert, wie es dem Autor immer wieder gelingt, noch den gewagtesten Konstrukten durch versierte Charakterzeichnung Leben einzuhauchen.
Es ist auffällig, wie sehr Martel in seinen frühen Texten nur die Hintergründe zu seinen Geschichten beschreibt. In „1096 Arten zu sterben” imaginiert er die unterschiedlichen Arten, auf die sich die Hinrichtung eines jungen Mannes hätte abspielen können. Das ist ergreifend, denn auch hier wird das Unsagbare vorsichtig umkreist. Doch auch hier wird wieder der Respekt des jungen Autors spürbar, der sich noch nicht wirklich zur eigentlichen Erzählung vorwagt, der die Möglichkeiten eines Textes erkundet, sich an den Abgrund der Geschichte herantastet, ihn manieristisch umtänzelt, aber noch nicht zum Sprung ansetzt.
Auf die Dauer möchte der Leser natürlich nicht nur verspielte Prosa-Prämissen lesen, sondern eine mutig ausgearbeitete Erzählung. Schön, dass Martell sich durch nichts hat beirren lassen, dass er weiter, immer weiter gemacht hat, und schließlich nicht nur in aller technischen Finesse die Hintergründe zum Schiffbruch mit Tiger angedeutet hat, sondern es endlich richtig im Schiffsgebälk hat krachen lassen.
STEPHAN MAUS
YANN MARTEL: Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios. Stories. Aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 Seiten, 19,90 Euro.
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Yann Martel packt Fleisch aufs Erzählskelett
2003 konnte man von Yann Martel den Roman „Schiffbruch mit Tiger” lesen. Schiffbruch mit was? Tiger? Nicht im Ernst, oder? Die gewagte Konstellation des Romans klingt wie eine übermütige Wette des Autors. Nun verdankt die Literaturgeschichte ihre schönsten Bücher übermütigen Autorenwetten. Wetten, ich interessiere meinen Leser für einen hypersensiblen Pädophilen? „Lolita”. Wetten, ich stopfe einen gut Teil der abendländischen Kultur in einen einzigen Dubliner Werktag? „Ulysses”. Wetten, ich bekomme zwischen Zeugung und Geburt meines Helden mehr als zweihundert Abschweifungen? „Tristram Shandy”.
Es empfiehlt sich, nur sehr gut vorbereitet in solche unmöglichen Wetten zu gehen. In dem kleinen Erzählungsband „Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios” finden sich vier Beispiele für Martels Vorbereitungen für seine erste große Prosawette. In einem Vorwort berichtet der Autor von seinen literarischen Anfängen. Beherzt erzählt er, wie schlecht seine ersten Texte waren. Und wie sehr ihn alles andere als Schreiben langweilt. Die Schlusslektion dieser kurzen Werkstattauskunft ist, dass es letztlich nur eine einzige Maxime für einen Autor geben kann: Weitermachen. Egal, wie schlecht die ersten Texte sind, egal, wie unerträglich es ist, sie wiederlesen zu müssen - einfach immer weitermachen: „Aber ich würde mit dem Schreiben weitermachen, bis sich etwas anderes ergab. Es ergab sich nie etwas anderes, bis heute nicht - und ich bin froh darüber.”
Phantastische Höchstleistungen
Die Storys in diesem Band beobachten allesamt junge Männer beim Erwachsenwerden. Männer mit offenen Sinnen, bereit, sich Abenteuern zu stellen und ihr Gegenüber zu entdecken. Solchen Figuren folgt man gern. Martels junge Helden entdecken den Tod, die Schönheit und die Kraft der Erinnerung. Schon in seinen ersten Texten zeigt sich Martels Vorliebe für forcierte literarische Konstellationen. In der Titel gebenden Story pflegt ein junger Mann seinen an Aids erkrankten Freund. Beide beschließen, sich abwechselnd Geschichten zu erzählen. Sie versuchen sich an dem alten Scheherazade-Trick: Sie wollen den Tod durch die Kunst des Erzählens bannen. Die Struktur ihrer Erzählungen ist geschult an den Techniken der Oulipo, der Ouvrage de Litérature Potentielle, jenes literarischen Zirkels, der von der Prämisse ausgeht, dass nur größtmögliche formale Zwänge die Phantasie zu Höchstleistungen beflügeln.
So wählen die beiden Freunde historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts als Matrix ihrer knappen Erzählungen über die finnische Familie der Roccamatios aus. Martel erzählt nun nicht etwa diese Roccamatio-Chroniken, sondern collagiert in seinen ergreifenden Krankheitsbericht nur die Lexikon-Artikel, die den beiden Freunden als Vorlage und Inspirationsquelle zu ihren lebenserhaltenden Erzählungen dienen. So bewegt sich der Leser durch eine Spiegelflucht von Verweisen: Die Ereignisse des mörderischen Jahrhunderts spiegeln die Geschichten der Roccamatios, die wiederum die unterschiedlichen Stadien der Krankengeschichte spiegeln. Ein Artikel über die Erfindung des Reißverschlusses etwa deutet fast verschämt einen bescheidenen Optimismus des Erkrankten an. Die Verbindungen zwischen der Krankengeschichte und den Lexikonartikeln sind sehr diskret, und aus eben dieser Verhaltenheit beziehen sie ihre Kraft. Die fiktiven Roccamatios bleiben die großen Abwesenden in dieser Erzählung. Ihre Abenteuer sind der Phantasie des Lesers überlassen. So werden sie ein Abbild für all das Unsagbare in diesem langen Abschied von einem Freund.
Diese Konstruktion ist äußerst wirkungsvoll: Die staubtrockenen Lexikon-Einträge bilden einen ergreifenden Kontrast zu den aufwühlenden Zeugnissen über einen zerfallenden Körper. Hier offenbart sich das Talent des Autors, einer überkonstruierten literarischen Konstellation durch plastische Charaktere und glaubwürdige Schicksale Leben einzuhauchen. In Martels besten Texten setzt ein sehr formalistisches Skelett bald erzählerisches Fleisch an, so dass vor des Lesers Auge ein lebendiges, lockeres, leichtes Prosagebilde entsteht.
In „Spiegel für die Ewigkeit” findet der Erzähler im Keller seiner Großmutter eine phantastische Maschine, die aus den Zutaten Sand, Silber und Öl unter Beigabe von lebendig erzählten Erinnerungen Spiegel herstellt. Nicht im Ernst, oder? Wieder sticht als Erstes die bemüht konstruierte Grundidee des Textes ins Auge. Man muss solche parabelhafte Programmprosa nicht unbedingt mögen. Die allegorischen Zahnrädchen von Martels Spiegelmaschinen knirschen schon ziemlich penetrant, und manchmal schimmert die erbauliche, semi-philosophische Botschaft allzu heilversprechend und naseweis durch den Text. Im vorliegenden Fall lernen wir, dass sich das Selbstbild eines jeden Menschen nur im Spiegel lebendig gehaltener Erinnerungen konstituiert. Wer hätte das gedacht? Doch trotz aller Vorbehalte bleibt bewundernswert, wie es dem Autor immer wieder gelingt, noch den gewagtesten Konstrukten durch versierte Charakterzeichnung Leben einzuhauchen.
Es ist auffällig, wie sehr Martel in seinen frühen Texten nur die Hintergründe zu seinen Geschichten beschreibt. In „1096 Arten zu sterben” imaginiert er die unterschiedlichen Arten, auf die sich die Hinrichtung eines jungen Mannes hätte abspielen können. Das ist ergreifend, denn auch hier wird das Unsagbare vorsichtig umkreist. Doch auch hier wird wieder der Respekt des jungen Autors spürbar, der sich noch nicht wirklich zur eigentlichen Erzählung vorwagt, der die Möglichkeiten eines Textes erkundet, sich an den Abgrund der Geschichte herantastet, ihn manieristisch umtänzelt, aber noch nicht zum Sprung ansetzt.
Auf die Dauer möchte der Leser natürlich nicht nur verspielte Prosa-Prämissen lesen, sondern eine mutig ausgearbeitete Erzählung. Schön, dass Martell sich durch nichts hat beirren lassen, dass er weiter, immer weiter gemacht hat, und schließlich nicht nur in aller technischen Finesse die Hintergründe zum Schiffbruch mit Tiger angedeutet hat, sondern es endlich richtig im Schiffsgebälk hat krachen lassen.
STEPHAN MAUS
YANN MARTEL: Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios. Stories. Aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 Seiten, 19,90 Euro.
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