Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Evangelikalismus und demokratischem Liberalismus in Amerika gehören zu den großen historischen Erfolgsgeschichten. Der Evangelikalismus, Amerikas dominierende Religionskultur von der Kolonialzeit bis zum Ersten Weltkrieg, beeinflusst bis heute die Werte und Überzeugungen der Nation. Neben dem ökonomischen Interesse haben diese Überzeugungen die amerikanische Politik mitbestimmt unabhängig von der jeweils regierenden Partei. Dies traf für Wilson, Roosevelt, Kennedy und Clinton ebenso zu wie für Eisenhower, Reagan und Bush und das wird auch für den nächsten Präsidenten gelten. Wenn auch die heutige evangelikale Bewegung in den USA mit konservativer Politik in Verbindung gebracht wird, so war sie doch für die meiste Zeit der amerikanischen Geschichte radikal progressiv. Europäischer Calvinismus, der bereits individuelles ethisches Bemühen und selbständige Bibellektüre betonte, verband sich mit dem britischen Liberalismus, aber auch mit den Erfahrungen der Immigranten und der Siedler, die ebenfalls individuelle Anstrengungen erforderlich machten. Diese Mischung brachte eine antiautoritäre, optimistische und selbstgewisse Variante des Protestantismus hervor. In diesem Buch wird die aktuelle Entwicklung der sogenannten neuen Evangelikalen nachgezeichnet. Diese vertreten eine antimilitaristische, antikonsumistische und ökologische Politik und betonen die Pflicht zur Hilfe für die Schwachen wie es Jesus auch tat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2009Die Mission des Neuen Jerusalem
Marcia Pally spürt den religiösen Wurzeln der amerikanischen Politik nach und entwirft ein eher grobes Bild des Evangelikalismus.
Die lange enttäuschten europäischen Liebhaber der Vereinigten Staaten atmen auf: Mit der Wahl von Barack Obama wird alles wieder anders. Die guten Eigenschaften Amerikas werden wieder hervortreten, der "große Bruder" wird seine Vormachtstellung wieder zum Guten ausnutzen. Nach dem "bad cop" Bush nun der "good cop" Obama, der zweite Lincoln - ach, wäre das schön!
Das kleine Buch der amerikanischen Medien- und Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally, das noch im Vorfeld der Präsidentenwahlen entstand, warnt nachdrücklich vor einer solchen naiven Betrachtung der Dinge. Die wesentliche Botschaft der beiden in dem Band enthaltenen Essays lautet: Die "Tiefenstruktur" amerikanischer Außenpolitik ist seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik im Wesentlichen unverändert; und es spielt dabei keine große Rolle, ob ein Republikaner oder ein Demokrat im Weißen Haus sitzt. Nachhaltig zerstören die von Pally ausgewählten Beispiele den Eindruck, Bushs Außenpolitik sei fundamental anders, hässlicher, zynischer, bösartiger als die seiner Vorgänger: "In den Jahren zwischen 1945 und 2005 versuchten die USA unter beiden Parteien, 50 Regierungen zu stürzen . . .; sie unterdrückten mehr als 30 populistische und nationalistische Protestbewegungen und waren in Attentate oder geplante Attentate von 35 ausländischen Führungspersönlichkeiten verwickelt." Das Bemühen um Macht und Einfluss sei so konstant wie das ehrliche Bestreben, Freiheit und Demokratie zu verbreiten - zum ökonomischen Nutzen aller.
Die Gründe für diese politische Konstanz sucht die Autorin in einem Wertekonsens, der tiefe religiöse Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft hat. Erinnern sich die enttäuschten Liebhaber vielleicht nur der nach Ansicht vieler bigotten Rhetorik George W. Bushs, so zitiert Pally andere Beispiele religiöser Rhetorik, angefangen mit Jefferson und Lincoln. Im Vorwahlkampf haben sich auch Hillary Clinton und Barack Obama ausführlich zu ihrem Glauben geäußert.
Solche und andere Äußerungen zeigen, dass Religion hochangesehen und politisch allgegenwärtig ist in einem Land, in dem Kirche und Staat institutionell sehr viel strikter getrennt sind als etwa in Deutschland. Mag diese religiöse Prägung der amerikanischen Gesellschaft, und so auch ihrer führenden Politiker, aus einer westeuropäischen Perspektive befremden, so erklärt sie sich aus der Geschichte des Landes und seines öffentlichen Diskurses. Dieser sei, so die Autorin, wesentlich vom Evangelikalismus (evangelicalism) geprägt. Dieser Evangelikalismus stammt "von den religiös enthusiastischen calvinistischen und anglikanischen Kirchen und den pietistischen und herrnhutischen Bewegungen in Deutschland ab". Charakteristika sind besonders die Suche nach einer persönlichen Beziehung zu Jesus, die persönliche Bibellektüre und ein missionarischer Impuls.
Die Strömung, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten auf etwa ein Viertel geschätzt wird, ist nicht leicht zu überschauen; auch Pallys Buch bietet zu wenig konfessionswissenschaftliche und soziologische Basisinformationen. Schlaglichtartig werden dagegen die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in Europa seit der Reformationszeit benannt. Sebastian Franck, Sebastian Castellio, Hugo Grotius, Dirck Volckertszoon Coornhert und andere waren prägend für eine Einstellung zur Religion (einschließlich der christlichen), die in die Praxis umgesetzt wurde: Gewissensfreiheit und staatliche Neutralität. Die Autorin versucht zu zeigen, dass es heute nicht zuletzt die amerikanischen Muslime sind, die von dieser toleranten Hochachtung von Religion profitieren. Auch die in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Europa wesentlich freundlichere Einstellung gegenüber den Scientologen wäre hier zu nennen: "Religiöse und kulturelle Unterscheidbarkeit ist nicht nur eine Sache der Neuankömmlinge in Amerika - es ist die Sache aller Amerikaner. . .religiös-kulturelle Assimilation ist nicht erforderlich."
Die Grundüberzeugungen des amerikanischen Evangelikalismus, die auf Gesellschaft und Politik einen stetigen Einfluss ausüben konnten, sind die republikanische Gesinnung - republikanische Regierungsformen sind die "Gefäße des Evangeliums", schreibt der Presbyterianer Benjamin Rush 1791 -, die Moralphilosophie des Commonsense und die Vorstellung von den Vereinigten Staaten als dem "Neuen Jerusalem". Sie befördern einen pragmatisch orientierten Individualismus, der Moralität und auch ökonomisches Eigeninteresse nicht als Gegensatz verstehen muss.
Zugleich bewirkte die im first amendment der Verfassung verankerte Trennung von Kirche und Staat, dass Erstere, nicht kompromittiert von Tages- und Machtpolitik, moralisches Ansehen gewinnen und bewahren konnte. Soziale Bewegungen wie der von dem Baptisten Walter Rauschenbusch (1861-1918) und anderen propagierte "Social Gospel" oder die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind ohne die Evangelicals nicht denkbar. Erscheinen in dieser Perspektive die Evangelikalen eher progressiv als konservativ, so fehlte es nicht an konservativen Reaktionen, die den Evangelikalismus "zurückwarfen", wie die Autorin in schöner Parteilichkeit formuliert.
Genauer - und über die Holzschnittskizze des Bandes hinaus - wird man fragen müssen, ob die sehr grobe Kategorie "Evangelikalismus" ausreicht, um den religiös-politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten zu erklären und den Einfluss religiöser Überzeugungen auf politische Rhetorik, Wahrnehmung und Handeln differenziert zu beschreiben.
Die Lehre, die die Autorin aus ihrer Darstellung zieht, ist deutlich: Religion ist zu Selbstkorrektur und Selbstrelativierung fähig; sie ist nicht besser oder schlechter als Gesellschaft und Staat; die Säkularisierungstheorie ist in ihrer optimistischen Variante falsch, ihr den Abschied zu geben könnte politisch von Nutzen sein. Die Rollenverteilung zwischen Religion und programmatisch säkularer Politik ist gewiss nicht die zwischen "bad cop" und "good cop", auch wenn man Pallys Auffassung von Stalinismus und Nationalsozialismus als "rationalen" Systemen nicht teilt. Diese Einsicht allen ins intellektuelle Stammbuch zu schreiben, die über das Verhältnis von Religion und Politik und seine Gestaltung nachdenken, ist das nicht geringe Verdienst der Autorin.
HERMUT LÖHR
Marcia Pally: "Die hintergründige Religion". Der Einfluss des Evangelikalismus auf Gewissensfreiheit, Pluralismus und die US-amerikanische Politik. Berlin University Press, Berlin 2008. 144 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcia Pally spürt den religiösen Wurzeln der amerikanischen Politik nach und entwirft ein eher grobes Bild des Evangelikalismus.
Die lange enttäuschten europäischen Liebhaber der Vereinigten Staaten atmen auf: Mit der Wahl von Barack Obama wird alles wieder anders. Die guten Eigenschaften Amerikas werden wieder hervortreten, der "große Bruder" wird seine Vormachtstellung wieder zum Guten ausnutzen. Nach dem "bad cop" Bush nun der "good cop" Obama, der zweite Lincoln - ach, wäre das schön!
Das kleine Buch der amerikanischen Medien- und Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally, das noch im Vorfeld der Präsidentenwahlen entstand, warnt nachdrücklich vor einer solchen naiven Betrachtung der Dinge. Die wesentliche Botschaft der beiden in dem Band enthaltenen Essays lautet: Die "Tiefenstruktur" amerikanischer Außenpolitik ist seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik im Wesentlichen unverändert; und es spielt dabei keine große Rolle, ob ein Republikaner oder ein Demokrat im Weißen Haus sitzt. Nachhaltig zerstören die von Pally ausgewählten Beispiele den Eindruck, Bushs Außenpolitik sei fundamental anders, hässlicher, zynischer, bösartiger als die seiner Vorgänger: "In den Jahren zwischen 1945 und 2005 versuchten die USA unter beiden Parteien, 50 Regierungen zu stürzen . . .; sie unterdrückten mehr als 30 populistische und nationalistische Protestbewegungen und waren in Attentate oder geplante Attentate von 35 ausländischen Führungspersönlichkeiten verwickelt." Das Bemühen um Macht und Einfluss sei so konstant wie das ehrliche Bestreben, Freiheit und Demokratie zu verbreiten - zum ökonomischen Nutzen aller.
Die Gründe für diese politische Konstanz sucht die Autorin in einem Wertekonsens, der tiefe religiöse Wurzeln in der amerikanischen Gesellschaft hat. Erinnern sich die enttäuschten Liebhaber vielleicht nur der nach Ansicht vieler bigotten Rhetorik George W. Bushs, so zitiert Pally andere Beispiele religiöser Rhetorik, angefangen mit Jefferson und Lincoln. Im Vorwahlkampf haben sich auch Hillary Clinton und Barack Obama ausführlich zu ihrem Glauben geäußert.
Solche und andere Äußerungen zeigen, dass Religion hochangesehen und politisch allgegenwärtig ist in einem Land, in dem Kirche und Staat institutionell sehr viel strikter getrennt sind als etwa in Deutschland. Mag diese religiöse Prägung der amerikanischen Gesellschaft, und so auch ihrer führenden Politiker, aus einer westeuropäischen Perspektive befremden, so erklärt sie sich aus der Geschichte des Landes und seines öffentlichen Diskurses. Dieser sei, so die Autorin, wesentlich vom Evangelikalismus (evangelicalism) geprägt. Dieser Evangelikalismus stammt "von den religiös enthusiastischen calvinistischen und anglikanischen Kirchen und den pietistischen und herrnhutischen Bewegungen in Deutschland ab". Charakteristika sind besonders die Suche nach einer persönlichen Beziehung zu Jesus, die persönliche Bibellektüre und ein missionarischer Impuls.
Die Strömung, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten auf etwa ein Viertel geschätzt wird, ist nicht leicht zu überschauen; auch Pallys Buch bietet zu wenig konfessionswissenschaftliche und soziologische Basisinformationen. Schlaglichtartig werden dagegen die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in Europa seit der Reformationszeit benannt. Sebastian Franck, Sebastian Castellio, Hugo Grotius, Dirck Volckertszoon Coornhert und andere waren prägend für eine Einstellung zur Religion (einschließlich der christlichen), die in die Praxis umgesetzt wurde: Gewissensfreiheit und staatliche Neutralität. Die Autorin versucht zu zeigen, dass es heute nicht zuletzt die amerikanischen Muslime sind, die von dieser toleranten Hochachtung von Religion profitieren. Auch die in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Europa wesentlich freundlichere Einstellung gegenüber den Scientologen wäre hier zu nennen: "Religiöse und kulturelle Unterscheidbarkeit ist nicht nur eine Sache der Neuankömmlinge in Amerika - es ist die Sache aller Amerikaner. . .religiös-kulturelle Assimilation ist nicht erforderlich."
Die Grundüberzeugungen des amerikanischen Evangelikalismus, die auf Gesellschaft und Politik einen stetigen Einfluss ausüben konnten, sind die republikanische Gesinnung - republikanische Regierungsformen sind die "Gefäße des Evangeliums", schreibt der Presbyterianer Benjamin Rush 1791 -, die Moralphilosophie des Commonsense und die Vorstellung von den Vereinigten Staaten als dem "Neuen Jerusalem". Sie befördern einen pragmatisch orientierten Individualismus, der Moralität und auch ökonomisches Eigeninteresse nicht als Gegensatz verstehen muss.
Zugleich bewirkte die im first amendment der Verfassung verankerte Trennung von Kirche und Staat, dass Erstere, nicht kompromittiert von Tages- und Machtpolitik, moralisches Ansehen gewinnen und bewahren konnte. Soziale Bewegungen wie der von dem Baptisten Walter Rauschenbusch (1861-1918) und anderen propagierte "Social Gospel" oder die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind ohne die Evangelicals nicht denkbar. Erscheinen in dieser Perspektive die Evangelikalen eher progressiv als konservativ, so fehlte es nicht an konservativen Reaktionen, die den Evangelikalismus "zurückwarfen", wie die Autorin in schöner Parteilichkeit formuliert.
Genauer - und über die Holzschnittskizze des Bandes hinaus - wird man fragen müssen, ob die sehr grobe Kategorie "Evangelikalismus" ausreicht, um den religiös-politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten zu erklären und den Einfluss religiöser Überzeugungen auf politische Rhetorik, Wahrnehmung und Handeln differenziert zu beschreiben.
Die Lehre, die die Autorin aus ihrer Darstellung zieht, ist deutlich: Religion ist zu Selbstkorrektur und Selbstrelativierung fähig; sie ist nicht besser oder schlechter als Gesellschaft und Staat; die Säkularisierungstheorie ist in ihrer optimistischen Variante falsch, ihr den Abschied zu geben könnte politisch von Nutzen sein. Die Rollenverteilung zwischen Religion und programmatisch säkularer Politik ist gewiss nicht die zwischen "bad cop" und "good cop", auch wenn man Pallys Auffassung von Stalinismus und Nationalsozialismus als "rationalen" Systemen nicht teilt. Diese Einsicht allen ins intellektuelle Stammbuch zu schreiben, die über das Verhältnis von Religion und Politik und seine Gestaltung nachdenken, ist das nicht geringe Verdienst der Autorin.
HERMUT LÖHR
Marcia Pally: "Die hintergründige Religion". Der Einfluss des Evangelikalismus auf Gewissensfreiheit, Pluralismus und die US-amerikanische Politik. Berlin University Press, Berlin 2008. 144 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In ihrem Buch "Die hintergründige Religion" widmet sich Marcia Pally zwei großen Themenfeldern der amerikanischen Politik: der Außenpolitik und dem Einfluss des Evangelikalismus. Und mit beidem scheint sie Jörg Späters Interesse geweckt zu haben. Bemerkenswert scheint ihm ihre Bilanz, dass in der bisherigen Geschichte der USA die demokratischen Präsidenten mehr Kriege geführt haben als ihre republikanischen Kollegen - Barack Obama also nicht per se ein Garant einer neuen Friedensordnung ist. Pallys Warnung vor falschen Erwartungen kann er deshalb nur unterstreichen. Etwas skeptischer betrachtet er die Ausführungen der Autorin zur fortschrittlichen Rolle des Evangelikalismus in den USA. In Pallys Darstellung erscheint die Religion als "antiautoritäre, progressive Freundin der liberalen Demokratie", doch Später fragt sich, ob der Gläubige, der seine Religionsfreiheit geschützt sehen will, zwangsläufig auch die Meinungsfreiheit eines anderen sichert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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