DIE VERNACHLÄSSIGTE WIRKUNGSGESCHICHTE DES GRUNDGESETZES
Die Geschichte der Bundesrepublik ist maßgeblich vom Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt worden. In den Darstellungen der Historiker kommt das jedoch nur unvollkommen zum Ausdruck. Dieter Grimm, selbst von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, zeigt, wo es zum Verständnis der historischen Entwicklung hilfreich gewesen wäre, auf Verfassung und Verfassungsrechtsprechung ausführlicher einzugehen. Sein scharfsinniges Buch trägt damit zugleich zu einer Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes bei, die bisher fehlt.
Die Bundesrepublik verdankt ihre insgesamt recht glücklich verlaufene Entwicklung zu einem Gutteil dem Grundgesetz. So konnte man es jedenfalls bei allen Jubiläen des Grundgesetzes immer wieder hören. Liest man die Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte, findet man dieses Urteil jedoch nicht bestätigt. Das Grundgesetz und seine Auslegung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht spielen in den Werken der Historiker nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Dieter Grimm zeigt, wo es zur Erklärung und zum Verständnis der Ereignisse, Zustände und Entwicklungen, welche die Historiker schildern, hilfreich gewesen wäre, die Verfassung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen. Das Buch stößt damit in eine Leerstelle zwischen den Disziplinen: Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich zwar mit den Wirkungen derVerfassung, beschränkt sich aber auf die Wirkungen im Rechtssystem, während die Geschichtswissenschaft vor der Anwendungsebene des Rechts haltmacht, wo sich jedoch erst entscheidet, ob und wie der normative Anspruch der Verfassung eingelöst wird.
Eine Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, die bisher fehlte Die Geschichte der Bundesrepublik im Licht von Verfassung und Rechtsprechung
Die Geschichte der Bundesrepublik ist maßgeblich vom Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt worden. In den Darstellungen der Historiker kommt das jedoch nur unvollkommen zum Ausdruck. Dieter Grimm, selbst von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, zeigt, wo es zum Verständnis der historischen Entwicklung hilfreich gewesen wäre, auf Verfassung und Verfassungsrechtsprechung ausführlicher einzugehen. Sein scharfsinniges Buch trägt damit zugleich zu einer Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes bei, die bisher fehlt.
Die Bundesrepublik verdankt ihre insgesamt recht glücklich verlaufene Entwicklung zu einem Gutteil dem Grundgesetz. So konnte man es jedenfalls bei allen Jubiläen des Grundgesetzes immer wieder hören. Liest man die Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte, findet man dieses Urteil jedoch nicht bestätigt. Das Grundgesetz und seine Auslegung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht spielen in den Werken der Historiker nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Dieter Grimm zeigt, wo es zur Erklärung und zum Verständnis der Ereignisse, Zustände und Entwicklungen, welche die Historiker schildern, hilfreich gewesen wäre, die Verfassung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen. Das Buch stößt damit in eine Leerstelle zwischen den Disziplinen: Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich zwar mit den Wirkungen derVerfassung, beschränkt sich aber auf die Wirkungen im Rechtssystem, während die Geschichtswissenschaft vor der Anwendungsebene des Rechts haltmacht, wo sich jedoch erst entscheidet, ob und wie der normative Anspruch der Verfassung eingelöst wird.
Eine Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, die bisher fehlte Die Geschichte der Bundesrepublik im Licht von Verfassung und Rechtsprechung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Blind für anderes
Was Dieter Grimm den Historikern vorwirft, müssen sich auch die Juristen anziehen.
Von Reinhard Müller
Jede Fachbruderschaft hat ihre eigenen Komplexe. Die Soziologen, die Politologen, die Mediziner - und auch die Juristen. Zwar ist ihr Selbstbewusstsein nicht gering. Doch wehe, der Wert des Rechts wird nicht erkannt. Aber auch die Rechtswissenschaft muss damit leben, dass andere den Regeln samt ihrer Wirkung nicht dieselbe Beachtung schenken. Selbst wenn es sich um das Grundgesetz handelt.
Dieter Grimm stellt in seinem Buch fest, das Grundgesetz stehe im Ruf, eine geglückte und effektive Verfassung zu sein. "Die Verfassungsrechtswissenschaft bestätigt es wieder und wieder." Grimm hat zweifellos recht, dass bei jedem Verfassungsjubiläum zu hören sei, das Grundgesetz sei ein Glücksfall für das Land. Das allerdings ist bei Jubelfeiern kein Wunder. Und sonst? Immerhin weist Dolf Sternbergers Wort vom Verfassungspatriotismus auf eine nicht unbeträchtliche Wirkung hin. Doch die "Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte", die Gegenstand von Grimms Untersuchung sind, bestätigen die "große Bedeutung nicht". Sie bestreiten sie aber auch nicht, wie der Autor hinzufügt, sie kämen nur weithin ohne das Grundgesetz aus.
So ist das Buch im Wesentlichen eine Auswertung der Werke der Historiker, die sich mitunter etwas hölzern liest: "Außer bei Conze taucht die Verfassungsreform als Ursache für die sogenannte Politikblockade nur bei Birke (36) und Geppert (36) auf, während Winkler die Verfassungsreform insgesamt positiv beurteilt (256) und im Übrigen eher die Demokratieverluste durch eine Große Koalition als die des Verbundföderalismus betont (268)." So ist der Stil; aber so war ja auch Grimms Anspruch. Mitunter ist er streng: "Dass es bei der Alternative Art. 23 und Art. 146 GG nicht bloß um zwei Wege zur Wiedervereinigung, sondern um zwei Konzepte für die Wiedervereinigung ging", bringe im Grunde nur Winkler zum Vorschein. Viele Darstellungen erscheinen ihm zudem "erfolgsbezogen": Sie betrachteten die Wiedervereinigung vom Ende her. Ob allerdings, trotz vieler Defizite, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Integration der beiden Hälften Deutschlands "weniger fortgeschritten als 1990" scheine, darf bestritten werden.
Grimm stellt fest, dass die bahnbrechenden Karlsruher Entscheidungen "Lüth" und "Elfes" zu den Grundrechten in keinem der untersuchten historischen Werke vorkommen, obwohl sie weit jenseits des Juristischen große Bedeutung hatten. Er rügt, dass wichtige Urteile, etwa zur Medienlandschaft, nur im Ergebnis, aber nicht mit Gründen und in ihrer Bedeutung wiedergegeben würden. Und im Fall der Gleichberechtigung haben die Historiker demnach nicht hinreichend gesehen, dass es im Grunde das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof waren, die dafür sorgten, dass die Verfassungsnorm des Artikels 3 des Grundgesetzes nicht nur auf dem Papier stand, sondern Wirklichkeit wurde. Und auch die Konstitualisierung der Rechtsordnung werde von den Historikern verkannt.
Fazit: Keine der Gesamtdarstellungen werde der "Bedeutung von Verfassung und Verfassungsrechtsprechung gerecht". Es handelt sich demnach "um ein Problem der Disziplin Zeitgeschichte". Einige Befunde erstaunen. Allerdings ist auch das Verfassungsgericht, dem Grimm selbst angehörte, ein Kind seiner Zeit. Es kann sein, dass einige Entscheidungen für Laien, also auch für Historiker schwer zugänglich sind. Es mag auch sein, dass einige für die gesamte Geschichte nicht so bedeutend waren, wie vor allem Verfassungsrichter es gern hätten. So bleibt der Aufruf an alle Disziplinen wichtig, auch einmal zur Seite zu schauen. Insbesondere deutsche Juristen neigen dazu, vieles nur durch die Brille des Rechts zu sehen. Das kann auch blind machen.
Dieter Grimm: "Die Historiker und die Verfassung". Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 358 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Dieter Grimm den Historikern vorwirft, müssen sich auch die Juristen anziehen.
Von Reinhard Müller
Jede Fachbruderschaft hat ihre eigenen Komplexe. Die Soziologen, die Politologen, die Mediziner - und auch die Juristen. Zwar ist ihr Selbstbewusstsein nicht gering. Doch wehe, der Wert des Rechts wird nicht erkannt. Aber auch die Rechtswissenschaft muss damit leben, dass andere den Regeln samt ihrer Wirkung nicht dieselbe Beachtung schenken. Selbst wenn es sich um das Grundgesetz handelt.
Dieter Grimm stellt in seinem Buch fest, das Grundgesetz stehe im Ruf, eine geglückte und effektive Verfassung zu sein. "Die Verfassungsrechtswissenschaft bestätigt es wieder und wieder." Grimm hat zweifellos recht, dass bei jedem Verfassungsjubiläum zu hören sei, das Grundgesetz sei ein Glücksfall für das Land. Das allerdings ist bei Jubelfeiern kein Wunder. Und sonst? Immerhin weist Dolf Sternbergers Wort vom Verfassungspatriotismus auf eine nicht unbeträchtliche Wirkung hin. Doch die "Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte", die Gegenstand von Grimms Untersuchung sind, bestätigen die "große Bedeutung nicht". Sie bestreiten sie aber auch nicht, wie der Autor hinzufügt, sie kämen nur weithin ohne das Grundgesetz aus.
So ist das Buch im Wesentlichen eine Auswertung der Werke der Historiker, die sich mitunter etwas hölzern liest: "Außer bei Conze taucht die Verfassungsreform als Ursache für die sogenannte Politikblockade nur bei Birke (36) und Geppert (36) auf, während Winkler die Verfassungsreform insgesamt positiv beurteilt (256) und im Übrigen eher die Demokratieverluste durch eine Große Koalition als die des Verbundföderalismus betont (268)." So ist der Stil; aber so war ja auch Grimms Anspruch. Mitunter ist er streng: "Dass es bei der Alternative Art. 23 und Art. 146 GG nicht bloß um zwei Wege zur Wiedervereinigung, sondern um zwei Konzepte für die Wiedervereinigung ging", bringe im Grunde nur Winkler zum Vorschein. Viele Darstellungen erscheinen ihm zudem "erfolgsbezogen": Sie betrachteten die Wiedervereinigung vom Ende her. Ob allerdings, trotz vieler Defizite, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Integration der beiden Hälften Deutschlands "weniger fortgeschritten als 1990" scheine, darf bestritten werden.
Grimm stellt fest, dass die bahnbrechenden Karlsruher Entscheidungen "Lüth" und "Elfes" zu den Grundrechten in keinem der untersuchten historischen Werke vorkommen, obwohl sie weit jenseits des Juristischen große Bedeutung hatten. Er rügt, dass wichtige Urteile, etwa zur Medienlandschaft, nur im Ergebnis, aber nicht mit Gründen und in ihrer Bedeutung wiedergegeben würden. Und im Fall der Gleichberechtigung haben die Historiker demnach nicht hinreichend gesehen, dass es im Grunde das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof waren, die dafür sorgten, dass die Verfassungsnorm des Artikels 3 des Grundgesetzes nicht nur auf dem Papier stand, sondern Wirklichkeit wurde. Und auch die Konstitualisierung der Rechtsordnung werde von den Historikern verkannt.
Fazit: Keine der Gesamtdarstellungen werde der "Bedeutung von Verfassung und Verfassungsrechtsprechung gerecht". Es handelt sich demnach "um ein Problem der Disziplin Zeitgeschichte". Einige Befunde erstaunen. Allerdings ist auch das Verfassungsgericht, dem Grimm selbst angehörte, ein Kind seiner Zeit. Es kann sein, dass einige Entscheidungen für Laien, also auch für Historiker schwer zugänglich sind. Es mag auch sein, dass einige für die gesamte Geschichte nicht so bedeutend waren, wie vor allem Verfassungsrichter es gern hätten. So bleibt der Aufruf an alle Disziplinen wichtig, auch einmal zur Seite zu schauen. Insbesondere deutsche Juristen neigen dazu, vieles nur durch die Brille des Rechts zu sehen. Das kann auch blind machen.
Dieter Grimm: "Die Historiker und die Verfassung". Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 358 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Reinhard Müller liest Dieter Grimms Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes mit Interesse. Was Grimm an den Gesamtdarstellungen der Geschichte der BRD auszusetzen hat, findet Müller lesenswert, wenngleich stilistisch eher hölzern. Grimms Strenge des Urteils, wenn es darum geht, den Darstellungen eine gewisse Blindheit gegenüber der Verfassung und der Verfassungsrechtsprechung vorzuwerfen, erstaunt Müller mitunter, den Appell des Autors an Historiker wie Juristen, über den eigenen Tellerrand zu schauen, findet er jedoch hörenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Grimm führt souverän rechtswissenschaftliche, historische und politologische Perspektiven zusammen und illustriert mit argumentativer Prägnanz, wie richtungsweisend verfassungsgerichtliche Entscheidungen für zentrale Wegmarken der bundesrepublikanischen Geschichte waren."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tristan Wissgott
"Man liest das Buch mit größtem Erkenntnisgewinn ... eine wirklich hervorragende und beeindruckende Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes."
Süddeutsche Zeitung, René Schlott
"Sein Buch schlägt eine Brücke zwischen zwei Disziplinen, die mehr Berührungspunkte haben als ihren Vertretern bewusst ist."
Börsenblatt, Michael Roesler-Graichen
"Ein feinsinnig-bitteres Buch des großen Staatsrechtlers Dieter Grimm. Er schreibt als verwunderter Mahner, als ein intimer Kenner - mit der Aufforderung, die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes besser zu achten."
Prantls Blick, Heribert Prantl
"Mehr als lesenswert"
Juristische Arbeitsblätter, Christian Wolf
"Wer künftig eine Geschichte der Bundesrepublik schreibt, wird nicht mehr sagen können, es gebe nichts Lesbares und auch für den Nichtfachmann Verständliches zur Rolle des Rechts in der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie."
Süddeutsche Zeitung Die wichtigsten Bücher des Jahres, Robert Probst
"Jedem zur Lektüre empfohlen, der sich für historisch-politische Themen interessiert. Es ist, wie man es von Grimm gewohnt ist, klar und flüssig geschrieben und zeigt aufs Neue, dass der Autor einer der wichtigen Intellektuellen der Republik ist."
Politikum, Stefan Schieren
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tristan Wissgott
"Man liest das Buch mit größtem Erkenntnisgewinn ... eine wirklich hervorragende und beeindruckende Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes."
Süddeutsche Zeitung, René Schlott
"Sein Buch schlägt eine Brücke zwischen zwei Disziplinen, die mehr Berührungspunkte haben als ihren Vertretern bewusst ist."
Börsenblatt, Michael Roesler-Graichen
"Ein feinsinnig-bitteres Buch des großen Staatsrechtlers Dieter Grimm. Er schreibt als verwunderter Mahner, als ein intimer Kenner - mit der Aufforderung, die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes besser zu achten."
Prantls Blick, Heribert Prantl
"Mehr als lesenswert"
Juristische Arbeitsblätter, Christian Wolf
"Wer künftig eine Geschichte der Bundesrepublik schreibt, wird nicht mehr sagen können, es gebe nichts Lesbares und auch für den Nichtfachmann Verständliches zur Rolle des Rechts in der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie."
Süddeutsche Zeitung Die wichtigsten Bücher des Jahres, Robert Probst
"Jedem zur Lektüre empfohlen, der sich für historisch-politische Themen interessiert. Es ist, wie man es von Grimm gewohnt ist, klar und flüssig geschrieben und zeigt aufs Neue, dass der Autor einer der wichtigen Intellektuellen der Republik ist."
Politikum, Stefan Schieren