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Produktdetails
  • Verlag: Europa Verlag
  • Originaltitel: Explaining Hitler
  • Seitenzahl: 672
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 980g
  • ISBN-13: 9783203815169
  • ISBN-10: 3203815168
  • Artikelnr.: 24089982
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.1999

Im Kriegszustand mit Hitler
Deutungsmodelle vom Ursprung des Bösen

Ron Rosenbaum: Die Hitler-Debatte. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Suzanne Gangloff und Holger Fliessbach. Europa Verlag, München und Wien 1999. 672 Seiten, 68,- Mark.

Ron Rosenbaum hat sich auf eine jahrelange Suche nach den verschiedenen Erklärungen für Naziverbrechen und Hitlers radikale Judenfeindschaft gemacht. Er begnügte sich nicht mit der Lektüre aller erreichbaren Texte, sondern hat auch die meisten Verfasser in ihren Universitäten und Wohnungen aufgesucht und mit ihnen diskutiert. Sein Buch liest sich wie ein Kriminalroman. Natürlich ist ihm bewußt, daß Hitler keineswegs die Alleinursache des Holocaust war, aber die These von Milton Himmelfarb "No Hitler - no Holocaust" scheint ihm plausibel.

Schon in der Einleitung weist Rosenbaum auf ein Kapitel hin, das er den frühesten journalistischen Kritikern und Kämpfern gegen die Nazibewegung und Hitler gewidmet hat. Die sozialdemokratische Zeitung "Münchner Post" hat von den zwanziger Jahren an immer wieder auf die Verlogenheit, den erpresserischen Charakter, die Skandale und andere Fragwürdigkeiten Hitlers und seiner Anhänger hingewiesen. Ihre Artikel wurden von Hitler so sehr gehaßt, daß er sämtliche Journalisten dieses Blattes, sobald er in der Lage war, nach Dachau bringen und die meisten dort töten ließ. Noch größer dürfte sein Haß auf den konservativen Alleinkämpfer Fritz Gerlich gewesen sein, der in dem Blatt "Der gerade Weg" sich von 1923 an dem systematischen Kampf gegen Hitler verschrieben hatte. Rosenbaum ist es gelungen, in Archiven Artikel dieser beiden Zeitungen zu entdecken und der Vergessenheit zu entreißen.

Seit dem ersten großen Wahlerfolg der Nazipartei im September 1930 stieg das Interesse an dem lange unterschätzten Politiker Hitler eindeutig an. Vollends während des Krieges und danach stürzten sich zahlreiche Journalisten, Historiker, Psychohistoriker und Romanciers auf diese seltsame Gestalt. Kenntnisreich berichtet Rosenbaum über die unterschiedlichen Erklärungsversuche, die unternommen wurden, um Hitler, die Nazibewegung und den Holocaust "zu verstehen". Einige wollten Hitlers fanatischen Rassenantisemitismus auf frühe Kindheitserlebnisse, auf das antisemitische Wien, auf den jüdischen Arzt Dr. Bloch (einen Verwandten Franz Kafkas!), der Hitlers Mutter einer - damals üblichen - schmerzhaften Jodoform-Behandlung gegen Brustkrebs unterzogen hatte, oder auch auf eine verdächtige jüdische Beziehung seiner Großmutter zurückführen, wieder andere behaupteten, Hitler habe nur einen Hoden gehabt und unter diesem Defizit gelitten oder auch - so der Psychoanalytiker Robert Waite - eine besondere enge Mutterbindung entwickelt, weil diese durch Massieren versucht haben könnte, den zweiten Hoden zum Vorschein zu bringen. Am erstaunlichsten bleibt vermutlich die - durch nichts belegte - Hypothese Simon Wiesenthals, Hitler habe sich bei einer jüdischen Prostituierten mit Syphilis angesteckt. All diese psychologisierenden Erklärungen sind zum größten Teil bloße Vermutungen, aber selbst wenn ihre Diagnosen zuträfen, bliebe die Diskrepanz zwischen dem "Anlaß" und der "Wirkung" - der Vernichtung der europäischen Juden - schlechthin absurd! Am ehesten dürfte Hitlers Verdacht auf eine "jüdische Versippung" des Vaters noch glaubhaft sein, auch wenn es dafür nur das Zeugnis des Hitler-Anwalts und späteren Gouverneurs von Polen, Hans Frank, gibt. Er habe im Auftrag Hitlers mit dessen in England lebendem Halbneffen verhandelt, um eine drohende Enthüllung über die jüdische Abstammung von Hitlers Vater zu verhindern. Die meisten dieser Erzählungen bleiben unbelegbar oder sogar widerlegbar. Dazu gehört auch die Hypothese Rudolph Binions, der aus der Tatsache, daß Hitler in seinen Reden immer wieder von "dem Juden" sprach, geschlossen hat, es müsse sich um einen ganz bestimmten, einzelnen Juden handeln - nämlich den Arzt seiner Mutter, dem es nicht gelang, sie vom Brustkrebs zu heilen.

Gegenüber den meisten Erklärungen behält - so Rosenbaum - das radikale Verdikt Claude Lanzmanns durchaus recht, der immer wieder zu sagen pflegte, "jeder Erklärungsversuch sei einfach obszön". Allerdings verabsolutierte Lanzmann diesen Satz und wehrte sich sogar dagegen, filmische Darstellungen auch nur anzusehen, die auf Berichten überlebender Zeitzeugen beruhten. Luis Micheels, den Lanzmann scharf angegriffen hatte, wagte erst Rosenbaum gegenüber zu sagen, warum er Lanzmanns Verdikt für unzulässig hält. Lanzmann hatte sich auf einen Bericht Primo Levis bezogen, dem ein SS-Wachmann verboten hatte, seinen Durst durch einen Eiszapfen zu löschen. Auf die Frage "Warum?" habe der Bewacher geantwortet: "Hier gibt es kein Warum!" Dazu meint Micheels: "In jener Welt von Auschwitz gab es tatsächlich kein Warum. Aber in der zivilisierten Welt, in die so wenige zurückkehrten, da muß es ein Warum geben."

In Jerusalem trifft Rosenbaum auf den israelischen Historiker Xehuda Bauer, der angesichts des Schweigens Gottes in Auschwitz die Vorstellung eines zugleich allmächtigen und gerechten Gottes für unhaltbar hält. Jedenfalls eines Gottes, zu dem man beten kann. Der jüdische Theologe Emil Nackenheim anerkennt Bauers Anklage nicht, aber den Schuldspruch. Auf die Frage: "Wo war Gott in den Vernichtungslagern?" antwortet er: "In den Akten des Heroismus, der Standhaftigkeit, der Liebe und des Glaubens, den Lagerinsassen angesichts des radikal Bösen an den Tag gelegt haben." Vor allem aber müsse man den Juden eine zusätzliche 614. Verhaltensregel - zu den 613 traditionellen - geben: "Hitler darf kein postumer Sieg gestattet werden." Wolle man Gott wegen seines Nichteingreifens zur Verhinderung des Holocaust leugnen, dann hätte Hitler nach der Tötung von Millionen Juden auch noch den Gott der Juden getötet.

Vollends waghalsig und unheimlich ist die Verteidigungsrede, die der bedeutende Literaturwissenschaftler und Autor Georg Steiner einem überlebenden Hitler in den Mund legt. Aus Europa nach Südamerika entkommen und von israelischen Agenten aufgegriffen, hält Steiners Hitler eine Rede, die ihrem Autor - als er sie aus dem Mund eines Schauspielers anhörte - selbst erschrecken ließ. Hitler behauptet nämlich erstens, daß er den Juden zu ihrem langersehnten eigenen Staat Israel verholfen habe, daß er zweitens mit seiner Lehre der auserwählten nordischen Rasse sich an das Vorbild des "auserwählten Volkes" gehalten habe und drittens, daß sein Vernichtungskrieg gegen die Juden eine den meisten Menschen unerträgliche Last von drei jüdischen Moralforderungen beseitigt habe: die Last der 10 Gebote des Moses, des Liebesgebotes von Jesus und der Gerechtigkeitsforderung von Karl Marx. Im Gespräch gesteht Steiner, daß ihm seine Roman-Rede selbst unheimlich geworden sei.

Einfacher - gleichsam monokausaler - sind die Erklärungen von Hyam Macoby, der die Tradition des christlichen Antisemitismus zur eigentlichen Ursache nicht nur aller Pogrome, sondern auch noch des von den Rassenantisemiten verschuldeten Holocaust macht. Namentlich die Gestalt des "Verräters Judas", den schon die frühe Christenheit als "jüdischen Teufel" apostrophiert habe, spiele hier eine ausschlaggebende Rolle.

Ebenso eindimensional bleibt die Zurückführung der Naziherrschaft und des Holocaust auf einen spezifisch deutschen "eliminatorischen Antisemitismus" durch Daniel Goldhagen, mit dem sich Rosenbaum ausführlich und kritisch auseinandersetzt. Mit Yehuda Bauer verweist er auf den vor 1914 zum Teil weit radikaleren polnisch-ukrainisch-russischen Antisemitismus sowie darauf, daß antisemitische Parteien in Deutschland nach 1900 fast bedeutungslos geworden waren. Am meisten mißbilligt Rosenbaum aber die mildernden Korrekturen, die für die deutsche Ausgabe an Goldhagens Buch vorgenommen wurden, vermutlich um es dem deutschen Markt gefälliger zu machen.

Mit einer kleinen Einschränkung stimmt Rosenbaum am ehesten noch Lucy Dawidowiczs These zu, die in ihrem Buch "The War against the Jews" (1975) Hitler die wesentliche Schuld am Holocaust zuschreibt. Vor allem gelingt es ihr, Hitlers vermeintliches Zögern vor dem Entschluß zur massenhaften Tötung der Juden als raffinierte Tarnung mit Rücksicht auf Teile seiner Umgebung und der Bevölkerung zu erklären und Nachweise für die frühe Absicht zum Holocaust (1919) zu liefern.

Dem psychologischen Scharfsinn Nietzsches verdankt Alan Bullock die Korrektur seiner ursprünglichen Meinung, Hitlers Antisemitismus sei von vornherein "aufrichtig" gewesen. In den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" fand er die folgende Beobachtung: "Bei allen großen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswert, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Akte des Betrugs, unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Szenerie überkommt sie der Glaube an sich selbst: dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht." Am Ende sei der große Betrüger von sich selbst wie besessen und eben dadurch wirke er auf die Massen. Das ist vermutlich der beste Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Hitler und der Verbindung von erheblicher taktischer Intelligenz und selbstmörderischem Wahn.

Ron Rosenbaum erkennt, daß viele Erklärungsversuche für Hitler und die nazistische Massentötung von Juden einem unbewußten Trostmotiv entsprungen sind. Die Vorstellung einer bewußt und zielstrebig auf die Vernichtung der europäischen Juden zusteuernden Handlung ist vielen unerträglich. Mit solchen Erklärungsversuchen wird aber das radikal Böse in Hitler und seinen Helfern verdunkelt. Man muß - betont Rosenbaum - daran festhalten, daß "wir noch immer im Kriegszustand mit Hitler sind und ihm keine postumen Siege erlauben dürfen". Das gilt nicht nur für Juden.

IRING FETSCHER

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