"Glaubst du an die Wirklichkeit?" Diese Frage eines Kollegen verwunderte Bruno Latour. In diesem Buch liefert er seine detaillierte Antwort. Anhand verschiedener Fallstudien - eine bodenkundliche Expedition im Regenwald des Amazonas, die französische Atomforschung kurz vor der Okkupation, die Entdeckung des Milchsäureferments durch Pasteur - nimmt Latour die vieldiskutierte Frage auf, ob die im Labor gewonnen Tatsachen "konstruiert" oder "wirklich" sind. Doch bereits diese Frage soll vor allem eine polemische Form des wissenschaftlichen "Objekts" begründen und ist Teil der gegenwärtigen "Science Wars", die er bis in die Antike verfolgt. Bei aller Instrumentalisierung der Wissenschaften zum Zweck der Bevormundung, ist Latour dennoch kein Wissenschaftsgegner, sondern für die Forschung in ihrem offenen Experimentieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Köstliches Gefühl, wildtätig zu sein
Das große Umkrempeln: Bruno Latour liefert die Metatheorie zur Zukunftstechnik / Von Andreas Platthaus
Im Namen der Weltrevolution: "Eine gewaltige Verschiebung findet statt, eine Verschiebung von der Wissenschaft zu etwas, das wir Forschung nennen könnten, und in dieser Bewegung wird die Wissenschaftsforschung als Geisel genommen." Wer spricht da? Bruno Latour in seinem Buch "Die Hoffnung der Pandora". Was ist Verschiebung? Eine Bewegung zwischen zwei Bezugsebenen, die "zu einer Tiefe der Sicht führt, so als hätte man es mit einer differenzierten Welt zu tun". Was ist eine differenzierte Welt? Eine Welt, die nicht auf einen normativen Unterschied zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft gegründet ist, sondern viele Differenzen ermöglicht - "und damit ein sehr viel feineres normatives Urteil, das nicht auf den Schwächen der modernistischen Übereinkunft aufbaut". Was ist die modernistische Übereinkunft? Eine Tradition in der Weltbetrachtung, durch die "Fragen, die nicht getrennt gelöst werden können und alle zusammen in Angriff genommen werden müssen, in inkommensurable Probleme verwandelt und abgeriegelt" werden. Was hilft? Die Weltrevolution.
Was aber ist die Weltrevolution? Diese Frage ist nicht, wie die bisherigen, mit Hilfe des Glossars aus Latours Buch zu beantworten. Oder anders gesagt: Weltrevolution hat dort keinen Eintrag. Sie kommt auch als Begriff im Buch nicht vor. Aber das Buch betreibt sie, und das Glossar bietet nach klassischem Vorbild ein Abc zu dieser Revolution - so wie Bucharin und Preobraschenskij 1919 ihr "Abc des Kommunismus" veröffentlicht haben. Das aber war kein Wörterbuch, sondern ein Kommentar zum bolschewistischen Programm, das auf der Fiktion welthistorischer Konsequenz und dem Anspruch, die Mehrheit (die "Bolschewiki") zu vertreten, gegründet war. Latour weist solches Pathos von sich: "Wie gewöhnlich bei revolutionären Reden besteht das sicherste Mittel, eine Revolution zu machen, darin, zu sagen, daß man eine macht!" Das ist gegen Platon gerichtet, der im "Gorgias" seinen Sokrates als Revolutionär inszeniert. Aber gegen das, was Latour betreibt, ist der Auftritt des Sokrates auf der Agora eine Feld-Wald-und-Wiesen-Revolution.
Latour betreibt - wir wiederholen uns gern - Weltrevolution. Und das ohne Anspruch auf die Mehrheit. Der letzte Satz seines Buchs enthüllt es: "Da ich ungern isoliert bin und nur in vielen Gesprächen gedeihe, die sich mit einer kollektiven Unternehmung entwickeln, habe ich so getan, als wäre Wissenschaftsforschung ein einheitliches Forschungsfeld, zu dem ich gehöre." Latour ist allein. Schon seit Jahrzehnten. Der französische Soziologe ist berühmt geworden mit seinem Programm vom Kollektiv. Das will die Trennung zwischen Subjekt und Objekt auflösen und mit ihr die zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Herauskommen soll Forschung, und die versteht Latour als "kollektives Experimentieren mit dem, was Menschen und nichtmenschliche Wesen zusammen verkraften oder zurückweisen können".
Nichtmenschliche Wesen sind die Gegenstände der Forschung, also alles, mit dem der menschliche Wille zur Erkenntnis sich beschäftigt. Doch so, wie es ohne solche Anreger gar keinen Willen zur Erkenntnis gäbe, so gibt es auch keine autonome Wissenschaft, die ein menschliches Privileg wäre. Sondern eben eine kollektive Tätigkeit von Forschendem und Erforschtem. Und beider Geschichte verändert sich dadurch: Alle Beteiligten (der Forscher, das Erforschte, die Hilfsmittel der Forschung) "verlassen ihr Treffen in anderem Zustand, als sie hineingegangen sind". Und für die, die es gerne etwas radikaler haben, inszeniert Latour einen kurzen Dialog. ",Aber gab es denn nicht schon Fermente, bevor Pasteur sie gestaltete?' könnte in leicht verzweifeltem Unterton jemand mit gesundem Menschenverstand fragen. Und die Antwort kann nur lauten: ,Nein, sie existierten nicht, bevor er daherkam.'"
Solche Thesen haben Latour den Zorn seiner Kollegen eingebracht. Die Maxime scheint den Idealismus zu rehabilitieren, und zwar in jener extremen Ausformung, die Bischof Berkeley ihm gab: esse est percipi - nur was wahrgenommen wird, existiert auch. Dem Dilemma, daß dann nichts existieren könnte, was nicht irgendein Mensch gesehen hätte (zu Berkeleys Zeit etwa der Südpol), begegnete der englische Philosoph mit dem Hinweis auf Gottes allgegenwärtige Wahrnehmung. Kant hat es dann mit dem synthetischen Urteil a priori versucht. Doch Kant ist für Latour der Begründer einer despotischen Herrschaft: der des Geistes. Gegen sie tritt "Die Hoffnung der Pandora" an; ihre Ablösung ist das revolutionäre Ziel des Buches.
Latour aber, so halten seine Kritiker ihm vor, hat nicht einmal mehr Gott auf seiner Seite - denn er verabschiedet den Glauben als Folge der Aufspaltung zwischen Realität und Konstruktion, die er gerade überwinden will. Wie aber kann er dann sein idealistisches Konzept retten? Die Antwort liegt darin, daß Latour kein idealistisches Konzept vertritt - und auch kein empiristisches, kein darwinistisches und kein dekonstruktivistisches, um nur die derzeit populärsten Richtungen zu nennen. Er will eine Metatheorie der Wissenschaft schreiben, die er "Wissenschaftsforschung" nennt und die beim Verfassen ihren Gegenstand verändert. Das muß sie auch, sonst wäre Latours Konzeption von der Zusammenarbeit im Kollektiv widerlegt. Wissenschaft ist ewig unabgeschlossen, weil sich alle an ihr Beteiligten permanent verändern, und dadurch wird sie zur Forschung: "Für Wissenschaftler gibt es keinen siebten Tag."
Wie geht Latour mit seinem scheinidealistischen Argument um? Er prägt den Begriff der "Nachrüstung" und erläutert es abermals am Beispiel Pasteurs: "Das Jahr 1864, das nach 1864 gebildet wurde, enthielt nicht die gleichen Bestandteile." In jedem neuen Jahr ändert sich durch die Arbeit der Wissenschaft das Bild eines alten Jahres. "Das Jahr 1864 ,von 1866' enthält so einen spärlichen Glauben an die Urzeugung und einen siegreichen Pasteur." Beides galt für das ursprüngliche 1864 nicht. Das führt dann zu der Auflösung des scheinbaren Paradoxons von den vor Pasteur nicht existierenden Fermenten. Sie sind nach ihrer Entdeckung die ganze Zeit dagewesen, doch vorher existierten sie nicht, auch wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben, weil niemand sie erkannt hatte.
Solche geschickten Umformulierungen sind das Kennzeichen großer Revolutionen, die niemals mit dem Gewohnten vollständig brechen können, sondern ebenjene Perspektive erzeugen, auf der Latours Argumentation beruht: Etwas wird erforscht und damit verändert. Aber brauchen wir diese Weltrevolution, die unser Denken umkrempelt? Ja, denn Latour bietet etwas, was ihm selbst nur unzureichend bewußt zu sein scheint, wenn man die spärlichen und eher beiläufigen diesbezüglichen Erwähnungen in seinem neuen Buch berücksichtigt. Latours Wissenschaftsforschung ist als Metatheorie anschlußfähig an die neuesten wissenschaftlichen Projekte. Seine Verabschiedung der Subjekt-Objekt-Dichotomie und die Etablierung der Kollektive von Menschen und nichtmenschlichen Wesen als Basis aller Wissenschaft lassen für die bio- und nanotechnische Zukunft die Kategorien so flexibel, daß man im ethischen Diskurs neu wird überdenken müssen, wie man etwa einen Maschinenmenschen oder eine Menschmaschine bewertet. Latours Theorie fordert denselben Respekt, den der Mensch in Anspruch nimmt, für die gesamte Welt, da jedes ihrer Bestandteile in ein Kollektiv und dann mit dem Menschen in Kooperation eintreten kann: "Wer Mensch und Technik als polare Gegensätze denkt, wünscht in Wirklichkeit das Menschliche weg: Wir sind soziotechnische Tiere, jede Interaktion ist soziotechnisch. Nie sind wir beschränkt auf soziale Bande, und nie begegnen wir reinen Objekten."
Das alles klingt sehr abstrakt, doch das Wunderbare an Latours Buch, dieser erstaunlichsten Neuerscheinung im derzeit wuchernden Feld der Wissenschaftstheorie, ist die Lesefreundlichkeit (abgesehen von einigen fehlenden Wörtern und grammatischen Schnitzern in der Übersetzung). Latour ist etwas Seltenes gelungen: Er hat Aufsätze zu einer Monographie kompiliert, und würde er dieses Verfahren nicht ausweisen, hätte man es nicht bemerkt. Nahtlos greifen die Texte ineinander und erzeugen einen Gedankenfluß, der niemals abschweift oder umgeleitet wird. Und seine gesamte Theorie arbeitet Latour an wenigen Beispielen aus: an Pasteurs Experimenten, an Joliots Forschung zur Kernspaltung, an einem Projekt zur Bodenanalyse in Brasilien, am Streit zwischen Sokrates und Kallikles. Durch diese Anbindung an die Praxis löst Latour abermals seinen eigenen Anspruch ein: "Wissenschaftsforschung definiert sich nicht durch die Ausdehnung sozialer Erklärungen auf die Wissenschaft, sondern durch ihr Interesse für die lokalen, materiellen und profanen Stätten, an denen Wissenschaft praktiziert wird." Diese Wissenschaftsforschung, wie Latour sie betreibt, lebt in jeder Zeile. Es ist ein großartiges Buch. Es ist eine Revolution auch im Bereich theoretischen Schreibens.
Bruno Latour: "Die Hoffnung der Pandora". Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 386 S., Abb., geb., 56,- DM.
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Das große Umkrempeln: Bruno Latour liefert die Metatheorie zur Zukunftstechnik / Von Andreas Platthaus
Im Namen der Weltrevolution: "Eine gewaltige Verschiebung findet statt, eine Verschiebung von der Wissenschaft zu etwas, das wir Forschung nennen könnten, und in dieser Bewegung wird die Wissenschaftsforschung als Geisel genommen." Wer spricht da? Bruno Latour in seinem Buch "Die Hoffnung der Pandora". Was ist Verschiebung? Eine Bewegung zwischen zwei Bezugsebenen, die "zu einer Tiefe der Sicht führt, so als hätte man es mit einer differenzierten Welt zu tun". Was ist eine differenzierte Welt? Eine Welt, die nicht auf einen normativen Unterschied zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft gegründet ist, sondern viele Differenzen ermöglicht - "und damit ein sehr viel feineres normatives Urteil, das nicht auf den Schwächen der modernistischen Übereinkunft aufbaut". Was ist die modernistische Übereinkunft? Eine Tradition in der Weltbetrachtung, durch die "Fragen, die nicht getrennt gelöst werden können und alle zusammen in Angriff genommen werden müssen, in inkommensurable Probleme verwandelt und abgeriegelt" werden. Was hilft? Die Weltrevolution.
Was aber ist die Weltrevolution? Diese Frage ist nicht, wie die bisherigen, mit Hilfe des Glossars aus Latours Buch zu beantworten. Oder anders gesagt: Weltrevolution hat dort keinen Eintrag. Sie kommt auch als Begriff im Buch nicht vor. Aber das Buch betreibt sie, und das Glossar bietet nach klassischem Vorbild ein Abc zu dieser Revolution - so wie Bucharin und Preobraschenskij 1919 ihr "Abc des Kommunismus" veröffentlicht haben. Das aber war kein Wörterbuch, sondern ein Kommentar zum bolschewistischen Programm, das auf der Fiktion welthistorischer Konsequenz und dem Anspruch, die Mehrheit (die "Bolschewiki") zu vertreten, gegründet war. Latour weist solches Pathos von sich: "Wie gewöhnlich bei revolutionären Reden besteht das sicherste Mittel, eine Revolution zu machen, darin, zu sagen, daß man eine macht!" Das ist gegen Platon gerichtet, der im "Gorgias" seinen Sokrates als Revolutionär inszeniert. Aber gegen das, was Latour betreibt, ist der Auftritt des Sokrates auf der Agora eine Feld-Wald-und-Wiesen-Revolution.
Latour betreibt - wir wiederholen uns gern - Weltrevolution. Und das ohne Anspruch auf die Mehrheit. Der letzte Satz seines Buchs enthüllt es: "Da ich ungern isoliert bin und nur in vielen Gesprächen gedeihe, die sich mit einer kollektiven Unternehmung entwickeln, habe ich so getan, als wäre Wissenschaftsforschung ein einheitliches Forschungsfeld, zu dem ich gehöre." Latour ist allein. Schon seit Jahrzehnten. Der französische Soziologe ist berühmt geworden mit seinem Programm vom Kollektiv. Das will die Trennung zwischen Subjekt und Objekt auflösen und mit ihr die zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Herauskommen soll Forschung, und die versteht Latour als "kollektives Experimentieren mit dem, was Menschen und nichtmenschliche Wesen zusammen verkraften oder zurückweisen können".
Nichtmenschliche Wesen sind die Gegenstände der Forschung, also alles, mit dem der menschliche Wille zur Erkenntnis sich beschäftigt. Doch so, wie es ohne solche Anreger gar keinen Willen zur Erkenntnis gäbe, so gibt es auch keine autonome Wissenschaft, die ein menschliches Privileg wäre. Sondern eben eine kollektive Tätigkeit von Forschendem und Erforschtem. Und beider Geschichte verändert sich dadurch: Alle Beteiligten (der Forscher, das Erforschte, die Hilfsmittel der Forschung) "verlassen ihr Treffen in anderem Zustand, als sie hineingegangen sind". Und für die, die es gerne etwas radikaler haben, inszeniert Latour einen kurzen Dialog. ",Aber gab es denn nicht schon Fermente, bevor Pasteur sie gestaltete?' könnte in leicht verzweifeltem Unterton jemand mit gesundem Menschenverstand fragen. Und die Antwort kann nur lauten: ,Nein, sie existierten nicht, bevor er daherkam.'"
Solche Thesen haben Latour den Zorn seiner Kollegen eingebracht. Die Maxime scheint den Idealismus zu rehabilitieren, und zwar in jener extremen Ausformung, die Bischof Berkeley ihm gab: esse est percipi - nur was wahrgenommen wird, existiert auch. Dem Dilemma, daß dann nichts existieren könnte, was nicht irgendein Mensch gesehen hätte (zu Berkeleys Zeit etwa der Südpol), begegnete der englische Philosoph mit dem Hinweis auf Gottes allgegenwärtige Wahrnehmung. Kant hat es dann mit dem synthetischen Urteil a priori versucht. Doch Kant ist für Latour der Begründer einer despotischen Herrschaft: der des Geistes. Gegen sie tritt "Die Hoffnung der Pandora" an; ihre Ablösung ist das revolutionäre Ziel des Buches.
Latour aber, so halten seine Kritiker ihm vor, hat nicht einmal mehr Gott auf seiner Seite - denn er verabschiedet den Glauben als Folge der Aufspaltung zwischen Realität und Konstruktion, die er gerade überwinden will. Wie aber kann er dann sein idealistisches Konzept retten? Die Antwort liegt darin, daß Latour kein idealistisches Konzept vertritt - und auch kein empiristisches, kein darwinistisches und kein dekonstruktivistisches, um nur die derzeit populärsten Richtungen zu nennen. Er will eine Metatheorie der Wissenschaft schreiben, die er "Wissenschaftsforschung" nennt und die beim Verfassen ihren Gegenstand verändert. Das muß sie auch, sonst wäre Latours Konzeption von der Zusammenarbeit im Kollektiv widerlegt. Wissenschaft ist ewig unabgeschlossen, weil sich alle an ihr Beteiligten permanent verändern, und dadurch wird sie zur Forschung: "Für Wissenschaftler gibt es keinen siebten Tag."
Wie geht Latour mit seinem scheinidealistischen Argument um? Er prägt den Begriff der "Nachrüstung" und erläutert es abermals am Beispiel Pasteurs: "Das Jahr 1864, das nach 1864 gebildet wurde, enthielt nicht die gleichen Bestandteile." In jedem neuen Jahr ändert sich durch die Arbeit der Wissenschaft das Bild eines alten Jahres. "Das Jahr 1864 ,von 1866' enthält so einen spärlichen Glauben an die Urzeugung und einen siegreichen Pasteur." Beides galt für das ursprüngliche 1864 nicht. Das führt dann zu der Auflösung des scheinbaren Paradoxons von den vor Pasteur nicht existierenden Fermenten. Sie sind nach ihrer Entdeckung die ganze Zeit dagewesen, doch vorher existierten sie nicht, auch wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben, weil niemand sie erkannt hatte.
Solche geschickten Umformulierungen sind das Kennzeichen großer Revolutionen, die niemals mit dem Gewohnten vollständig brechen können, sondern ebenjene Perspektive erzeugen, auf der Latours Argumentation beruht: Etwas wird erforscht und damit verändert. Aber brauchen wir diese Weltrevolution, die unser Denken umkrempelt? Ja, denn Latour bietet etwas, was ihm selbst nur unzureichend bewußt zu sein scheint, wenn man die spärlichen und eher beiläufigen diesbezüglichen Erwähnungen in seinem neuen Buch berücksichtigt. Latours Wissenschaftsforschung ist als Metatheorie anschlußfähig an die neuesten wissenschaftlichen Projekte. Seine Verabschiedung der Subjekt-Objekt-Dichotomie und die Etablierung der Kollektive von Menschen und nichtmenschlichen Wesen als Basis aller Wissenschaft lassen für die bio- und nanotechnische Zukunft die Kategorien so flexibel, daß man im ethischen Diskurs neu wird überdenken müssen, wie man etwa einen Maschinenmenschen oder eine Menschmaschine bewertet. Latours Theorie fordert denselben Respekt, den der Mensch in Anspruch nimmt, für die gesamte Welt, da jedes ihrer Bestandteile in ein Kollektiv und dann mit dem Menschen in Kooperation eintreten kann: "Wer Mensch und Technik als polare Gegensätze denkt, wünscht in Wirklichkeit das Menschliche weg: Wir sind soziotechnische Tiere, jede Interaktion ist soziotechnisch. Nie sind wir beschränkt auf soziale Bande, und nie begegnen wir reinen Objekten."
Das alles klingt sehr abstrakt, doch das Wunderbare an Latours Buch, dieser erstaunlichsten Neuerscheinung im derzeit wuchernden Feld der Wissenschaftstheorie, ist die Lesefreundlichkeit (abgesehen von einigen fehlenden Wörtern und grammatischen Schnitzern in der Übersetzung). Latour ist etwas Seltenes gelungen: Er hat Aufsätze zu einer Monographie kompiliert, und würde er dieses Verfahren nicht ausweisen, hätte man es nicht bemerkt. Nahtlos greifen die Texte ineinander und erzeugen einen Gedankenfluß, der niemals abschweift oder umgeleitet wird. Und seine gesamte Theorie arbeitet Latour an wenigen Beispielen aus: an Pasteurs Experimenten, an Joliots Forschung zur Kernspaltung, an einem Projekt zur Bodenanalyse in Brasilien, am Streit zwischen Sokrates und Kallikles. Durch diese Anbindung an die Praxis löst Latour abermals seinen eigenen Anspruch ein: "Wissenschaftsforschung definiert sich nicht durch die Ausdehnung sozialer Erklärungen auf die Wissenschaft, sondern durch ihr Interesse für die lokalen, materiellen und profanen Stätten, an denen Wissenschaft praktiziert wird." Diese Wissenschaftsforschung, wie Latour sie betreibt, lebt in jeder Zeile. Es ist ein großartiges Buch. Es ist eine Revolution auch im Bereich theoretischen Schreibens.
Bruno Latour: "Die Hoffnung der Pandora". Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 386 S., Abb., geb., 56,- DM.
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