Auch wenn über den Verzicht neuerdings wieder viel geredet und vor allem viel gestritten wird: Es ist erstaunlich, dass er einen derart schlechten Ruf genießt. In der Geschichte der Ethik und in der Tradition der Religionen spielt der Verzicht dagegen eine ganz erhebliche Rolle. Otfried Höffe nimmt jene bemerkenswerten Defizite daher zum Anlass für eine Reihe von geistesgeschichtlichen Rückblicken, um uns an die Bedeutsamkeit und die historische Vielfalt von Formen und Verständnissen der Selbstbeschränkung zu erinnern.
Vom Verzichten als Mäßigung der Leidenschaften oder als religiöse Askese über die rechtliche Einschränkung der eigenen Freiheit bis hin zur großen Verzichtsaufgabe, die wir im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht ignorieren dürfen: Otfried Höffes kurze Geschichte des Verzichts zeigt, dass ein gelingendes Leben ohne die hohe Kunst der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht auskommen kann. Die Ausflüge in die Philosophiegeschichte sind daher nicht bloß von historischem Interesse. Höffe geht es vielmehr um begriffliche Aufklärung - und um die Formulierung einer kleinen Philosophie des Verzichts: Lässt sich der Begriff rehabilitieren und für das gegenwärtige Denken wieder fruchtbar machen?
Otfried Höffe führt uns durch die fünf großen Verzichtparadigmen der Geistesgeschichte Wir lernen: Ein gelingendes Leben kommt nicht ohne Selbstbeschränkung aus Und: Verzichten fällt nicht schwer, wenn wir es im richtigen Maße tun
Vom Verzichten als Mäßigung der Leidenschaften oder als religiöse Askese über die rechtliche Einschränkung der eigenen Freiheit bis hin zur großen Verzichtsaufgabe, die wir im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht ignorieren dürfen: Otfried Höffes kurze Geschichte des Verzichts zeigt, dass ein gelingendes Leben ohne die hohe Kunst der freiwilligen Selbstbeschränkung nicht auskommen kann. Die Ausflüge in die Philosophiegeschichte sind daher nicht bloß von historischem Interesse. Höffe geht es vielmehr um begriffliche Aufklärung - und um die Formulierung einer kleinen Philosophie des Verzichts: Lässt sich der Begriff rehabilitieren und für das gegenwärtige Denken wieder fruchtbar machen?
Otfried Höffe führt uns durch die fünf großen Verzichtparadigmen der Geistesgeschichte Wir lernen: Ein gelingendes Leben kommt nicht ohne Selbstbeschränkung aus Und: Verzichten fällt nicht schwer, wenn wir es im richtigen Maße tun
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit seinem Lob des Verzichts liegt der Philosoph Otfried Höffe im Trend, so Rezensent Gustav Seibt. Das Buch des Philosophen beschäftigt sich mit Kulturanalyse einerseits, mit Gedanken zur Lebensweisheit in humanistischer Tradition andererseits, führt der Rezensent aus. Höffes Begriff des Verzichts wäre vielleicht mit Sublimierung besser beschrieben, findet Seibt, weil der Mensch in vielen Fragen keine andere Wahl hat, als zu verzichten, etwa wenn Affekte der Rache aufs Strafrecht umgeleitet werden. Weiterhin moniert Seibt, dass Norbert Elias nicht vorkommt und auch Goethes Entsagung in dieser sonst so gründlich die Geistesgeschichte durcharbeitenden Studie nicht erwähnt wird. Stattdessen fordert Höffe, lernen wir, unter anderem die Presse zum Meinungsverzicht und den Rundfunk zum Gendersprachenverzicht auf; letzteres leuchtet Seibt nicht ganz ein, denn: Verzicht fordern können in diesem Fall beide Seiten. Manchmal kann Verzicht, lernt der Rezensent vom Autor, ein heimlicher Gewinn sein, zum Beispiel, wenn man erkennt, wie wenig man eigentlich braucht. Wobei Seibt ergänzend anmerkt: Die Lebenszeit ist nun einmal beschränkt, jede Wahl, die wir treffen, bedeutet automatisch Verzicht auf Alternativen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2023Fragen des Verzichts
Eine kurze Geschichte der Selbstbeschränkung
Kaum ein Wort hat einen so negativen Beigeschmack wie der Verzicht. Es klingt passiv, hört sich nach aufgeben, resignieren, entsagen an, nicht nach leisten und vollbringen. Dem schlechten Ruf zum Trotz hat Otfried Höffe den Begriff schon im Titel seines neuen Buches "Die hohe Kunst des Verzichts" nobilitiert. Der emeritierte Philosophie-Professor aus Tübingen nimmt die mangelnde Wertschätzung des Verzichts in unserem Alltag zum Anlass für einen Rückblick auf die Vielfalt historischer Selbstbescheidung. Sein Essay mit Seitenblick zu Kapitalismus, Konsumkritik und Finanzpolitik fragt nach dem anthropologischen Kern von Verzicht im menschlichen Wesen und letztlich nach der aktuellen Bedeutung von Selbstbeschränkung unter heutigen Lebensbedingungen.
Höffes Hardcover mit einem symbolträchtigen Olivenzweig neben dem Schriftzug auf dem zartgrünen Deckblatt wirkt in Titel, Umfang und Design wie ein Zwilling seines Erfolgsbuches "Die hohe Kunst des Alterns" mit Verkaufszahlen im unteren fünfstelligen Bereich. Mit bislang 15 Titeln ab 2000 allein in diesem Verlag gilt der Verfasser auch zahlreicher F.A.Z.-Artikel als auflagenstarker Experte für Lebenskunst und Moral, dem schon 2002 der Bayerische Literaturpreis für wissenschaftliche Darstellung die Lesbarkeit seiner Texte bescheinigt hat.
"Verzicht gehört zum Menschsein", sagt Höffe, und das werde über die Grenzen von Kulturen und Epochen hinweg deutlich. Seine Bestandsaufnahme dazu beginnt mit der Welt des Rechts als Terrain für "Freiheitsverzichte um der Freiheit willen", bei denen kaum jemand an Selbstbeschränkungen denke, obwohl sie dort elementar seien. Höffe diskutiert auch den Verzicht auf Privatjustiz und auf Rache im Strafrecht. Als Verzichtsmuster im individuellen Leben skizziert er anschließend die seit der Antike fortwirkende "Tugendtheorie für das Menschsein". Er ist überzeugt, dass Menschsein nicht möglich ist "ohne tiefgreifende Selbsteinschränkungen, die für Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit unabdingbar sind." Nicht nur in der christlichen Religion mit ihrer Forderung nach Armut, Demut und Keuschheit findet Höffe "Verzichte, die das Menschsein steigern".
Um aktuelle Probleme wie etwa Finanz-, Umwelt-, Energie-, Covid- und Flüchtlingskrise zu bewältigen oder gar den ganzen Planeten zu retten, dabei den Raubbau an der Natur sowie die Bevölkerungsexplosion zu stoppen, genügen dem Autor allerdings nicht lediglich von der Einzelperson ausgehende Verzichtsmuster. Denn die Menschheit könne die heutigen globalen Verpflichtungen "nur mittels gewaltiger, geradezu gigantischer Verzichte" bewältigen. Humaner Verzicht verlange dabei gleichermaßen persönliche wie kollektive wirtschaftliche, soziale und politische Selbstbeschränkung: "Die Aufforderung ,Du musst Dein Leben ändern' wird die drängenden Aufgaben der Menschheit nur dann bewältigen, wenn sowohl jeder einzelne und jede Gruppe als auch jeder Staat und schließlich die Staatengemeinschaft willens sind, ihr Leben zu ändern."
Auf dem Weg dorthin appelliert Höffe eindringlich, den Verzicht als Maxime zu rehabilitieren und erheblich aufzuwerten. Denn "Verzichte spielen sowohl bei Grundfragen als auch im gewöhnlichen Alltag, nicht zuletzt in aktuellen Krisen eine so gewichtige Rolle, dass weder das häufige Verdrängen von Selbstbeschränkungen noch ihr schlechter Ruf zu verstehen ist". ULLA FÖLSING
Otfried Höffe: Die hohe Kunst des Verzichts. Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung, C. H. Beck, München 2023, 192 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine kurze Geschichte der Selbstbeschränkung
Kaum ein Wort hat einen so negativen Beigeschmack wie der Verzicht. Es klingt passiv, hört sich nach aufgeben, resignieren, entsagen an, nicht nach leisten und vollbringen. Dem schlechten Ruf zum Trotz hat Otfried Höffe den Begriff schon im Titel seines neuen Buches "Die hohe Kunst des Verzichts" nobilitiert. Der emeritierte Philosophie-Professor aus Tübingen nimmt die mangelnde Wertschätzung des Verzichts in unserem Alltag zum Anlass für einen Rückblick auf die Vielfalt historischer Selbstbescheidung. Sein Essay mit Seitenblick zu Kapitalismus, Konsumkritik und Finanzpolitik fragt nach dem anthropologischen Kern von Verzicht im menschlichen Wesen und letztlich nach der aktuellen Bedeutung von Selbstbeschränkung unter heutigen Lebensbedingungen.
Höffes Hardcover mit einem symbolträchtigen Olivenzweig neben dem Schriftzug auf dem zartgrünen Deckblatt wirkt in Titel, Umfang und Design wie ein Zwilling seines Erfolgsbuches "Die hohe Kunst des Alterns" mit Verkaufszahlen im unteren fünfstelligen Bereich. Mit bislang 15 Titeln ab 2000 allein in diesem Verlag gilt der Verfasser auch zahlreicher F.A.Z.-Artikel als auflagenstarker Experte für Lebenskunst und Moral, dem schon 2002 der Bayerische Literaturpreis für wissenschaftliche Darstellung die Lesbarkeit seiner Texte bescheinigt hat.
"Verzicht gehört zum Menschsein", sagt Höffe, und das werde über die Grenzen von Kulturen und Epochen hinweg deutlich. Seine Bestandsaufnahme dazu beginnt mit der Welt des Rechts als Terrain für "Freiheitsverzichte um der Freiheit willen", bei denen kaum jemand an Selbstbeschränkungen denke, obwohl sie dort elementar seien. Höffe diskutiert auch den Verzicht auf Privatjustiz und auf Rache im Strafrecht. Als Verzichtsmuster im individuellen Leben skizziert er anschließend die seit der Antike fortwirkende "Tugendtheorie für das Menschsein". Er ist überzeugt, dass Menschsein nicht möglich ist "ohne tiefgreifende Selbsteinschränkungen, die für Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit unabdingbar sind." Nicht nur in der christlichen Religion mit ihrer Forderung nach Armut, Demut und Keuschheit findet Höffe "Verzichte, die das Menschsein steigern".
Um aktuelle Probleme wie etwa Finanz-, Umwelt-, Energie-, Covid- und Flüchtlingskrise zu bewältigen oder gar den ganzen Planeten zu retten, dabei den Raubbau an der Natur sowie die Bevölkerungsexplosion zu stoppen, genügen dem Autor allerdings nicht lediglich von der Einzelperson ausgehende Verzichtsmuster. Denn die Menschheit könne die heutigen globalen Verpflichtungen "nur mittels gewaltiger, geradezu gigantischer Verzichte" bewältigen. Humaner Verzicht verlange dabei gleichermaßen persönliche wie kollektive wirtschaftliche, soziale und politische Selbstbeschränkung: "Die Aufforderung ,Du musst Dein Leben ändern' wird die drängenden Aufgaben der Menschheit nur dann bewältigen, wenn sowohl jeder einzelne und jede Gruppe als auch jeder Staat und schließlich die Staatengemeinschaft willens sind, ihr Leben zu ändern."
Auf dem Weg dorthin appelliert Höffe eindringlich, den Verzicht als Maxime zu rehabilitieren und erheblich aufzuwerten. Denn "Verzichte spielen sowohl bei Grundfragen als auch im gewöhnlichen Alltag, nicht zuletzt in aktuellen Krisen eine so gewichtige Rolle, dass weder das häufige Verdrängen von Selbstbeschränkungen noch ihr schlechter Ruf zu verstehen ist". ULLA FÖLSING
Otfried Höffe: Die hohe Kunst des Verzichts. Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung, C. H. Beck, München 2023, 192 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Weniger
wollen
Der Tübinger
Philosoph Otfried Höffe
feiert in
seinem Buch die
Selbstbeschränkung.
Aber welcher Gewinn
liegt im Verzicht?
Zwei Bücher sind noch kein Trend, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass nach Eva von Redeckers Meditation über „Bleibefreiheit“ jetzt schon die nächste anspruchsvolle Philosophie der Selbstbescheidung erscheint. Redecker schlägt vor, den Freiheitsbegriff von räumlicher Mobilität auf Verfügung über freie Zeit umzustellen, mit allen Gewinnen an Betrachtsamkeit und Achtsamkeit, die damit möglich werden. Da klang uckermärkisches Lockdown-Landleben vor dem weiteren Horizont des Klimawandels nach, der Gewinn für ungeduldigere Zeitgenossen bestand nicht zuletzt in anregenden Lektürelisten.
Otfried Höffe, erprobter Kantianer trockenster Provenienz, will „Verzicht“ nun zu einem philosophischen Grundbegriff mit anthropologischer Geltung erheben. In seinem Titel verspricht sein Buch aber auch „Kunst“, eine Anleitung für die Lebensführung des Einzelnen. Es schillert zwischen Kulturanalyse und antik-humanistischer Lebensweisheit, an die noch Friedrich Nietzsche anknüpfte. Was die kulturelle, zivilisatorische Seite angeht, so könnte man auch von Sublimierungen reden. Das Rechtssystem verlangt dem Einzelnen beträchtliche Affekthemmungen ab, etwa wenn Rache zu strafrechtlicher Vergeltung wird, wenn überhaupt das Recht formalisiert und institutionalisiert wird. Ob man da sinnvollerweise von „Verzicht“ reden kann, mag man bezweifeln, weil die Einzelnen in solche Sublimierungen ja hineingeboren werden: Sie haben erst einmal keine Wahl.
Höffe, der fast alles zitiert, verweist kein einziges Mal auf den „Prozess der Zivilisation“ von Norbert Elias. Begierig wendet man sich nach solchen Überlegungen der „Lebenskunst“ zu, die Höffe durchdekliniert. Er reaktiviert dafür die alten, teils stoischen, teils christlichen Tugendlehren mit ihren unterschiedlichen Systemen (Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit; Besonnenheit, Mäßigung; Armut, Demut, Gehorsam) und fügt sehr plausibel noch „Toleranz“ und sogar „Aufklärung“ hinzu. Alle verlangen unterschiedliche Grade von Selbstverleugnung, Triebaufschub, Anstrengung. Verzicht wird hier aber auch zum Gewinn eines gesteigerten Menschseins. Um es in einer Sprache zusammenzufassen, die Höffe eher fremd ist: Triebaufschub verbessert erfahrungsgemäß auch die Trieberfüllung, vor allem bei den leiblichen Freuden der Nahrung und der Sexualität. Toleranz verlangt, wenn sie mehr als Gleichgültigkeit ist, Selbstüberwindung. Höffe hat recht, wenn er das für einen nicht trivialen Verzicht hält. Und Aufklärung bedeutet, hier Kant getreu, als Leistung von Mut und Anstrengung beim Selbstdenken einen fühlbaren Bequemlichkeitsverzicht (heute, da alle möglichen Querdenker und Verschwörungsrauner sich auf den Satz „Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen“ berufen, muss man allerdings sagen, dass der Erfolg ungewiss ist).
Höffe verzichtet mutig auf den Rückzug ins Überzeitliche und damit Unverbindliche. Seine sehr gründliche Systematik ist durchsetzt von ganz aktuellen kulturkritischen Beobachtungen und Anmerkungen, die gelegentlich in komischem Kontrast zu seinem steifleinernen Stil stehen. Die jüngsten Ziele findet das Ideal des Verzichtenkönnens beim Habenwollen im Konsum und in der Hybris wildgewordenen Meinens. Journalisten ermahnt er zur Unparteilichkeit und zum Verzicht auf Übertreibungen. Affektiv empörtes Mitleid, medial so naheliegend, sollte sich auf den Nahbereich beschränken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte von der Hybris Abstand nehmen, einem mehrheitlich ablehnenden Publikum die Gendersprache aufzuzwingen.
Dieses Beispiel zeigt aber ganz schön, wie „Verzicht“ auch zum Joker werden kann. Denn die Gegenseite könnte ja vorbringen, dass sie die sperrige Gendersprache einführe, um auf unerkannte männliche Dominanz, genau, zu verzichten. Sie könnte also zu einer jener zivilisatorischen Sublimierungen erklärt werden, die Höffe beim Recht beobachtet hat. In diesem Patt kommt man dann um einen Sachvortrag doch nicht herum (Höffe glaubt nicht an die Wirksamkeit des Genderns).
Das Buch erweitert sich, je länger, desto entschiedener, zu einer Philosophie der Besonnenheit, so wenn es um die großen Krisen der Gegenwart geht. In der Pandemie hätte man auf manche überzogene Maßnahme verzichten können, glaubt Höffe. Und bei der Klimakrise plädiert er auffällig abweichend von apokalyptischen Verzichtsforderungen für Panikverzicht. Besser ist ein Konsumverzicht, der eine ungewohnte Freiheitserfahrung ermöglicht: zu erkennen, wie wenig man braucht. Solcher Verzicht ist, fast wie bei Eva von Redecker, am Ende ein Gewinn.
Höffe, der in vielen Unterkapiteln zahlreiche weitere Meinungen zu heutigen Themen einstreut – Altersdiskriminierung, Bevölkerungsexplosion, Recht auf Faulheit, Kapitalismus pro und contra, wem gehört der Regenwald im Amazonas? –, verpasst doch die eigentliche anthropologische Notwendigkeit, die jeden Menschen zum Verzicht nötigt. Das ist die Endlichkeit. Um es in einem für Höffe-Leser naheliegenden Beispiel auszubuchstabieren: Die Zahl der Bücher, die man in einem noch so fleißigen und langen Leben lesen kann, ist begrenzt, Arno Schmidt kalkulierte für gründliche Lektüren die erschreckend überschaubare Zahl von 4000 Büchern. Je kürzer die Lebensfrist wird, umso mehr drängt sich der Verzicht auf Beiläufiges oder einem selbst nicht Gemäßes auf. Überhaupt kann man selbst bei größtem Wohlstand nie alles gleichzeitig und auf einmal haben. Wer zum Segeln geht, muss aufs Golfen verzichten. Wer ein Buch schreibt, verzichtet auf viel anderes im Leben, das ist durchaus schmerzlich. So steckt in jeder Handlung auch ein Verzicht auf andere Möglichkeiten. Wer darüber zu ausführlich sinniert, endet wie Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert oder neben einem Bücherstapel nichts mehr richtig liest.
Warum aber hat Höffe, der von Platon bis Nietzsche die ganze Tradition aufruft, darauf verzichtet, auf die tiefsinnigste, klassische deutschsprachige Philosophie des Verzichts einzugehen, Goethes Leitbegriff der „Entsagung“? Das Wort hat einen so schmerzlichen Klang, dass es auch das fühlbar hält, was im Laufe eines langen Lebens verloren geht, das Ungestüm, die Leidenschaft des Liebens und Wollens, wie sie von Werther, dem Eduard der „Wahlverwandtschaften“ und jenem Faust verkörpert werden, der für ein Kolonisierungsprojekt das uralte Paar Philemon und Baucis vertreiben und ermorden lässt, dieses Inbild antiker Lebensweisheit.
Auf eine Entsagung, die mit der Endlichkeit von Lebensmöglichkeiten zurechtkommen muss, laufen vor allem die Wilhelm-Meister-Romane hinaus. Irgendwann wird jugendlich überschäumender Genieverdacht ausgeräumt, man wird Wundarzt, der Sohn kommt ins Freiluftinternat der „Pädagogischen Provinz“, und die trügerische Grenzenlosigkeit der Jugend wandert ins All, in den Sternenhimmel, den man nur noch andächtig anstaunen kann. Goethes Gegenmittel waren rastlose Tätigkeit und die Feier des gelingenden Augenblicks: Verweile doch, du bist so schön. Auch dahinter steckt eine tiefe Weisheit, denn der schöne Augenblick gewinnt seinen Wert nur vor dem Horizont von Mühsal und Endlichkeit.
GUSTAV SEIBT
Konsumverzicht
bedeutet auch: zu
erkennen, wie wenig
man wirklich braucht
Otfried Höffe:
Die hohe Kunst des
Verzichts – Kleine
Philosophie der
Selbstbeschränkung.
C.H. Beck, München 2023. 192 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
wollen
Der Tübinger
Philosoph Otfried Höffe
feiert in
seinem Buch die
Selbstbeschränkung.
Aber welcher Gewinn
liegt im Verzicht?
Zwei Bücher sind noch kein Trend, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass nach Eva von Redeckers Meditation über „Bleibefreiheit“ jetzt schon die nächste anspruchsvolle Philosophie der Selbstbescheidung erscheint. Redecker schlägt vor, den Freiheitsbegriff von räumlicher Mobilität auf Verfügung über freie Zeit umzustellen, mit allen Gewinnen an Betrachtsamkeit und Achtsamkeit, die damit möglich werden. Da klang uckermärkisches Lockdown-Landleben vor dem weiteren Horizont des Klimawandels nach, der Gewinn für ungeduldigere Zeitgenossen bestand nicht zuletzt in anregenden Lektürelisten.
Otfried Höffe, erprobter Kantianer trockenster Provenienz, will „Verzicht“ nun zu einem philosophischen Grundbegriff mit anthropologischer Geltung erheben. In seinem Titel verspricht sein Buch aber auch „Kunst“, eine Anleitung für die Lebensführung des Einzelnen. Es schillert zwischen Kulturanalyse und antik-humanistischer Lebensweisheit, an die noch Friedrich Nietzsche anknüpfte. Was die kulturelle, zivilisatorische Seite angeht, so könnte man auch von Sublimierungen reden. Das Rechtssystem verlangt dem Einzelnen beträchtliche Affekthemmungen ab, etwa wenn Rache zu strafrechtlicher Vergeltung wird, wenn überhaupt das Recht formalisiert und institutionalisiert wird. Ob man da sinnvollerweise von „Verzicht“ reden kann, mag man bezweifeln, weil die Einzelnen in solche Sublimierungen ja hineingeboren werden: Sie haben erst einmal keine Wahl.
Höffe, der fast alles zitiert, verweist kein einziges Mal auf den „Prozess der Zivilisation“ von Norbert Elias. Begierig wendet man sich nach solchen Überlegungen der „Lebenskunst“ zu, die Höffe durchdekliniert. Er reaktiviert dafür die alten, teils stoischen, teils christlichen Tugendlehren mit ihren unterschiedlichen Systemen (Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit; Besonnenheit, Mäßigung; Armut, Demut, Gehorsam) und fügt sehr plausibel noch „Toleranz“ und sogar „Aufklärung“ hinzu. Alle verlangen unterschiedliche Grade von Selbstverleugnung, Triebaufschub, Anstrengung. Verzicht wird hier aber auch zum Gewinn eines gesteigerten Menschseins. Um es in einer Sprache zusammenzufassen, die Höffe eher fremd ist: Triebaufschub verbessert erfahrungsgemäß auch die Trieberfüllung, vor allem bei den leiblichen Freuden der Nahrung und der Sexualität. Toleranz verlangt, wenn sie mehr als Gleichgültigkeit ist, Selbstüberwindung. Höffe hat recht, wenn er das für einen nicht trivialen Verzicht hält. Und Aufklärung bedeutet, hier Kant getreu, als Leistung von Mut und Anstrengung beim Selbstdenken einen fühlbaren Bequemlichkeitsverzicht (heute, da alle möglichen Querdenker und Verschwörungsrauner sich auf den Satz „Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen“ berufen, muss man allerdings sagen, dass der Erfolg ungewiss ist).
Höffe verzichtet mutig auf den Rückzug ins Überzeitliche und damit Unverbindliche. Seine sehr gründliche Systematik ist durchsetzt von ganz aktuellen kulturkritischen Beobachtungen und Anmerkungen, die gelegentlich in komischem Kontrast zu seinem steifleinernen Stil stehen. Die jüngsten Ziele findet das Ideal des Verzichtenkönnens beim Habenwollen im Konsum und in der Hybris wildgewordenen Meinens. Journalisten ermahnt er zur Unparteilichkeit und zum Verzicht auf Übertreibungen. Affektiv empörtes Mitleid, medial so naheliegend, sollte sich auf den Nahbereich beschränken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte von der Hybris Abstand nehmen, einem mehrheitlich ablehnenden Publikum die Gendersprache aufzuzwingen.
Dieses Beispiel zeigt aber ganz schön, wie „Verzicht“ auch zum Joker werden kann. Denn die Gegenseite könnte ja vorbringen, dass sie die sperrige Gendersprache einführe, um auf unerkannte männliche Dominanz, genau, zu verzichten. Sie könnte also zu einer jener zivilisatorischen Sublimierungen erklärt werden, die Höffe beim Recht beobachtet hat. In diesem Patt kommt man dann um einen Sachvortrag doch nicht herum (Höffe glaubt nicht an die Wirksamkeit des Genderns).
Das Buch erweitert sich, je länger, desto entschiedener, zu einer Philosophie der Besonnenheit, so wenn es um die großen Krisen der Gegenwart geht. In der Pandemie hätte man auf manche überzogene Maßnahme verzichten können, glaubt Höffe. Und bei der Klimakrise plädiert er auffällig abweichend von apokalyptischen Verzichtsforderungen für Panikverzicht. Besser ist ein Konsumverzicht, der eine ungewohnte Freiheitserfahrung ermöglicht: zu erkennen, wie wenig man braucht. Solcher Verzicht ist, fast wie bei Eva von Redecker, am Ende ein Gewinn.
Höffe, der in vielen Unterkapiteln zahlreiche weitere Meinungen zu heutigen Themen einstreut – Altersdiskriminierung, Bevölkerungsexplosion, Recht auf Faulheit, Kapitalismus pro und contra, wem gehört der Regenwald im Amazonas? –, verpasst doch die eigentliche anthropologische Notwendigkeit, die jeden Menschen zum Verzicht nötigt. Das ist die Endlichkeit. Um es in einem für Höffe-Leser naheliegenden Beispiel auszubuchstabieren: Die Zahl der Bücher, die man in einem noch so fleißigen und langen Leben lesen kann, ist begrenzt, Arno Schmidt kalkulierte für gründliche Lektüren die erschreckend überschaubare Zahl von 4000 Büchern. Je kürzer die Lebensfrist wird, umso mehr drängt sich der Verzicht auf Beiläufiges oder einem selbst nicht Gemäßes auf. Überhaupt kann man selbst bei größtem Wohlstand nie alles gleichzeitig und auf einmal haben. Wer zum Segeln geht, muss aufs Golfen verzichten. Wer ein Buch schreibt, verzichtet auf viel anderes im Leben, das ist durchaus schmerzlich. So steckt in jeder Handlung auch ein Verzicht auf andere Möglichkeiten. Wer darüber zu ausführlich sinniert, endet wie Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert oder neben einem Bücherstapel nichts mehr richtig liest.
Warum aber hat Höffe, der von Platon bis Nietzsche die ganze Tradition aufruft, darauf verzichtet, auf die tiefsinnigste, klassische deutschsprachige Philosophie des Verzichts einzugehen, Goethes Leitbegriff der „Entsagung“? Das Wort hat einen so schmerzlichen Klang, dass es auch das fühlbar hält, was im Laufe eines langen Lebens verloren geht, das Ungestüm, die Leidenschaft des Liebens und Wollens, wie sie von Werther, dem Eduard der „Wahlverwandtschaften“ und jenem Faust verkörpert werden, der für ein Kolonisierungsprojekt das uralte Paar Philemon und Baucis vertreiben und ermorden lässt, dieses Inbild antiker Lebensweisheit.
Auf eine Entsagung, die mit der Endlichkeit von Lebensmöglichkeiten zurechtkommen muss, laufen vor allem die Wilhelm-Meister-Romane hinaus. Irgendwann wird jugendlich überschäumender Genieverdacht ausgeräumt, man wird Wundarzt, der Sohn kommt ins Freiluftinternat der „Pädagogischen Provinz“, und die trügerische Grenzenlosigkeit der Jugend wandert ins All, in den Sternenhimmel, den man nur noch andächtig anstaunen kann. Goethes Gegenmittel waren rastlose Tätigkeit und die Feier des gelingenden Augenblicks: Verweile doch, du bist so schön. Auch dahinter steckt eine tiefe Weisheit, denn der schöne Augenblick gewinnt seinen Wert nur vor dem Horizont von Mühsal und Endlichkeit.
GUSTAV SEIBT
Konsumverzicht
bedeutet auch: zu
erkennen, wie wenig
man wirklich braucht
Otfried Höffe:
Die hohe Kunst des
Verzichts – Kleine
Philosophie der
Selbstbeschränkung.
C.H. Beck, München 2023. 192 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Höffe geht das Thema grundsätzlich an, leitet es philosophiegeschichtlich von den Bedingungen ab, denen das menschliche Leben unterworfen ist, und zeigt: Ohne Verzicht geht nichts. Leben heißt verzichten. ... Nicht das letzte Verdienst dieses Buchs liegt darin, zu zeigen, wie schillernd der Begriff ist. Und wie vielfältig die Konzepte, die dahinterstecken können."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
"Kaum ein Wort hat einen so negativen Beigeschmack wie der Verzicht. ... Dem schlechten Ruf zum Trotz hat Otfried Höffe den Begriff schon im Titel seines neuen Buches nobilitiert."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ulla Fölsing
"Auf die Lektüre dieses klugen Essays sollte man nicht verzichten."
SWR2 Lesenswert, Wolfgang Schneider
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
"Kaum ein Wort hat einen so negativen Beigeschmack wie der Verzicht. ... Dem schlechten Ruf zum Trotz hat Otfried Höffe den Begriff schon im Titel seines neuen Buches nobilitiert."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ulla Fölsing
"Auf die Lektüre dieses klugen Essays sollte man nicht verzichten."
SWR2 Lesenswert, Wolfgang Schneider